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Spontan, nach einem kurzen, aber brunnentiefen Mittagsschlaf, den er wie immer auf dem Sofa im Wohnzimmer erledigt hatte, der diesmal jedoch zum Ende hin erstaunlicherweise von riesigen Giftspinnen bevölkert gewesen war, die ihn mit langen, klebrigen Fäden eingewickelt und schließlich aufgescheucht hatten, war Brose am Mittwochnachmittag um halb drei ins Auto gestiegen und hinaus Richtung Altes Fährhaus gefahren.
Die graue Ablagebox mit den Lebensläufen auf dem Rücksitz, war er mit seinem uralten Toyota zügig in die Zufahrt zur Bundesstraße eingebogen - seinen stummen Begleiter, der friedlich hinten stand, ihm zugleich aber gewaltig im Nacken saß, hielt er im Rückspiegel fest im Blick. Natürlich hatte Brose die Plastikbox mit einem Sicherheitsgurt angeschnallt, das machte er immer so, damit die sich nicht selbstständig machen konnte und ihm alles noch mehr durcheinandergeriet.
Vor die Wahl gestellt, ob er diesen sonnigen Nachmittag bei sich zu Hause, im dämmrigen Arbeitszimmer unter Kopfhörern am Schreibtisch zubringen sollte, um weiter an der längst überfälligen und äußerst langwierigen Verschriftung der vielstündigen Tonaufnahmen vom Ehepaar Lommatsch zu arbeiten, das unter dem Dach des Alten Fährhauses eine Doppelzimmer-Wohnung mit Blick zum Kanal bewohnte, oder nicht doch lieber Frau Schwartzes Einladung zum Treffen der Biografie-Gruppe folgen sollte, hatte er sich sofort, ohne lange zu überlegen, für Letzteres entschieden.
Der Fauxpas mit Wanda gestern lenkte ihn ab, er konnte sich nur schlecht konzentrieren. Den ganzen Vormittag über hatte er nichts Richtiges machen können, wahrscheinlich fühlte er sich deswegen so ausgelaugt, so völlig überarbeitet.
Die gut sortierten und vollständig, geradezu liebevoll dokumentierten Erinnerungen von Herrn und Frau Lommatsch ließen ihm keinerlei Gestaltungsspielraum. Während er sie aufgenommen hatte, hatten sie ihn schon derart genervt, dass ihm einmal sogar ein schlimmer Anfängerfehler passiert war: Nach einer kurzen telefonbedingten Unterbrechung war ihm gar nicht aufgefallen, dass die beiden schon längst wieder flott losgelegt hatten mit ihrem einstudierten, äußerst munteren, auf Dauer so unendlich einschläfernden Altes-Ehepaar-Duett, er aber seinen Rekorder noch gar nicht wieder auf Aufnahme gestellt hatte, was er dann mit einem unauffälligen Tastendruck auf REC nachholte; Lommatschs hatten es im Eifer ihrer Erzählung zum Glück gar nicht bemerkt.
Für diese Fehlstelle im Leben der Lommatschs, es waren circa acht bis zehn Minuten aus den 1980er-Jahren, umgerechnet also sicher ein paar Jährchen, die unter Umständen vielleicht sogar ziemlich wichtig für sie gewesen waren, musste er sich bei Gelegenheit etwas einfallen lassen, eventuell sogar eine kunstvolle Überbrückung bauen oder, wie Schulze das nannte, ein bisschen »zaubern«.
Wirklich, eine gute Entscheidung, fand er, als er in seine altbekannte Route zum Alten Fährhaus eingebogen war, stadtauswärts rollte und das durchgestrichene gelbe Berlin-Schild hinter sich ließ.
Passenderweise lief im Autoradio gerade Willie Nelsons guter alter Klassiker On the road again. Brose drehte lauter und pfiff leise mit. Da er aber bis auf die Titelzeile, in der es darum ging, dass da gerade wieder jemand auf der Straße war, den Text nicht verstand, konnte er, obwohl er es gerne getan hätte, leider nicht laut mitsingen.
Anfangs hatte er diesen Oldie-Privatsender nur mal so, probehalber, eingestellt, um sich mental auf die Atmosphäre im Alten Fährhaus vorzubereiten. Inzwischen war er, sehr zu Claudias Befremden, dabei hängengeblieben. Zumindest unterwegs gehörten die Oldies nun zum Standardprogramm für ihn, obwohl der flotte Jingle vor Nachrichten und Werbeblock ihm höllisch auf den Geist ging - und auch das Studioteam, das sich anhörte, als würde es permanent unter Drogen stehen; vor allem dieser ölige Gunnar, der heute wieder Dienst schob: »Ein munteres Hallöchen all euch Jungen und, vor allem, euch Junggebliebenen dort draußen! Wie heißt es so schön bei unserm guten Blacky alias Fuchsberger? Na klar, ihr wisst es: >Altwerden ist nichts für Feiglinge.< Und ihr, ganz egal, wo ihr mir gerade zuhört, könnt sicher das eine oder andere Lied davon singen. Okay, tolle Überleitung war das jetzt zum nächsten Lied oder, neudeutsch: >Song< .«
Mit einem Knopfdruck brachte er Gunnar zum Schweigen.
Er war fast allein auf der Straße. Alles auf Grün. Über Nacht hatte die Chaussee sich in eine frühsommerlich blühende Allee verwandelt, die direkt an die Ostsee zu führen schien: In seinen Ohren rauschte es. Aber das konnte auch der Fahrtwind sein, er hatte die Scheibe der Fahrertür heruntergelassen, um keinen einzigen Atemzug Frühling zu verpassen.
