Schweitzer Fachinformationen
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Höhenangst
Mit jedem Schritt in Richtung Abgrund hatte Pau Ribera das Gefühl, dass ihm die Kontrolle über seinen Körper und seinen Geist entglitt. Seine Knie fühlten sich weich an, als hätten sich Knochen, Knorpel und Sehnen in eine amorphe Gummimasse verwandelt, ihm war schwindelig, das Herz raste, im Ohr rauschte es, Schweiß bildete sich auf der Stirn. Er hatte das Bedürfnis, sich hinzusetzen, um wie ein Kleinkind auf dem Po weiterzurobben. Noch lieber wäre es ihm jedoch gewesen, auf dem Absatz kehrtzumachen, aber das ging nicht, denn gleichzeitig entwickelte die Tiefe eine eigenartige Sogwirkung. Schier unwiderstehlich zog sie ihn nach vorn wie ein Traktorstrahl in einem Science-Fiction-Film, als hätte sich eine dunkle Macht seiner bemächtigt, um ihn ins Verderben zu stürzen.
Zentimeter um Zentimeter näherte sich Ribera der bedrohlichen Linie, an der die Steilküste nahtlos in den Horizont überging. Dazwischen erstreckte sich das milchig graue Meer, auf dem ein einsames Segelboot kreuzte. Darüber zogen zwei Möwen ihre Bahnen am wolkenverhangenen Himmel.
»Was treiben Sie da?« Wie durch eine Nebelwand erreichte ihn die Frage und riss ihn aus seinen inneren Kämpfen.
Ribera zuckte zusammen. Etwa zwanzig Meter von ihm entfernt stand vor einem bunkerartigen Betonbau ein untersetzter Mann. Er trug die dunkelblaue Uniform der Lokalpolizei nebst einer Schirmmütze, wie auch sein Kollege, der ihn begleitete. Dieser schien etwas jünger zu sein, war aber ein ganzes Stück größer und schlanker. Der unterschiedlichen Statur wegen erinnerten die beiden Ribera stark an Don Quijote und Sancho Panza.
»Wir haben schon befürchtet, Sie wollten sich hinunterstürzen, nicht wahr, Vicente«, sagte der Sancho-Panza-Verschnitt mit einem spöttischen Gesichtsausdruck und stieß seinem Kollegen mit dem Ellbogen in die Seite.
»Wäre nicht das erste Mal, dass hier so etwas passiert«, entgegnete »Don Quijote« und schien nur mühsam ein Lachen zu unterdrücken.
Ribera beschloss, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. »Bei all dem, was uns jedes Jahr an zusätzlichen Aufgaben von den Bürokraten im Innenministerium in Madrid aufgebürdet wird, hätte ich manchmal die größte Lust dazu. Aber ich glaube, für heute reicht der eine Fall.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf die Klippen. »Zumindest soll hier einer vorliegen.« Er zückte seinen Dienstausweis und wechselte ins Kollegen-Du: »Chefinspektor Pau Ribera von der Policía Nacional in Palma. Habt ihr uns verständigt, dass es einen Toten geben soll?«
Die Lokalpolizisten stellten das Feixen abrupt ein. Ein Ruck ging durch ihre Körper, als würden sie Habachtstellung einnehmen.
