Teil 3:
Rückschlag
Kapitel 18
Kreuznach, Ende August 1275 Prüfend ließ Michel einen letzten Blick über die festlich gedeckte Tafel schweifen, die die ganze Diele seines Vaterhauses in der Kreuznacher Metzgergasse ausfüllte. Dann lächelte er Mechthild, seiner Stiefmutter, zufrieden zu. Sie erwiderte das Lächeln erleichtert.
»Glaubst du, dass wir Ehre bei deinem hochwohlgeborenen Dienstherrn einlegen werden, wenn er sich zu unserem bescheidenen Fest einfindet?«
Michel nickte überzeugt. »Simon von Montfort neigt nicht zur Hoffart, Frau Mechthild, wie es mein voriger Gebieter Heinrich von Sponheim tat. Obwohl er noch nicht zum Ritter geweiht ist, hat er doch das Herz eines rechten Edelmanns.«
Wieder betrachtete er die Tafel mit heimlichem Stolz. Für das junge Paar, seine Eltern und die Ehrengäste standen zinnerne Teller und Becher auf dem gestärkten weißen Tischtuch. Auf Simons Platz prangte sogar ein kostbarer Pokal aus venezianischem Glas, den sein Vater beim Würfelspiel von einem betrunkenen Kaufmann gewonnen hatte. Die übrigen Gäste würden allerdings von einfachen Holztellern speisen müssen. Schließlich hatte Adalbert, Michels Vater, über dreißig Personen geladen, in der Mehrzahl Mitglieder der Metzgerzunft.
Es pochte an der Außentür. Michels Herz tat einen Sprung, als er voller Erwartung öffnete. Draußen stand Marie, gefolgt von ihrem schon gebrechlichen Vater Walter. Sie sah bezaubernd aus.
Über einem zartgelben Unterkleid trug sie ein ärmelloses Obergewand, gefertigt aus dem feinen grünen Leinenstoff, den er ihr zur Verlobung geschenkt hatte. Die dunkelblonden Haare fielen ihr gescheitelt über Schultern und Rücken. Darüber hatte sie einen hauchzarten Schleier gelegt, der von einem Kranz gelber Rosen gehalten wurde. Auch im Gürtel steckten zwei zarte Stengel mit Rosenknospen. In ihren hellbraunen Augen tanzten goldene Funken vor Stolz über das ungewohnt vornehme Gewand und Vorfreude auf das Fest.
»Seid von Herzen willkommen«, begrüßte Michel die Ankömmlinge. Er verbeugte sich vor ihrem alten Vater. Dann ergriff er Maries Hände und zog ihre rechte an seine Lippen. Obwohl er seine Verlobte am liebsten in die Arme genommen hätte, wahrte er angesichts der Gegenwart ihres Vaters und seiner Stiefmutter die Form.
»Dies ist Mechthild, meines Vaters zweite Gattin. Ihr verdanken wir das köstliche Mahl, das in Bälde aufgetragen wird. Mein Vater Adalbert wird jeden Augenblick eintreffen. Er wurde noch in Geschäften in der Stadt aufgehalten. In Kürze erwarten wir auch die geladenen Gäste. Darf ich euch derweil einen Trunk zu eurer Erfrischung anbieten?«
Michel entgingen die staunenden Blicke nicht, mit denen Marie und ihr Vater sich umsahen. In der Tat hatte es Adalbert durch Geschäftstüchtigkeit und unermüdlichen Fleiß zu einigem Wohlstand gebracht, insbesondere nach der Heirat mit Mechthild. Deren Vater war einer der einflussreichsten Meister der Kreuznacher Metzgerzunft gewesen.
Das Haus besaß ein gemauertes Erdgeschoss, auf das ein weiteres Geschoss aus Fachwerk mit spitzem Dach aufgesetzt war, zu dem eine schmale Außentreppe führte. Von der geräumigen Diele, in der die gedeckte Tafel stand, zweigten zwei weitere Zimmer ab. Das größere diente dem Vater und Bruder als Arbeitskammer, das kleinere wurde als Vorratsraum genutzt. Darunter lag der kühle, tief in die Erde gegrabene Keller, in dem sich Fleisch auch im Sommer einige Tage frisch halten ließ. Man stieg mittels einer Leiter unter einer Falltür in ihn hinab. Soweit Michel wusste, war der Keller einzigartig in Kreuznach.
Hinter der Diele befand sich noch die geräumige Küche, die in einen kleinen Hof und Gemüsegarten führte und aus der nun verlockende Düfte zu ihnen drangen.
Im oberen Stockwerk lagen die Schlafräume seiner Eltern und Geschwister und gleich unter dem Giebeldach eine kleine Kammer für die Magd. Einen kurzen Moment überkam Michel Wehmut bei dem Gedanken, dass er dieses großzügige Anwesen einmal geerbt hätte, wenn er als ältester Sohn das Metzger- anstelle des Kriegshandwerks gewählt hätte. Nun würde sein jüngerer Bruder Gernot als des Vaters Nachfolger Fleischbank und Haus übernehmen und Letzteres wahrscheinlich, lange bevor Michel einen Hausstand begründen konnte, mit seinen Nachkommen bewohnen.
Soeben kam Gernot herein, bereits in sein bestes Wams aus feinem zimtfarbenem Wollstoff gekleidet. Er überreichte seiner Stiefmutter einen dicken Strauß Astern und Zinnien, die er im Garten gepflückt hatte. Während Mechthild die bunten Blumen in einem bemalten irdenen Krug anordnete, den sie danach auf die Tafel stellte, begrüßte auch Gernot die Gäste.
