Teil 2:
Angriff
Kapitel 8
Burg Rheinfels, August 1274 Christina, wach auf. Wir sollten vor der Vesper zurück sein.« Simon rüttelte die schlafende junge Frau sanft an der Schulter. Statt einer Antwort rollte sie sich auf die Seite und schmiegte sich mit dem Rücken an ihn.
Simon betrachtete sie lächelnd. Wie wunderschön sie war! Und wie begehrenswert! Seit fast vier Jahren waren sie nun schon ein heimliches Paar.
Es hatte in der Tat nicht lange gedauert, bis aus der gemeinsamen Trauer um Ajax und dem Abscheu gegen Heinrich eine tiefere Verbindung zwischen ihnen entstanden war. Nur allzu willig gab Christina Simons schüchternem Werben nach. Hier auf dieser Lichtung hatten sie sich das erste Mal geküsst, atemlos und verschwitzt nach einem heftigen Kampf mit den Holzschwertern. Seither sehnte Simon jedes ihrer verschwiegenen Treffen herbei.
»Christina, nun komm schon.« Er hob ihren schweren Zopf und küsste sie zärtlich in den Nacken. Als sie sich noch immer nicht rührte, biss er vorsichtig zu.
»Autsch, du Grobian.« Endlich öffnete sie die Augen, räkelte und streckte sich wie eine Katze. Dann zog sie Simons Kopf zu sich hinunter und küsste ihn mit leicht geöffneten Lippen. Sie schmeckte nach der wilden Minze, die sie beide zuvor gekaut hatten.
Simon spürte, wie seine Männlichkeit sich aufrichtete und schmerzhaft gegen die Bruche drückte, an deren Gürtel er die engen Beinlinge befestigt hatte. Leidenschaftlich presste er sich gegen ihre Hüften und liebkoste ihre festen Brüste. Längst begehrte er mehr von Christina als nur Küsse. Bislang allerdings vergeblich.
Zu seiner Enttäuschung versteifte sich ihr Körper auch jetzt. Mit einem nervösen Lachen schob sie ihn zur Seite und rollte sich geschickt von ihm weg. Dann setzte sie sich auf und blickte sich um. Das Gras auf der kleinen Lichtung im Brombeergebüsch war mit Gänseblümchen und Butterblumen gesprenkelt. Dazwischen wuchsen roter Klee und zarte Glockenblumen.
Gedankenvoll pflückte Christina ein Gänseblümchen und begann, die weißen Blütenblätter nacheinander abzuzupfen. »Wir tun es, wir tun es nicht.« Das letzte Blütenblatt fiel ins Gras. »Siehst du, Simon, das Schicksal gibt mir recht.« Sie lächelte halb schelmisch, halb verlegen. »Lass uns damit warten, bis wir einander als Mann und Weib verbunden sind.«
»Ja, ja, das sagst du andauernd«, erwiderte Simon gereizt. »Doch wann wird das je der Fall sein, wenn du weder mit deinem Vater noch mit Heinrich darüber sprichst?«
Ob des Vorwurfs stieg eine leichte Röte in Christinas Wangen. »Du weißt selbst, dass mein Vater sich kaum auf dem Rheinfels aufhält, seit König Rudolf von Habsburg ihn auf Empfehlung des Mainzer Kurfürsten in den Kreis seiner Berater aufgenommen hat. Wie soll ich mit ihm sprechen, wenn er doch gar nicht da ist?«
Simon seufzte. Wer hätte gedacht, dass Graf Eberhard in seinem Alter noch einmal ein solch ehrenvolles Amt angetragen werden würde? Alle Welt sprach von Werner von Eppstein, dem Mainzer Erzbischof, als dem Königsmacher. Nach allem, was man hörte, hatte vor allem er dafür gesorgt, dass eine Mehrheit der Kurfürsten ihre Stimme einem unbekannten Grafen aus dem Aargau gab.
Doch viele neideten dem Habsburger Rudolf die Königswürde, allen voran Ottokar, der mächtige König von Böhmen. Rudolf war daher auf loyale Berater angewiesen und vertraute auf die Empfehlungen des Kurfürsten, dem er die Krone verdankte. Eberhard wiederum war ein alter Freund des Mainzer Erzbischofs und weithin bekannt für sein Verhandlungsgeschick. Er galt als klug und zuverlässig. Auch jetzt war er Werner von Eppstein ein treuer Freund und hatte sofort zugesagt, als dieser ihn um seinen Beistand bat.
»Es nimmt mich wunder, dass deinem Vater die vielen Reisen nicht zu beschwerlich sind«, sinnierte Simon laut.
Christina lachte. »Ganz im Gegenteil, sein Amt scheint ihn zu verjüngen. Und uns beiden kann es doch nur recht sein, dass er so lange fort ist, nicht wahr?« Sie küsste Simon schelmisch auf die Nasenspitze.
Der machte einen letzten Versuch. »Bald ist Heinrichs Schwertleite. Da wird dein Vater gewiss nicht fehlen wollen. Er kann jeden Tag eintreffen. Wirst du dann mit ihm sprechen?«
Christina nickte. »Sobald Heinrich zum Ritter geweiht ist, werde ich mich ihm und meinem Vater erklären.«
»Warum erst danach?«
Christina zog einen Schmollmund. »Vorher wäre es nicht recht. Heinrich sehnt den Tag seiner Schwertleite seit Jahren herbei. Würde ich zuvor die Verlobung lösen, wäre dieser Ehrentag für ihn eine Schande. Alle Welt würde mir Vorwürfe machen.«
»Alle Welt würde über ihn lachen«, hielt Simon verbittert dagegen. »Und das hätte er wahrlich mehr als verdient.«
Christina gab keine Antwort, und Simon insistierte nicht länger. Diesen Disput hatten sie wieder und wieder geführt. Auch heute würden sie zu keinem greifbaren Ergebnis kommen. Christina fand immer neue Ausflüchte, ebenso wie sie immer wieder seinen Versuchen widerstand, sie zu verführen. Auch das verstand Simon nicht. Nach so langer Zeit hatte er mehr Vertrauen erwartet. Zumal es ihm um weit mehr ging als um rasche körperliche Erfüllung.
