Schweitzer Fachinformationen
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Der Herbst hatte früh begonnen, und seitdem hatte sich die Anzahl der Kunden im Pfandhaus verdoppelt.
Toshio verlagerte das Gewicht, um seinem geplagten linken Fuß Erleichterung zu verschaffen. Er ignorierte, dass das Knurren seines Magens durch den schwarzen Anzug zu hören war, und rückte sich die Krawatte zurecht. Heute war nicht der erste Tag, an dem er zu beschäftigt gewesen war, um mittags etwas zu essen, es würde jedoch der letzte sein. Wenn er in weniger als einer Stunde zumachte, würde er offiziell in Rente sein und nie mehr die Mittagspause durcharbeiten müssen. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass dieser Gedanke ihn zum Lächeln bringen würde, aber seine Mundwinkel weigerten sich strikt, sich auch nur im Geringsten nach oben zu bewegen. Das Kupferglöckchen ertönte und kündigte die Ankunft seiner letzten Kundin an.
»Irasshaimase.« Toshios Stimme klang wie warmer Sake, als er sich mit geübtem Lächeln verbeugte.
Aus dem Büro hinten blickte Hana um die Ecke, das Registerbuch dieses Monats unter dem Arm. Mit einer Handbewegung bedeutete Toshio ihr, sich zurückzuziehen, und widmete seine Aufmerksamkeit dann wieder der eleganten Frau, die gerade zur Tür hereingekommen war. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Die Frau sah den lächelnden Toshio verblüfft an. Durch ihren Porzellanteint wirkte sie jünger als er, aber das im Nacken zu einem losen Knoten zusammengebundene Haar war so weiß wie die Kette aus Süßwasserperlen, die sie um den Hals trug. »Tut mir leid, ich glaube, ich bin hier falsch. Eigentlich dachte ich, dass ich da draußen für das Ramenrestaurant angestanden habe.«
»Haben Sie auch«, bestätigte Toshio.
Die Frau blickte sich um. »Das hier ist aber nicht das Restaurant.«
»Nein, das ist mein Pfandhaus.«
»Haben sie das Restaurant nach oben verlegt?«
Toshio schüttelte den Kopf. »Nein.«
Die Frau legte die hübsche Stirn in Falten.
»Sie müssen müde sein, nachdem Sie so lange gewartet haben. Vielleicht würden Sie sich gern einen Moment setzen.« Toshio deutete auf seidene Kissen, die in einer Ecke des Raums rund um einen niedrigen Tisch auf dem Boden verteilt waren.
Nachdenklich legte die Frau eine Hand ans Kinn. »Ich . ich hätte schwören können, dass hier das Restaurant ist. Ich habe doch mitbekommen, wie der Mann vor mir hineingegangen ist, habe die Tische und Stühle gesehen und .« Sie senkte den Kopf und machte eine kleine Verbeugung. »Es tut mir leid, dass ich Sie belästigt habe.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Vielleicht einen Tee?«
»Danke, aber ich .«
»Bitte, ich bestehe darauf. Das macht doch keine Umstände.« Toshio kam hinter der Theke hervor und rief über die Schulter: »Hana? Bringst du bitte Tee? Wir haben einen Gast.«
Hana klappte das Registerbuch zu und erhob sich von dem Schreibtisch, der einst der Arbeitsplatz ihrer Mutter gewesen war. Sie wusste, was ihr Stichwort war, wie sie auch wusste, was der Frau jetzt durch den Kopf ging.
Tee. An diesem Punkt des Gesprächs mit ihrem Vater sannen alle Kunden über das Gleiche nach. Es war ein schlichter Gedanke, ganz klein und so leicht wie Luft, ohne scharfe Kanten, an denen man sich hätte schneiden können. Alle hatten schon einmal Tee getrunken und mussten jetzt daran denken, wie er die Zunge liebkost hatte, durch die Kehle geronnen war und die Seele gewärmt hatte. Eine Tasse Tee hatte noch nie geschadet, und ihnen kam kein einziger Grund dafür in den Sinn, die freundliche Einladung des Pfandhändlers auszuschlagen. Tatsächlich wäre eine Ablehnung sogar unhöflich, vor allem, nachdem sie versehentlich sein Pfandhaus betreten hatten. Sie versuchten, sich ihr eigentliches Ziel in Erinnerung zu rufen, spürten aber nur kalte Leere im Inneren. Und gegen die würde Tee sicher helfen. Vielleicht hatten sie in Wirklichkeit ja wegen des Tees so lange angestanden. Hana füllte einen Kessel mit Wasser und stellte ihn auf den Herd.
»Ein Tee wäre schön.« Lächelnd nickte die Frau.
»Wunderbar. Ich heiße Ishikawa Toshio.« Er deutete auf eins der Sitzkissen am Boden. »Nehmen Sie doch bitte Platz.«
»Danke.« Die Frau ließ sich auf einem Kissen nieder, dessen graue Farbe dem Tag draußen entsprach. »Ich bin Takeda Izumi.«
»Danke, dass Sie uns heute mit Ihrem Besuch beehren, Takeda-sama. Sie werden sehen, dass wir Ihnen in diesem Pfandhaus ein nicht nur faires, sondern geradezu großzügiges Angebot machen werden.«
»Aber ich bin ja gar nicht hier, um .« Izumi drehte eine Perle ihrer Kette zwischen Zeigefinger und Daumen. Sie runzelte die Stirn, so als suche sie in den Schubladen ihres Verstandes nach dem, was sie als Nächstes hatte sagen wollen.
