Schweitzer Fachinformationen
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The Stockton Hotel, Washington, D.C.
Drei Jahre zuvor
Max
Mein Handy meldet die eingehende Nachricht mit einem lustigen Zwitschern - wodurch mich der Sprengstoff auf dem Display völlig unvorbereitet trifft:
Andrew: Alles, was du gestern gesagt hast, stimmt. Dank dir sehe ich endlich klar. Ich kann Lina nicht heiraten, und du musst es ihr sagen. Keine Sorge, sie wird damit klarkommen. Ich verschwinde ein paar Tage, um den Kopf frei zu kriegen. Sag Mom und Dad, ich melde mich bald.
Ich bin zu jung und zu verkatert für diesen Scheiß.
Mit den wenigen Hirnzellen, die das gestrige Barhopping überlebt haben, versuche ich, die kümmerlichen, mir zur Verfügung stehenden Informationen sinnvoll zusammenzufügen. Erstens: Mein großer Bruder Andrew, der Es-allen-Rechtmacher par excellence, bei dem immer alles nach Plan läuft, soll heute Morgen heiraten. Zweitens: Er ist nicht in unserer Hotelsuite, was bedeutet, er muss abgehauen sein, nachdem ich gestern Nacht eingepennt bin. Und drittens: Er macht niemals Witze, egal worüber - der Stock in seinem Arsch verhindert, dass er überhaupt je Spaß hat. Wie auch immer ich die einzelnen Puzzleteile hin und her schiebe, sie wollen einfach nicht zusammenpassen.
Oder könnte es sein, dass Andrew plötzlich doch einen - zugegeben fürchterlichen - Sinn für Humor entwickelt hat? Gott, ich kann es nur hoffen.
Ich kämpfe mich aus dem Laken, das sich um meinen Oberkörper gewickelt hat, setze mich auf und tippe eine rasche Antwort ein.
Ich: Das ist nicht witzig. Melde dich. Sofort.
Er reagiert nicht, also rufe ich ihn an. Als ich direkt auf der Mailbox lande, akzeptiere ich, dass er nicht erreicht werden will, und wünsche ihm eine gute und zügige Reise direkt in die Hölle.
Keine Sorge? Sie wird damit klarkommen? Mein Bruder ist ein Vollpfosten, falls er glaubt, Lina würde nicht ausrasten, wenn sie hört, dass er heute nicht auftauchen wird. Und während ich mir ihre Reaktion in den schönsten Farben ausmale, wird mir plötzlich bewusst, was Andrew noch geschrieben hat, und das flaue Gefühl in meinen Eingeweiden verstärkt sich: Alles, was du gestern gesagt hast, stimmt. Dank dir sehe ich endlich klar. Dummerweise kann ich mich kaum an gestern Abend erinnern - eine ganze Flasche Tequila kann das Kurzzeitgedächtnis durchaus beeinträchtigen -, ganz zu schweigen davon, mich an den Schwachsinn zu erinnern, den ich mit meinem Bruder in seinen letzten Stunden als Junggeselle verzapft haben mag. Wenn ich allerdings raten müsste, habe ich vermutlich verkündet, dass das Singledasein dem eines Ehemanns selbstverständlich vorzuziehen sei, und so getan, als sei ich ihm im Spiel des Lebens um Längen voraus.
Ich bin fünfundzwanzig. Er ist mein Bruder. So gehen wir eben miteinander um.
Herrgott. Ich lasse mich aufs Bett zurückfallen und überlege, was zu tun ist. Jemand muss die Braut aufklären. Meine Mutter ist keine Option. Sie ist taktlos. Auf dem zwanzigsten Hochzeitstag meiner Eltern hat sie meiner Großmutter - und einem ganzen Saal voller Gäste - erklärt, dass sie nur deshalb gezögert habe, meinen Vater zu heiraten, weil sie befürchtet hatte, er könne ein Muttersöhnchen sein, da Grandma Nola ihn viel zu lange an ihren Titten hatte nuckeln lassen. O-Ton. Mein Vater dagegen würde sofort den Investigativreporter herauskehren und sich auf eine übergriffige Wahrheitsfindungsmission begeben, um zu klären, wieso mein Bruder seine Verlobte sitzengelassen hat. Und, ja, dieses eher ungeschickte Verhalten würde die Lage noch schlimmer machen. Das weiß ich aus erster Hand - es ist einer der Gründe, warum unsere Eltern sich vergangenes Jahr haben scheiden lassen. Da meine große Klappe nun aber anscheinend mitverantwortlich dafür ist, die jetzige Verkettung unglücklicher Ereignisse ausgelöst zu haben, bin ich wohl derjenige, der in der Pflicht ist. Aber verdammt nochmal, ich will nicht.
Ich massiere mir meine pochenden Schläfen, dann quäle ich mich aus dem Bett und humpele zum Bad. Als ich mir Minuten später die Zähne putze und dabei tunlichst mein unrasiertes, rotäugiges Spiegelbild ignoriere, zwitschert mein Handy erneut. Andrew. Ich spucke das Mundwasser aus, stürze zurück ins Zimmer und schnappe mir das Handy vom Nachttisch - nur um enttäuscht zu werden. Eine Nachricht von meinem Vater.
Dad: Schwingt euern Hintern runter. Dein Bruder kommt zu spät zu seiner eigenen Trauung, wenn er nicht in fünf Minuten hier ist.
Alles in mir erstarrt. Atome, Blutfluss, das volle Programm. Vielleicht bin ich vorübergehend klinisch tot. Denn um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, habe ich offenbar verschlafen, wodurch ich mir jede Chance verbaut habe, die Gäste abzufangen, ehe sie ankommen, und ich diesen Kacktag noch eine Nuance bescheidener mache.