Eines Tages hatte er sogar den Mut aufgebracht, ihr seine Beweggründe zu gestehen. »Es ist nicht nur Begierde, meine Liebste, obwohl ich mich Tag und Nacht nach dir verzehre. Heinrich wird dich nicht mehr zur Gattin haben wollen, wenn du mir deine Jungfräulichkeit schenkst. Was bleibt deinem Vater dann anderes übrig, als mich zu deinem Gemahl zu machen, auch wenn ich keinen Besitz habe?«
Doch zu seiner Enttäuschung wich ihm Christina einmal mehr aus. »Noch bist du nicht einmal ein Ritter, Simon. Mein Vater könnte versucht sein, mich ins Kloster zu schicken, wenn ich mich seinen Wünschen auf diese Weise widersetze.« Seither quälte ihn immer wieder der Verdacht, dass seine Mittellosigkeit Christina vor dem letzten Schritt zurückschrecken ließ.
Vor dem Gebüsch ertönte ein schriller Pfiff. Während sie hastig ihre Kleider richteten, hörten sie, wie sich Michel seinen Weg durch den schmalen Durchgang bahnte, der auf die Lichtung führte und dabei die Zweige rascheln ließ. Da tauchte seine braune Mähne, die ihm in wirren Locken auf die Schultern hing, auch schon vor ihnen auf.
»Beliebt, die Störung zu entschuldigen, edle Herrschaften.« Michel verbeugte sich spöttisch, seine braunen Augen blitzten mutwillig. »Doch erschien es mir angeraten, das als Waffenübung getarnte Schäferstündchen zu unterbrechen. Euer Vater ist auf dem Weg in die Burg, wohledle Dame. Sein Schiff hat gerade in St. Goar angelegt.«
»Heute schon? Bei allen Heiligen, dann muss ich mich sputen. Rasch, Michel, halte mir die Zweige auseinander. Und ihr beide bleibt besser noch eine Weile hier, damit man uns nicht zusammen zurückkommen sieht. Der halbe Haushalt wird schon auf den Beinen sein.« Damit zwängte Christina sich durch den schmalen Spalt, ohne auf die Dornen zu achten, die ihr die Haare zausten.
Seufzend blickte Simon ihr nach. Dann ließ er sich ins Gras fallen und gab Michel ein Zeichen, sich zu ihm zu setzen.
Selbst im Sitzen überragte ihn der Riese um mehr als eine Haupteslänge. Michel war in den letzten Jahren womöglich noch größer und stärker geworden als bei seiner Ankunft auf der Burg. Seine ehrerbietige Scheu vor Christina und Simon hatte er größtenteils abgelegt, sobald sie unbeobachtet waren.
Nach wie vor diente er Heinrich mit der Zuverlässigkeit, die ihm eigen war. Doch auch hier hatte eine Veränderung stattgefunden. Seitdem Michel Heinrich eines Tages die Peitsche entwunden und sie wie einen dürren Ast über seinem Knie zerbrochen hatte, versuchte sein jähzorniger Herr nicht mehr, ihn zu misshandeln.
»Das hättest du schon viel früher tun sollen«, bemerkte Simon halb bewundernd, halb tadelnd, als Michel ihm von dem Vorfall berichtete. Der zuckte die Achseln. »Die Zeit war noch nicht reif dafür, Herr.«
Nachdenklich betrachtete Simon jetzt den hünenhaften Waffenknecht. Michel war ihm und Christina nach seiner Genesung ein treuer Gefährte geworden. Schon kurz nach Ajax' Tod beobachtete er die beiden dabei, wie sie geradewegs ins Brombeerdickicht eindrangen. Heinrich war wieder einmal mit seinen Saufkumpanen in die Schenke gezogen.
Mittlerweile war Simon sicher, dass Michel ihnen damals absichtlich nachgegangen war. Doch er hatte keine finsteren Absichten verfolgt. »Lasst mich ab und an mit Euch üben, Herr. Ich weiß so manche Kniffe und Finten, die ich Euch lehren könnte.«
In der Tat war Michel sehr geschickt mit dem Schwert und beherrschte darüber hinaus den Kampf mit Streitaxt und Morgenstern wie kein Zweiter. Simon zögerte nicht, sich auch im Gebrauch dieser Waffen unterrichten zu lassen, deren Einsatz als unritterlich galt. Denn wer vermochte schon zu sagen, ob ihm diese Kunst nicht einmal nützlich sein würde.
Zudem war Michel ein ausgezeichneter Ringer und lehrte nach anfänglicher Scheu selbst Christina die Grundzüge dieser Verteidigungsart. Von Michels Können profitierte Simon so sehr, dass er nunmehr fast alle älteren Knappen weit überflügelte. Nur Heinrich blieb ihm vorerst noch ein ebenbürtiger Gegner.
Michel fand auch die verlassene Schäferhütte, die eine halbe Meile landeinwärts am Rand einer sumpfigen, nicht mehr genutzten Weide lag. Sie bot im Winter zumindest ein Dach über dem Kopf und war groß genug, um in ihr den Nahkampf zu proben.
»Findest du es nicht seltsam, dass eine Frau zu kämpfen begehrt?«, hatte Simon ihn nach ihrem ersten Treffen gefragt. Michel schüttelte den Kopf. »Es steht mir nicht zu, über die Wünsche des edlen...