»Was tragt Ihr für ein feines Gewand, liebste Schwägerin Marie«, bemerkte er in seiner leutseligen Art, die gewährleistete, dass auch er einmal ein erfolgreicher Geschäftsmann sein würde. Marie knickste entzückt. »Ich danke Euch, Schwager Gernot«, zwitscherte sie. »Euer Bruder hat bislang nicht ein Wort darüber verloren. Dabei habe ich tage- und nächtelang daran gearbeitet.« Sie zeigte auf die zarte gelbe Stickerei, mit der sie Ausschnitt und Säume des grünen Kleides versehen hatte.
Michel spürte, wie er errötete. »Das Gewand steht dir wunderbar zu Gesicht, Marie«, beeilte er sich zu versichern.
»Hast du auch den kostbaren Schleier bemerkt?«, antwortete sie mit einer Spur Vorwurf in der Stimme. Sie nahm ein Stück des feinen, hauchdünnen Gewebes zwischen die Finger. »Es ist das Verlobungsgeschenk meiner Herrin, der Gräfin Adelheid.«
Noch bevor Michel antworten konnte, wurde die Vordertür mit Schwung aufgerissen. Herein stürmte Adalbert, Michels Vater. Obwohl nahezu zwei Kopf kleiner als sein ältester Sohn, füllte er den Raum mit seiner lebhaften Präsenz. Mit ausgestreckten Händen ging er auf Marie zu. »Lass dich einmal ansehen, Mädchen«, polterte er, ein breites Lächeln in seinem roten Gesicht. »Eine feine Maid hat sich mein Ältester da erwählt, wahrlich, so ist es. Ihr werdet einmal gar hübsche Kinder haben.«
Während Marie und Michel beide erröteten, wandte er sich an ihren Vater, der im unmittelbaren Vergleich mit Adalberts strotzenden Lebenskraft noch gebeugter und gebrechlicher wirkte. »Seid auch Ihr von Herzen willkommen in meinem bescheidenem Heim, Walter.« Wenn er den fadenscheinigen Kittel des Brautvaters bemerkte, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
»Bald wird auch unser Ehrengast Simon von Montfort eintreffen. Ich sah ihn bereits auf dem Pfad vor der Burg.« Er wandte sich an seine Frau. »Spute dich, Mechthild, und bringe den guten Weißen herbei. Es ist der feinste Tropfen, den meine Weingärten zu bieten haben.« Wie fast alle Kreuznacher Bürger bewirtschaftete auch Adalbert einige Morgen Land mit Reben.
»Da kommen schon die Zunftbrüder mit ihren Weibern die Gasse herauf. Achte darauf, dass noch etwas für unseren Ehrengast übrig bleibt.« Er drehte sich mit strahlendem Gesicht zu den Anwesenden um. »Möge der Herrgott uns allen ein fröhliches Fest bescheren.«
Mit gemischten Gefühlen stieg Simon den steilen Pfad von der Kauzenburg hinab in den Zwingel, durchquerte das Tor zur Neustadt und schlug den Weg zur Metzgergasse ein.
Einerseits gönnte er Michel sein Glück mit Marie von Herzen und hatte ihn sogar selbst ermutigt, das Band der Verlobung noch vor ihrer bevorstehenden Abreise zu knüpfen. Andererseits zog sich sein Magen vor Wehmut und Bitterkeit zusammen, wenn er an Christinas Hochzeit mit Heinrich am kommenden Sonntag dachte. Schon morgen würden sie aufbrechen müssen.
Tagelang hatte er sich den Kopf zerbrochen, um einen geeigneten Vorwand zu finden, der Feier fernbleiben zu können. Doch vergeblich. Selbst Graf Johann, der sich ebenfalls nicht auf das Fest freute, fand Simons Vorschlag befremdlich, ausgerechnet zum Zeitpunkt der Hochzeit mit einigen Männern ein weiteres Mal nach den plündernden Banditen zu suchen. Simon war sein Ziehsohn und damit Anverwandter des Bräutigams. Die Braut war die Tochter seines Dienstherrn. Also war Simons Anwesenheit bei der Feier unerlässlich.
So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu fügen. Doch je näher die Hochzeit rückte, desto schwerer wurde ihm ums Herz. Alle Freude schien aus seinem Leben gewichen zu sein. Weder die strahlenden Spätsommertage noch Michels Gesellschaft konnten ihn aufmuntern. Ganz besonders machte ihm die Erkenntnis zu schaffen, dass Christina keineswegs schwanger von ihrem Entführer gewesen war, als sie ihn abwies.
So konnte er sich nicht einmal damit trösten, dass sie ihm diese furchtbare Verletzung seiner Ehre hatte ersparen wollen. Obwohl es ihn unerträglich schmerzte, blieb ihm letztlich nur die Vermutung, sein Status als landloser Ritter habe sie abgeschreckt. In seinen dunkelsten Stunden quälte ihn darüber hinaus der Gedanke, sie habe ihn niemals wirklich geliebt.
Anfangs versuchte er, seinen Kummer im Wein zu ertränken, doch das gab er schnell wieder auf. Außer einem mächtigen Kater brachte ihm der übermäßige Alkoholgenuss nicht das gewünschte Vergessen. Im Gegenteil fühlte er sich danach noch elender. Wenn er nicht wie besessen mit seinen Waffen übte, war er am liebsten allein und streifte ziellos durch die Weinberge rings um die Kauzenburg.
Christina hatte er seit ihrem Treffen in der Kapelle nicht wiedergesehen. Schon am Tag danach war er in aller Frühe mit Graf Johann nach Kreuznach aufgebrochen, um das Gesindel zur Strecke zu bringen, das die Grafschaft heimsuchte. Dass all ihre Bemühungen bislang fruchtlos geblieben waren, trug nicht dazu bei, seine Laune zu heben.
Immer wieder versuchte der treue Michel, Simon...