Das Plärren aus dem hoteleigenen Digitalwecker reißt mich aus meiner Betäubung und malträtiert meinen Schädel. Ich schlage auf die Austaste und starre mit verengten Augen auf das winzige Snooze-Icon am Rand des Displays, das mich verhöhnen will. Im Ernst jetzt? Nie wieder trinken! Ah, nein, Moment, das geht jetzt vermutlich ein bisschen zu weit. Besondere Gelegenheiten. Ja, genau. Das geht. Von jetzt an trinke ich nur noch zu besonderen Gelegenheiten. Gilt die Pflicht, eine Braut darüber zu informieren, dass der Bräutigam nicht zur Hochzeit erscheint, als so eine Gelegenheit? Vermutlich eher nicht. Wäre es mir anders lieber? Fuck ja.
Lina
Mitleid. Das ist es, was ich in Max' whiskybraunen Augen erkenne. In seiner niedergeschlagenen Haltung. In seinem Versuch, nicht bedauernd die Lippen zusammenzupressen.
Ich bedeute ihm einzutreten. »Was ist los?«
Meine Stimme ist exakt so, wie sie sein sollte: Ruhig. Gleichmäßig. Tatsächlich überwache ich meinen täglichen emotionalen Output wie andere ihre Kalorienzufuhr, und da meine Mutter und ich soeben ein paar sehr tränenreiche Minuten miteinander verbracht haben, sind mir entweder gerade die Gefühle ausgegangen, oder ich stehe kurz davor, das heutige Pensum zu überschreiten.
Max marschiert bis in die Zimmermitte und wendet sich dann langsam zu mir um, wobei er am Kragen seines Button-down-Hemds herumfummelt. Das ist übrigens das deutlichste Anzeichen, dass etwas nicht stimmt: Er trägt nicht den hellgrauen Anzug, den Andrew für seine Trauzeugen ausgesucht hat.
Ich versuche es mit einer anderen Frage. »Ist mit Andrew alles okay?«
Wenn Max hier ist, kann es ja nicht so schlimm sein. Ich kenne ihn zwar nicht besonders gut - er wohnt in New York und war bei den meisten vorhochzeitlichen Feiern nicht dabei -, aber Andrew hat außer ihm keine Geschwister, und wenn etwas Schlimmes passiert wäre, wäre er doch jetzt bestimmt bei seinem großen Bruder, oder nicht? Na ja, wenn man bedenkt, dass Max erst Andrews dritte Wahl als Trauzeuge war (nachdem eins und zwei höflich abgelehnt haben), erschließt sich das vielleicht doch nicht zwingend.
Max zieht die Brauen zusammen, und die daraus entstehenden Falten auf seiner Stirn erinnern mich an kleine Kräuselwellen. »Ja, klar, Andrew geht's bestens. Das ist es nicht.«
Ich presse mir die Hand auf den Bauch und atme bebend aus. »Okay, gut. Worum geht's dann?«
Er schluckt. Hart. »Er kommt nicht. Zur Hochzeit, meine ich. Er meint, er kann das nicht.«
Ein paar Sekunden lang kann ich nur blinzeln und verarbeiten. Und das tue ich. Blinzeln und verarbeiten. Gott! Die ganze Vorbereitung. Die Gäste. Die Familie, die von nah und fern angereist ist. Ich male mir die Folgen aus und schaudere. Meine Mutter und meine Tanten werden toben. Ehe die Sonne untergeht, werden sie Suchtrupps zusammengestellt haben, um Andrew zu finden und ihm mit der präzisen Choreographie und der mühelos synchronen Eleganz einer Profishowtruppe in die Eier zu treten. Und bei ihrem unternehmerischen Geschick würde es mich nicht wundern, wenn sie das Ganze »Nussknacker« nennen und dafür Tickets verkaufen.
Max räuspert sich. Das abgehackte Geräusch unterbricht meinen Gedankenstrom, und nun wird mir das Ausmaß des Ganzen erst richtig bewusst.
Ich werde heute nicht heiraten.
Meine Kehle zieht sich zu, meine Brust verengt sich. O nein, nein, nein. Reiß dich zusammen. Du bist Profi darin, du kannst das. Ich ringe mit den Tränen und ramme sie in ihre Drüsen zurück.
Max rückt ein Stückchen näher an mich heran. »Was kann ich tun? Soll ich dich in den Arm nehmen? Brauchst du eine Schulter zum Ausweinen?«
»Ich weiß nicht, was ich brauche«, sage ich heiser und leider nicht so unerschütterlich, wie ich zu klingen gehofft habe.
Sein trauriger Blick begegnet meinem. Er breitet die Arme aus, und in meinem verzweifelten Wunsch nach menschlichem Kontakt lasse ich mich an ihn ziehen, um mich weniger . verloren zu fühlen. Er umarmt mich nur leicht, und ich spüre instinktiv, dass er sich zurückhält, als befürchte er, mich versehentlich in die Tiefe zu ziehen, anstatt mich über Wasser zu halten. Vage wird mir bewusst, dass Max sich feucht anfühlt, vermutlich kommt er gerade aus der Dusche, und erstaunt registriere ich, dass er nach nichts duftet. Einen kurzen Moment lang überlege ich, ob mein Geruch wohl an ihm haften wird, wenn er das Zimmer verlässt, und dann überlege ich einen ebenso kurzen Moment, ob ich wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank habe.
»Alles okay?«, flüstert er.
Ohne mich zu regen, denke ich über seine Frage nach. Eigentlich müsste ich zutiefst verletzt sein und...
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