Schweitzer Fachinformationen
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Genau vierzig Tage nachdem sie das letzte Mal die Hand ihres Mannes gehalten hatte, saß Julie Barenson am Fenster und sah hinaus auf die stillen Straßen von Swansboro. Es war kalt. Seit einer Woche war der Himmel düster verhangen, und der Regen klopfte sacht gegen das Fenster. Die kahlen Bäume reckten ihre knorrigen Äste wie verkrümmte Finger in die frostige Luft.
Jim, das wusste Julie, hätte gewollt, dass sie an diesem Abend Musik hörte. Im Hintergrund sang Bing Crosby leise »White Christmas«. Jim zu Ehren hatte sie auch den Baum aufgestellt. Dabei hatte es, als sie sich endlich dazu durchrang, einen zu besorgen, vor dem Supermarkt nur noch verdorrte, kümmerliche Exemplare gratis zum Mitnehmen gegeben. Doch das spielte keine Rolle. Es fiel ihr schwer, überhaupt etwas zu fühlen, seit Jim an dem Tumor im Kopf gestorben war.
Nun war sie mit fünfundzwanzig Jahren schon Witwe, und sie hasste alles an dem Wort: wie es klang, was es bedeutete, wie ihr Mund sich anfühlte, wenn sie es aussprach. Also nahm sie es gar nicht erst in den Mund. Wenn sich andere nach ihrem Befinden erkundigten, zuckte sie nur die Achseln. Aber manchmal spürte sie den Drang, zu antworten. Du willst wissen, wie es war, meinen Mann zu verlieren?, hätte sie dann gern gefragt. Ich werd’s dir sagen.
Jim ist tot, und jetzt, da er fort ist, fühle ich mich ich auch wie tot.
Ob die Leute das hören wollten?, fragte sich Julie. Oder lieber doch nur irgendwelche oberflächlichen Sätze? Ich komme schon klar. Es ist schwer, aber das stehe ich schon durch. Danke der Nachfrage. Sie hätte natürlich die Tapfere spielen können, aber das wollte sie nicht. Es war einfacher und ehrlicher, bloß die Achseln zu zucken und nichts zu sagen.
Schließlich hatte sie keineswegs das Gefühl, klarzukommen. Die meiste Zeit über fürchtete sie eher, den Tag nicht zu überstehen, ohne zusammenzubrechen. Abende wie diese waren am schlimmsten.
Im Widerschein der Christbaumkerzen legte Julie die Hand ans Fenster und spürte das kalte Glas an ihrer Haut.
Mabel hatte sie gefragt, ob sie zum Abendessen kommen wollte, aber Julie hatte abgelehnt. Mike, Henry und Emma hatte sie ebenfalls einen Korb gegeben. Sie alle hatten zumindest so getan, als hätten sie Verständnis dafür, obwohl sie es im Grunde wohl nicht gut fanden, dass Julie an diesem Abend allein war. Und vielleicht hatten sie Recht. Alles im Haus, alles, was sie sah und roch und berührte, erinnerte sie an Jim. Seine Sachen nahmen die Hälfte des Kleiderschranks ein, sein Rasierer lag immer noch neben der Seifenschale im Bad, und am Vortag war per Post die neueste Ausgabe von Sports Illustrated gekommen. Im Kühlschrank lagen noch zwei Flaschen Heineken, sein Lieblingsbier. Früher am Abend hatte Julie bei ihrem Anblick vor sich hin geflüstert: »Die wird Jim nie mehr trinken«, hatte die Kühlschranktür zugemacht, sich dagegen gelehnt und eine Stunde lang in der Küche geweint.
Julie nahm nur verschwommen wahr, was jenseits der Fensterscheibe geschah. Ganz in Gedanken versunken, kam ihr erst nach und nach zu Bewusstsein, dass ein Ast gegen die Hauswand schlug. Er pochte hartnäckig, und es dauerte eine Weile, bis sie merkte, dass das Geräusch, das sie hörte, gar nicht von diesem Ast herrührte.
Jemand klopfte an die Tür.
Benommen stand Julie auf. An der Tür blieb sie kurz stehen und fuhr sich mit den Händen durchs Haar, in der Hoffnung, dadurch einen halbwegs akzeptablen Anblick zu bieten. Falls es ihre Freunde waren, wollte sie nicht den Eindruck vermitteln, dass es besser wäre, ihr Gesellschaft zu leisten. Als sie jedoch die Tür öffnete, sah sie zu ihrer Verwunderung einen jungen Mann in einer gelben Regenjacke vor sich stehen. In den Händen hielt er einen großen Karton.
»Mrs Barenson?«, fragte er.
»Ja?«
Der Fremde machte einen zögerlichen Schritt auf Julie zu. »Ich soll das persönlich bei Ihnen abgeben. Mein Dad hat gesagt, es wäre wichtig.«
»Ihr Dad?«
»Er wollte sichergehen, dass Sie es heute Abend bekommen. «
»Kenne ich ihn?«
»Keine Ahnung. Aber er hat wirklich viel Wert darauf gelegt. Es ist ein Geschenk.«
»Von wem denn?«
»Mein Vater meinte, das würden Sie verstehen, sobald Sie es aufmachen. Aber nicht schütteln – und diese Seite hier ist oben.«
Bevor Julie etwas dagegen unternehmen konnte, drückte der junge Mann ihr den Karton in die Arme und wandte sich dann zum Gehen.
»Moment mal«, sagte sie. »Ich verstehe nicht …«
Der junge Mann schaute sich noch mal um. »Frohe Weihnachten«, sagte er.