»Sí, Señor. Sergente Fulano und Sergente Zutano von der Policía Local in Llucmajor«, sagte »Sancho Panza« alias Fulano, offensichtlich der Wortführer der beiden. »Unser Dienststellenleiter hat Urlaub, und wir wussten nicht genau, wer im Kommissariat zuständig ist. Wir haben einen Anruf von einem deutschen Touristenpaar bekommen, das hier am Cap Blanc beim Spazierengehen einen Wagen auf den Felsen unterhalb der Steilküste entdeckt hat. Wir sind der Sache sofort nachgegangen. Zumal es, wie mein Kollege richtig bemerkt hat, nicht der erste Vorfall dieser Art wäre. Das Cap Blanc gilt nicht umsonst als Selbstmörder-Kap.«
Ribera winkte mit beiden Händen ab. »Nur mal langsam. Ob ein Suizid vorliegt, steht noch nicht fest. Oder wisst ihr Näheres?«
»Nein, bisher nicht, Chefinspektor«, antwortete Fulano. »Das Einzige, was bislang feststeht, ist, dass dort unten ein Auto mit einer Leiche liegt. Das haben die Kollegen bestätigt, die das Wrack vom Wasser aus erreicht haben. Aber sieh selbst.« Er und sein Kollege machten Anstalten, an den Rand des weitläufigen, mit gelben Flechten bedeckten Plateaus vorzutreten, das sich zwischen Küste und einem niedrigen Wäldchen aus Kiefern und wilden Olivenbäumen erstreckte.
Ribera folgte ihnen widerstrebend. Er wollte sich trotz seiner Höhenangst, die sich gerade gemeldet hatte, keine weitere Blöße geben.
Er hatte Glück. Unterhalb des Felsrandes befand sich eine weitere Ebene, ein rund einen Meter breiter Vorsprung, den ein gnädiger Schöpfer extra für ihn als Sicherheitszone geschaffen haben musste.
Die Beamten beugten sich vor, Ribera tat es ihnen zögerlich gleich. In etwa vierzig Meter Tiefe waren hellgraue Felsen zu sehen, an denen sich die Wellen brachen und einen Gischtschaum hinterließen. Zwischen ihnen war ein weißes Auto zu erkennen oder vielmehr das, was davon übrig geblieben war.
Die Trümmer weckten bei Ribera die Assoziation mit einer Schrottpresse, mit denen auf Autofriedhöfen entsorgte Fahrzeuge malträtiert wurden.
In welchem Zustand mag sich der Fahrer oder die Fahrerin nach diesem verheerenden Aufprall erst befinden?, dachte Ribera und trat zurück. Er hatte genug gesehen.
»Okay, Kollegen, die Bergung des Toten wird bei den schwierigen Orts- und Wetterverhältnissen wohl noch eine Weile dauern, vermute ich. In der Zwischenzeit ist das Gebiet hier oben Sperrzone, bis die Spurensicherung mit ihrer Arbeit fertig ist. Schon Hinweise darauf, auf welchem Weg der Wagen bis zur Küste gekommen ist? Ich nehme an, dass es nicht viele Möglichkeiten gibt.«
Die Lokalpolizisten schüttelten unisono den Kopf.
»Nicht, nachdem der Inselrat eine Leitplanke und einen Zaun bauen ließ«, sagte Fulano. »Gebracht hat es aber wenig. Dieser Ort zieht den Tod geradezu an, Absperrung hin oder her.«
Wie zur Bekräftigung spuckte Zutano auf den Boden und sagte mit grimmiger Miene: »Das ist ein böser Ort, ein mal lloc. Die Einheimischen gehen hier nicht mal tagsüber hin. Selbst das Meer vor der Küste ist verflucht. In alten Seekarten werden die Tiefen als Tor zur Hölle bezeichnet. Nicht umsonst verunglücken dort immer wieder Schiffe. Wenn ich dran denke, wie oft in den letzten Jahren die Seenotrettung ausrücken musste.«
Nachdem Ribera mit der Spurensicherung telefoniert hatte, machte er sich auf den Rückweg zu seinem Auto, das er bei einem alten Leuchtturm geparkt hatte, der etwa einen halben Kilometer entfernt emporragte. Mit jedem Meter, den er zwischen sich und der Absturzstelle zurücklegte, fühlte er sich besser, kam sich weniger als Spielball seiner Ängste vor.