Noch immer konnte er das genießen: einfach so, ohne Grenzkontrolle, ohne Schlagbaum, ohne überhaupt ein Ziel nennen zu müssen, die Stadt zu verlassen und hinaus ins Umland, in die Mark Brandenburg, zu fahren. Sollte er selbst einmal seine Erinnerungen aufschreiben (woran er natürlich nicht im Mindesten dachte): Das Gefühl dieser neuen Reisefreiheit war '89 ein wichtiger Zugewinn in seinem Leben gewesen, den man, obwohl er mit den Jahren zu einer Selbstverständlichkeit geworden war, keinesfalls vergessen durfte.
Herr und Frau Lommatsch behaupteten immer wieder von sich, in Ostberlin eingesperrt gewesen zu sein.
Das war, seines Erachtens, so nicht ganz korrekt: Eingesperrt war er, Titus Brose, gewesen: in Westberlin. Die ganze Zeit über. Die Lommatschs im Osten hatte man vielleicht ausgesperrt, das kann gut sein, aber das war schon ein Unterschied. Außerdem, und das stand in gewissem Kontrast zu ihrer Aussage: Beim Blättern in ihrem Familienfotoalbum war ihm aufgefallen, dass die Schwarz-Weiß-Menschen in Zeiten der Diktatur (vor '45 und danach im Osten) immer sehr zufrieden ausgesehen hatten, wahrscheinlich war ihnen auch gar nichts anderes übriggeblieben.
Bei diesem Thema musste er, das war fast unausweichlich, an diesen seltsamen Kay-Uwe denken, seine, wie er ihn intern immer bezeichnete, »größte menschliche Enttäuschung in der Wendezeit«. Das war jetzt fast dreißig Jahre her. Dieser Kay-Uwe musste inzwischen tatsächlich schon fünfzig sein. Unvorstellbar bei so jemandem. Brose jedenfalls konnte es sich nicht vorstellen.
Er selbst kam sich übrigens nicht annähernd so alt vor, wie er in Wirklichkeit war. Regelmäßig erschrak er deshalb, wenn ihm ohne Vorwarnung ein zerknittertes, spitzes Wolfsgesicht unter stahlgrauen Haaren finster und fremd aus einem Schaufensterspiegel oder aus der Untiefe einer schwarzen U-Bahn-Fensterscheibe entgegenblickte - das sich dann, beim zweiten Hinsehen, als sein eigenes herausstellte. Natürlich ahnte, nein: wusste er, dass - im Unterschied zu seinem Selbstbild - das Spiegelbild das richtige war, das, mit dem er auf offener Straße herumlief und das alle anderen zu sehen bekamen.
Inzwischen sah er so aus wie auf den Negativen seiner Jugendfotos, auf denen der blasse Jüngling Titus mit dem dunklen Haarschopf sich afrikanisch dunkelhäutig präsentierte, unter grauen, fast weißen Haaren.
Wie alt er wirklich war, das merkte er immer dann, wenn er an Ecken kam, die er von früher kannte, die er jetzt jedoch kaum noch wiedererkannte. Dieser Landgewinn im Osten hatte ihn persönlich einiges gekostet, sehr viel sogar, fast alles: sein ganzes altes Westberlin. Nie hätte er sich vorstellen können, dass es eines Tages wie Atlantis untergehen würde. Nein, das war ja nicht »eines Tages« passiert, nicht von heute auf morgen - ganz allmählich war das geschehen, bis nur noch ein paar stoische Relikte, die einfach vergessen hatten zu verschwinden, ihn daran erinnerten.
Vor ein paar Wochen hatte er in der Nähe vom Bahnhof Zoo zu tun gehabt und verwundert daran gedacht, wie er früher nach nächtlicher Transitfahrt dort im hellen Herzen Westberlins immer wieder aufatmend und mit Herzklopfen angekommen war - endlich Licht, Licht am Ende eines endlos langen Tunnels, der aus Grenzkontrollpunkten, Sichtblenden, schlafender DDR, dramatisch fliehenden Wolken, Zöllnern und Schäferhunden bestanden hatte und dessen Dunkelheit durch das fahle Licht, das die Peitschenmastlaternen diffus auf die Grenzanlagen geworfen hatten, nur noch dunkler geworden war.
Inzwischen war Bahnhof Zoo, ohne sich auch nur einen Millimeter von der Stelle bewegt zu haben, aus dem Zentrum der Stadt nach Westen gerückt. Es gab hier nun zwar alle möglichen Neubauten, Hochhäuser sogar, aber Broses alter Bahnhof, dem er nach langer Fahrt, die Stirn an der Scheibe, sehnsüchtig entgegengefiebert hatte, war das schon längst nicht mehr. Die Fernzüge hielten jetzt am Berliner Hauptbahnhof, mitten im Baustellenniemandsland der neuen Hauptstadt.
Auch mit seinem Spandauer Boten war es, trotz der vielen Krisen davor, erst nach 1990 so richtig bergab gegangen. Der Wirtschaftsprüfer, ein älterer Herr in Strickjacke und, wie sich herausstellte, langjähriger treuer Leser des Boten, hatte in seinem Abschlussbericht neben der allgemeinen Zeitungs- und Anzeigenkrise vor allem den Billiglohnkonkurrenzdruck aus dem Osten für das Scheitern verantwortlich gemacht.
Brose schaute nach vorn. Auf jeden Fall war dieser kleine, leichtsinnige Ausflug außer der Reihe besser, als einen ganzen Tag lang unter Kopfhörern zu sitzen, mit den Stimmen der Lommatschs im Ohr: seiner sonoren und ihrer aufgeregt dazwischenredenden.
Frau...
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