Julie sah von der offenen Tür aus zu, wie er in seinen Lieferwagen stieg. Kurz darauf stellte sie den Karton vor dem Weihnachtsbaum auf den Boden und kniete sich daneben. Ein kurzer Blick bestätigte, dass nirgendwo eine Karte steckte, und auch sonst deutete nichts auf den Absender hin. Julie löste das Band, hob den separat mit Papier umwickelten Deckel ab – und starrte sprachlos ihr Geschenk an.
Ein verfilztes, winziges Fellknäuel, kaum mehr als ein paar Pfund schwer, kauerte in einer Kartonecke – der hässlichste Welpe, der Julie je untergekommen war. Sein Kopf war groß und stand in deutlichem Missverhältnis zum übrigen Körper. Winselnd sah er zu ihr hoch, die Augen mit Schleimpfropfen verklebt.
Jemand hatte ihr einen Welpen gekauft. Einen hässlichen Welpen.
Innen an der Kartonwand war mit Klebeband ein Briefumschlag befestigt. Während sie danach griff, erkannte sie die Handschrift darauf und hielt inne. Nein, dachte sie, das kann nicht sein …
Die Liebesbriefe, die er ihr an ihren Hochzeitstagen schrieb, trugen diese Handschrift, und auch die hastig gekritzelten Nachrichten neben dem Telefon, die Unterlagen, die sich auf seinem Schreibtisch türmten. Julie hielt den Umschlag vor sich und las immer wieder ihren Namen darauf. Dann zog sie mit zittrigen Händen den Brief heraus.
Liebe Jules,
Es war Jims Spitzname für sie, und Julie schloss die Augen. Ihr war, als schrumpfe ihr Körper plötzlich. Sie zwang sich, tief durchzuatmen, und fing noch einmal an zu lesen.
wenn du diesen Brief liest, werde ich schon dahingegangen sein. Ich weiß nicht, wie lange ich dann schon fort bin, aber ich hoffe, du hast langsam begonnen, es zu verschmerzen. Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde es mir schwerfallen, aber du weißt, dass ich dich immer schon für die Stärkere von uns beiden gehalten habe.
Ich habe dir, wie du siehst, einen Hund gekauft. Harold Kuphaldt war mit meinem Vater befreundet, und er züchtet Dänische Doggen, so lange ich denken kann. Als Junge habe ich mir immer eine gewünscht, aber da unser Haus so klein war, hat Mom es nicht erlaubt. Es sind große Tiere, zugegeben, aber Harold zufolge sind sie auch die liebsten Hunde der Welt. Ich hoffe, du hast viel Freude mit ihm (oder ihr).
Insgeheim habe ich wohl immer gewusst, dass ich es nicht schaffen werde. Darüber wollte ich aber nicht nachdenken, weil ich wusste, dass du niemanden hast, der dir hilft, solch eine Situation durchzustehen. Jedenfalls keine Eltern oder Geschwister. Der Gedanke, dass du dann ganz allein bist, hat mir das Herz gebrochen. Weil ich keine bessere Idee hatte, habe ich wenigstens dafür gesorgt, dass du diesen Hund bekommst.
Falls er dir nicht gefällt, musst du ihn natürlich nicht behalten. Harold meinte, er würde ihn ohne Probleme zurücknehmen. (Seine Telefonnummer müsste beiliegen.)
Ich hoffe, es geht dir ganz gut. Seit ich krank wurde, war ich in ständiger Sorge um dich. Ich liebe dich, Jules, wirklich. Als du in mein Leben getreten bist, hast du mich zum glücklichsten Mann der Welt gemacht. Die Vorstellung, dass du nie wieder glücklich wirst, bricht mir schier das Herz. Tu es also für mich, werde wieder glücklich. Finde jemanden, der dich glücklich macht. Mag sein, dass du es für unmöglich hältst, und dass es tatsächlich schwer ist, aber ich möchte gern, dass du es versuchst. Die Welt ist so viel schöner, wenn du lächelst.
Und mach dir keine Sorgen. Wo ich auch sein mag, ich werde auf dich aufpassen. Ich werde dein Schutzengel sein, Sweetheart. Verlass dich darauf, ich beschütze dich. Ich liebe dich,
Jim
Mit Tränen in den Augen spähte Julie über den Rand des Kartons und griff hinein. Der Welpe schmiegte sich an ihre Hand. Sie hob ihn heraus und hielt ihn sich dicht vors Gesicht. Er war winzig und zitterte, und sie konnte seine Rippen fühlen.
Wirklich ein hässliches Kerlchen, dachte Julie. Und ausgewachsen war er sicher so groß wie ein Kalb. Was um alles in der Welt sollte sie mit solch einem Hund?
Warum hatte Jim ihr nicht einen Zwergschnauzer mit grauem Backenbärtchen schenken können, oder einen Cockerspaniel mit traurigen Kulleraugen? Etwas Handlicheres? Etwas Süßes, das sich ab und zu auf ihrem Schoß zusammenrollte?
Der Welpe, ein Rüde, begann zu winseln, ein hoher Laut, der an- und abschwoll wie der Widerhall von fernen Lokpfeifen.
»Schscht… dir passiert nichts«, flüsterte Julie. »Ich tu dir nichts …«
Leise redete sie mit dem Welpen, damit er sich an sie gewöhnte, während sie immer noch kaum glauben konnte, dass dieses Geschenk von Jim kam. Der Welpe winselte weiter, fast, als wolle er die Musik aus der Anlage begleiten, und Julie kraulte ihn unterm Kinn.
»Singst du für mich?«, fragte sie, zum ersten Mal sanft lächelnd....
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