Dass er Probleme mit Höhen hatte, war ihm bewusst gewesen. Zum ersten Mal waren sie in der Jugend aufgetreten, als er mit seinen Freunden regelmäßig ins Schwimmbad gegangen war und jämmerlich versagt hatte, als es darum ging, vom Sprungturm ins Becken zu springen. Auch mit zunehmendem Alter war die Höhenangst nicht verschwunden. Aber dass sie ihn derart aus dem inneren Gleichgewicht bringen konnte, das hatte er noch nie erlebt.
Was für ein schauriger Ort, welch bedrückende Einsamkeit, ja fatale Endzeitstimmung von dem Küstenabschnitt doch ausgeht, dachte er. Und das auf einer Insel wie Mallorca, einem Synonym für Massentourismus und überbordende Vergnügungssucht schlechthin. Angesichts dieser Erfahrung empfand er es sogar als wohltuend, dass er sich mit einer Arbeit ablenken konnte, zu der ihn Polizeichef Mariano G. Moix verdonnert hatte. Gleichwohl war er im Grunde alles andere als begeistert davon.
***
Kaum war Ribera gegen sechzehn Uhr in seinem Büro in der Jefatura Superior de Policía Baleares angekommen, dem Hauptquartier der spanischen Nationalpolizei in Palma, klingelte das Telefon auf seinem Schreibtisch.
»Ribera, wo stecken Sie denn?«
Er stöhnte innerlich. Die vorwurfsvolle Stimme am anderen Ende der Leitung gehörte dem Polizeichef, von dem er im Moment mehr mitbekam, als ihm lieb war. Normalerweise hatte er im Arbeitsalltag der Mordkommission eher wenig mit seinem Vorgesetzten zu tun. Aber vor Kurzem hatte Moix ein Projekt angestoßen, mit dem er die Jefatura in Aufruhr versetzte - inklusive Ribera und seiner Abteilung.
»Kommen Sie bei mir vorbei, ich möchte Ihnen jemanden vorstellen, den Sie unbedingt kennenlernen müssen«, sagte Moix.
Augenblicke später klopfte Ribera an die Tür eines Büros im vierten Stock. Moix war wie erwartet nicht allein, ein schlanker Mann in einem dunkelblauen Slim-Fit-Anzug und gleichfarbiger Krawatte saß auf einem der Besucherstühle vor dem riesigen Schreibtisch. Das Möbelstück aus dunklem Holz nahm einen Großteil des Raumes ein und stand, wie Ribera fand, im Gegensatz zum üblichen Arbeitspensum seines Vorgesetzten.
»Ah, Ribera, da sind Sie ja endlich!«, rief Moix und bedeutete ihm, näherzutreten. Er wies auf seinen Gast. »Das ist Señor Pelayo Grande, mein neuer persönlicher Assistent. Er tritt seine Stelle diese Woche an. Ich wollte, dass Sie beide sich kennenlernen, bevor ich Señor Grande offiziell vorstelle.«
Grande war bei Moix' Worten aufgestanden. Er streckte Ribera lächelnd die Hand zur Begrüßung entgegen. »Sie können ruhig Pelayo zu mir sagen, wir werden ja in Zukunft öfter miteinander zu tun haben.«
Was für ein weicher Händedruck, als ob man einen toten Fisch anfassen würde, dachte Ribera und verzog die Mundwinkel zu einem halbwegs freundlichen Lächeln.
Er schätzte sein Gegenüber auf Mitte bis Ende dreißig. Grande war einen halben Kopf kleiner als er selbst und hatte eine jugendliche Ausstrahlung, was nicht zuletzt an seiner Frisur und seinem gepflegten Dreitagebart lag. Die Haare trug er auf den Seiten raspelkurz geschnitten, das dunkle Deckhaar dafür länger und ordentlich gescheitelt - ein Undercut, wie er bei vielen jüngeren oder sich für jung haltenden Männern auch in Spanien üblich war.
»Señor Grande wird als eine seiner ersten Aufgaben die Koordination der Ermittlungen in Sachen Rolex-Banden übernehmen. Ich denke, Sie werden...
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