Auf einem schwarz lackierten Tablett brachte Hana den Tee.
»Hana, darf ich dir Takeda-sama vorstellen?«, sagte Toshio.
Hana neigte den Kopf. »Willkommen in unserem Pfandhaus. Genießen Sie Ihren Tee«, grüßte sie, während sie das Tablett auf dem Tisch abstellte.
Als sie sich entfernte, meinte Izumi zu Toshio: »Sie haben eine zauberhafte Tochter, Ishikawa-san.«
»Danke, sie kommt nach ihrer .« Mit angespanntem Lächeln verstummte Toshio.
Er richtete den Blick auf den Tee und goss ihn in kleine Tonschalen. Die Schälchen hatten die Farbe der ruhigen See, aber die Glasur war von zahllosen Rissen unterschiedlicher Größe durchzogen. Wenn sie nicht mit der Kintsugitechnik repariert worden wären, wären sie längst auseinandergefallen. Mit Goldstaub und Lack ausgefüllt, überzogen die Risse die Oberfläche wie Blitze.
»Wie erlesen«, sagte Izumi und betrachtete die Schälchen bewundernd.
»Danke. Ich habe mir große Vorwürfe gemacht, als ich gestolpert bin und sie habe fallen lassen, muss aber eingestehen, dass ich letztlich für mein Ungeschick dankbar bin.« Toshio reichte Izumi ihren Tee. »Zerbrochene Gegenstände haben ihre ganz eigene Schönheit, finden Sie nicht?«
Izumi fuhr mit der Spitze eines perfekt manikürten Fingers die zarten goldenen Fugen ihrer Schale nach. »Manche können so einen Makel besser verschmerzen als andere«, sagte sie leise, so sanft, als wolle sie dem Schälchen mit ihrer Stimme auf keinen Fall weiteren Schaden zufügen.
»Ich habe bei so vielen angeschlagenen Dingen Schönheit entdecken können. Bei Stühlen. Gebäuden. Menschen.«
Izumi sah von ihrem Tee auf. »Menschen?«
»Vor allem an Menschen. Gebrochene Menschen sind auf faszinierende Art und Weise angeschlagen. Jede Blessur, jede Wunde oder Beule erzählt eine Geschichte. Unsichtbare Narben verbergen dabei die tiefsten Verletzungen und sind am interessantesten.«
Izumi drehte einen der beiden großen Diamantringe an ihren Fingern, wobei sich die Haut verzog. »Das ist eine ungewöhnliche Sichtweise, Ishikawa-san.«
»Oh, das ist mehr als nur eine Sichtweise. Es ist der Grund dafür, dass ich dieses Unternehmen führe. Dabei handelt es sich um eine etwas andere Art von Pfandhaus, Takeda-sama. Wir befassen uns nicht mit dem Verpfänden von Materiellem. Diamantringe und Perlenketten haben hier keinen Wert.«
Im Hinterzimmer lauschte Hana der Unterhaltung zwischen Izumi und ihrem Vater. Dieses Gespräch bei einem Schälchen Tee hatte sie schon unzählige Male mit angehört. Wie oft ihr Vater auch die gleichen Worte vorbringen mochte, sie klangen immer aufrichtig. Er sagte überwiegend die Wahrheit, die für die Kunden aber manchmal schwer zu akzeptieren war. Dabei empfand Hana das, was ihr Vater ihnen offenbarte, nicht als schockierende Enthüllung. Trotzdem brauchten sie immer einen Moment, um die ungläubig hochgezogenen Augenbrauen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Und das war ja auch verständlich. Jenseits der Tür des Ramenrestaurants war oben oben und unten unten, ein Pfandhaus wie das ihre existierte dort nicht. Hanas Vater verfügte über ein besonderes Talent, wie Takeda Izumi gleich am eigenen Leib erfahren würde: Während sie ihren Tee zu Ende trank, würde er sie dazu bringen, seit ihrer Kindheit bestehende feste Überzeugungen aufzugeben und ihren Geist für Dinge zu öffnen, die nicht konkret greifbar waren.
Hana kehrte zum Schreibtisch zurück und nahm ein Buch in die Hand, das dort auf einem Stapel lag. Es handelte sich um ein abgewetztes Taschenbuch, dessen Seiten sich nur noch durch schiere Willenskraft am Buchrücken festzuhalten schienen. Ein Kunde namens Ito Daisuke hatte es heute Morgen verpfändet. Hana glich den Gegenstand mit der Liste in ihrem Registerbuch ab und setzte ein Häkchen daneben, um zu vermerken, dass alles seine Ordnung hatte. Unter den Objekten, die heute ihren Weg ins Pfandhaus gefunden hatten, war ihr dieses Buch das liebste.
Hana holte die Goldrandbrille ihrer Mutter aus einer Schublade des Schreibtisches. Sie setzte die Brille auf, rückte sie zurecht und sah durch die Gläser das Buch als das, was es wirklich war: eine Entscheidung, die den Verlauf von Ito Daisukes Leben verändert hatte.
In seiner wahren Gestalt war dieser Gegenstand viel schöner als einfach nur ein Buch. Plötzlich wurden die Seiten zu flaumigen Federn aus Licht, die sich auf Hanas Finger zu einem leuchtenden Singvogel zusammenfügten. Seine Farben changierten zwischen Blau und Gold.
Dieser Singvogel hatte einst glockenhell in Daisuke gesungen, während er fünf Jahre lang nach seiner Schicht als Verkäufer in einem Konbini an einem Krimi gearbeitet...
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