Schweitzer Fachinformationen
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Das Klacken von metallbeschlagenen Polizeistiefeln hallte durch die Gänge der Hauptwache an der Kasernenstraße im Zentrum von Zürich. Daneben das leisere Klatschen von bloßen Füßen auf dem Steinboden. Felber hatte seine Hosenbeine bis unter die Knie hochgekrempelt und trug die völlig verschlammten Schuhe und Socken in einem Asservatensack in der Hand. Die wenigen Beamten und Sachbearbeiter, denen Baumgartner und Felber auf dem Weg zu ihrer Abteilung begegneten, warfen höchstens einen kurzen Blick auf den barfüßigen Ermittlungsleiter. Nur Tobias Hüglin, Felbers Ansprechpartner von der Staatsanwaltschaft, ein notorischer Spaßvogel, konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen.
»Ich arbeite mit dem Kopf, nicht mit den Schuhen«, murmelte Felber und ging mit Baumgartner weiter zum Treppenhaus.
Auf einer Klappleiter stand der Haustechniker mit seiner getönten Brille und ersetzte eine Neonröhre.
Pamela Galtzidis, die das Sekretariat der Ermittlungsgruppe »Leib/Leben« führte, saß hinter ihrem Schreibtisch wie ein menschgewordenes Venusbild: aufrecht, schlank, mit großen, dunklen Augen und markanten Wangenknochen, das schwarz gewellte Haar locker hochgebunden. Sie zog die Brauen hoch und schüttelte schelmisch den Kopf, als sie ihren Chef hereinkommen sah. »Soll ich Ihnen die putzen?«
»Auf keinen Fall!«, antwortete Felber und umklammerte den Plastiksack.
Sie lächelte, wobei sie eine Reihe perlweißer Zähne zeigte. »Wenigstens ein paar frische Socken?«
»Haben Sie denn einen Vorrat?«
Sie nickte und entschwebte in Richtung Vorratsraum, während Felber sich in sein Büro zurückzog und damit begann, die Ermittlungen im neuen Mordfall zu organisieren. Und das bedeutete zuerst einmal viel Büroarbeit: Koordinierung der Ressourcen, Erstellung von Personal- und Einsatzplänen, ersten Leitlinien und Pendenzenlisten, Absprachen mit der Medienabteilung, der Leitung der Ermittlungsabteilung und der Staatsanwaltschaft, Anforderung von Protokollen der Stadtpolizei, die als erste vor Ort gewesen war.
Und irgendwie musste er es schaffen, Hüglin möglichst auf Distanz zu halten. Jedes Team hatte einen direkten Partner in der Staatsanwaltschaft, der die Ermittlungen aus juristischer Sicht absegnete und gewöhnlich auch an den Dienstrapporten teilnahm. Felbers Team war zurzeit dieser Tobias Hüglin zugewiesen, ein fähiger Jurist zwar, doch Felber konnte ihn nicht ausstehen. Nicht weil er unfreundlich gewesen wäre, wie etwa der notorisch mürrische Haustechniker, im Gegenteil: Er war einer dieser immer fröhlichen, zwanghaft jovialen Typen, die schon morgens um 7.30 Uhr lustig sein wollten, die keinen Satz von sich geben konnten, ohne noch einen schlechten Witz hinterherzuschicken und darüber laut zu lachen. Felber fand ihn unausstehlich. Deshalb suchte er immer neue Strategien, die Kommunikation mit Hüglin aufs Allernötigste zu beschränken oder, noch besser, komplett zu vermeiden. Für die erste Sitzung würde er allerdings kaum darum herumkommen, ihn aufzubieten, wollte er Ärger mit der Dienstchefin, seiner direkten Vorgesetzten, umgehen.
Irgendwann rief Dani Pedrone an. Er hatte die Eltern der Ermordeten informiert. Ja, es war schrecklich gewesen. Wie immer. Ihre Tochter habe sich erst vor wenigen Wochen von ihrem Freund getrennt, und der habe das offensichtlich nicht gut aufgenommen. Die Eltern meinten, er sei aufdringlich geworden. Ja, aufdringlich. Sie hätten den Jungen bereits im Wagen und brächten ihn zur Einvernahme. Und ja, er sei volljährig.
Felber blickte durch das Fenster auf den begrasten Kasernenplatz mit dem kubischen Betonbau, in dem hinter dicken Fenstergittern die Untersuchungsgefangenen auf ihren Prozess warteten.
War es das also schon gewesen? - Ein verletzter junger Mann war ausgerastet und hatte seine Freundin umgebracht? Kontrollverlust, Affekttat, so banal? - So banal war es häufig. Die Verbindung zwischen Täter und Opfer musste kaum je durch langwierige Ermittlungsarbeit oder detektivisches Gespür aufgedeckt werden. Auch dass das Mordmotiv sich in einem Gewirr anderer Beweggründe von scheinbar Unbeteiligten und Nebenfiguren verbarg, kam eigentlich nur in Kriminalromanen vor. Echte Polizeiarbeit war - banal. Im Grunde gab es zwei Typen von Mördern: auf der einen Seite Psychopathen, die sich wahllos ihre Opfer suchten wie der Wahnsinnige, der in den 90er-Jahren auf dem Bucheggplatz, einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte Zürichs, mit einem Gewehrschuss einen Autolenker im fahrenden Wagen getötet hatte und nie gefasst wurde. Oder der junge Mann, der am Tag seiner Entlassung aus der Rekrutenschule mit der Armeewaffe in Höngg eine junge Frau erschoss, die er noch nie gesehen hatte. Ohne Grund.
Auf der anderen Seite und in den häufigeren Fällen stammte der Mörder aus dem nächsten Umfeld des Opfers. Die schlimmsten Verletzungen und Kränkungen ereigneten sich in der Familie oder in einer sehr engen Freundschaft. Nicht selten stand der Mörder noch neben dem Toten, wenn die Polizei eintraf, völlig schockiert über das Geschehene, hatte vielleicht sogar selber angerufen. Kein Mensch, der nicht unter einer schweren psychischen Störung litt, tötete einfach so, aus Berechnung. Da musste eine Situation eskaliert sein, ein Wort hatte das andere gegeben, mit der Waffe wollte man nur ein wenig Druck machen, niemand hatte es letzten Endes gewollt.
War auch dieser Fall ein Mord aus Kränkung, verschmähter Liebe? Vielleicht hatte er um sie kämpfen wollen, sie hatte ihn ausgelacht, und schon gehen die Affekte durch, ein Moment der Rage, und der Mensch, den man eigentlich liebt, liegt vor einem. Tot. Man kann das nicht einfach abhaken, es ist etwas, was niemals hätte passieren dürfen, etwas von einer Unumkehrbarkeit, wie sie brutaler nicht sein könnte. Man verscharrt den Körper schnell irgendwo, verkriecht sich, versucht klarzukommen, womit nicht klarzukommen ist, und ist letzten Endes sogar froh, wenn man von der Polizei abgeholt wird und man das Unfassbare jemandem anvertrauen kann.
Die Arbeit von Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft besteht in solchen Fällen darin, nachträglich das Geschehene und seine Hintergründe aufzuarbeiten, zuhanden von hilflosen Gerichten und sensationsgierigen Medien. Das Geschehene selbst ist nicht rückgängig zu machen, die Toten werden bestattet und die Familien müssen mit ihrer Trauer klarkommen.
Florian Dennler, der zwei Stunden später im Verhörraum saß, gehörte definitiv weder zur einen noch zur anderen Gruppe. Schon während Felber durch das verspiegelte Glas zuschaute, wie Melanie Keller die Personalien aufnahm und sich die ganze Vorgeschichte schildern ließ, musste er sich eingestehen, dass er mit seiner ersten These ganz falsch gelegen hatte. Melanie Keller nahm den Jungen recht hart ran, ganz »Bad Cop«, wie Felber seine jüngere Kollegin manchmal insgeheim nannte. Der junge Mann mit den langen Gliedern und den fahrigen Bewegungen war über die Maßen nervös, zeigte sich abwechselnd schockiert, verwirrt und angesichts der kleinen, aber kräftigen Polizistin mit dem strengen Blick auch verängstigt. Gleichzeitig war er äußerst höflich und kooperativ und entschuldigte sich alle Naselang für dies oder das. Felber entschied nach einigen Minuten, dass Keller nicht die richtige Person war, um näher an Florian Dennler heranzukommen. Als sie eine erste Runde abgeschlossen hatte, in der sie den jungen Mann über die Beziehung zur Toten, sein Verhalten in den letzten Tagen und sein Alibi befragt hatte, übernahm Felber.
Er schob Dennler einen Becher Wasser hin, stellte sich vor und musterte sein Gegenüber zunächst eine ganze Zeit lang. Der junge Mann hatte auffallend helle blaue Augen, mit denen er den Ermittler fast Hilfe suchend ansah. Allerdings hielt er Felbers Blick nur einen Augenblick stand, dann schaute er weg. Er spielte mit dem Ärmel seines Kapuzenpullis, trommelte mit langen, bleichen Fingern auf den Tisch, drehte dann wieder fast ruckartig den Kopf, starrte immer neue Punkte an der nackten Wand des Verhörraums an, ja, es schien, als führte sein Körper ein Eigenleben, das er vergeblich zu kontrollieren versuchte.
»Sie sind sehr nervös«, stellte Felber nach einer Weile fest.
Dennler fuhr sich durch die gelockten Haare. »Das ist nur . normalerweise geht es schon . nur in Stresssituationen .« Er sprach schnell und abgehackt und seine Stimme klang heiser.
»Nehmen Sie Medikamente?«, fragte Felber.
»Ja . also, das heißt, wenn ich weiß, dass ich etwas . eine Prüfung habe . ich dosiere es selber. Aber heute .«
Felber hob fragend die Augenbrauen.
»Nun ja, die Polizisten haben mich zu Hause abgeholt, ich hatte keine Zeit .« Mit der einen Hand zog er die Finger der anderen Hand nach hinten und ließ sie dann nacheinander auf die Tischplatte trommeln.
»Schon gut«, sagte Felber ruhig und blätterte in seinen Notizen. »Gestern Abend waren Sie also zu Hause.«
»Ja, ich .« Mit dem Zeigefinger versuchte er vergeblich, einen Schweißfleck vom Tisch zu wischen, der wohl durch sein Fingertrommeln entstanden war.
»Ihre Eltern bestätigen das«, murmelte Felber, mehr für sich selbst. Dann blickte er dem jungen Mann in die blauen Augen. »Warum, denken Sie, haben die Eltern Ihrer Exfreundin ausgesagt, Sie seien in den letzten Tagen aufdringlich gewesen?« Er versuchte, so ruhig wie möglich zu sprechen.
Florian Dennler zog erneut seine Finger nach hinten, als wären sie aus Gummi. »Nun ja . Ich habe versucht mit ihr zu reden, ans Handy ging sie ja nicht, und zu Hause waren nur ihre...
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