Inhaltsverzeichnis Die Revolution
Von ihr war seit Längerem die Rede gewesen. Für mich ereignete sie sich nicht erst an jenem sonnigen Februartag, sondern schon eines Abends im Winter. Ich hatte mit Madame Panaget in einem Ausmalbuch gemalt, ein bisschen auf dem Klavierflügel herumgeklimpert und Milch getrunken, dazu ein paar meiner Lieblingskekse, Marke »CIY&Co.«, verspeist. Blieb nur noch, Mama das Gutenachtgebet aufzusagen und schlafen zu gehen. Aber da kam Vater nach Hause und trat, noch im Pelzmantel, vor Mama hin.
»Das war's. Die Duma existiert nicht mehr«, sagte er finster. Mama stand schweigend auf.
»Miljukow und Rodsjanko haben erreicht, was sie wollten«, fuhr Vater fort, während er dem Zimmermädchen seinen Mantel in die Arme warf und sich erschöpft in den Sessel fallen ließ. »Sie haben der Duma das Grab geschaufelt, diese Schurken. Und sie hineingestoßen.«
Er schlug mit der Faust auf die Sessellehne.
Mir lief es kalt den Rücken hinunter: Die Duma, dieser unsichtbare Riese Pazjuk, der zwei Jahre mit uns gewohnt hatte, sollte auf einmal tot und verbuddelt sein.
»Und was wird nun, Dmitri?«, fragte Mama.
»Revolution!«, verkündete Vater kopfschüttelnd; es klang düster, doch mit einer Art grimmigem Stolz.
Und ich mit meinen acht Jahren malte mir diese rätselhafte, bedrohliche Revolution als Schneekönigin aus, die auf dem Gipfel eines von den roten Schaben kahl gefressenen Serpentinenberges thronte.
War das Leben in Petrograd schon vor der Revolution hektischer gewesen als anderswo, so drehte es nun völlig durch. Mit einem Mal waren noch viel mehr Leute da, die Straßen beinahe immer verstopft. Nicht nur mit dem Auto war kein Durchkommen, auch die Kutscher hatten ihre Mühe. Und wieder gab es neue Worte zu lernen: Sowdep[6], revolutionäre Massen, Provisorische Regierung, Schlangestehen. Dieser vorher nicht gekannte Sowdep hatte sich nach Vaters Aussage im Taurischen Palast eingenistet, und seine erste Amtshandlung war, sämtliche Weinvorräte auszusaufen und die Silberlöffel aus dem Restaurant zu stehlen. Die revolutionären Massen strömten des Öfteren unter unserem Fenster vorbei, die Provisorische Regierung war ein ständiger Gesprächsgegenstand selbst bei den Köchinnen in unserer Küche, und die Brotschlangen wurden lang und länger. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum die Leute nach Brot anstanden. Die Erklärung der Erwachsenen, es sei nicht genug Brot für alle da, stellte mich nicht zufrieden: Getreide gab es doch in rauen Mengen, die Kornfelder der Ukraine waren endlos groß! Ich war mir sicher, dass Brot genauso unbegrenzt vorhanden war wie Wasser und Himmel. Bei uns zu Mittag blieb jedenfalls immer welches übrig.
Über die Bettler auf den Straßen - »Eine milde Gabe für einen Kanten Brot!« - wunderte ich mich genauso sehr.
Der Sommer 1917, den wir in Waskelowo verbrachten, war wunderschön und wollte lange nicht enden. In keinem zuvor hatte ich mich so behaglich und ungebunden gefühlt. Es war, als würde ich Abschied nehmen vom sorglosen Wohlleben meiner Kindheit, das sich aus diesem Anlass noch einmal in seiner ganzen Pracht und Fülle zeigte: die schwarzen Riesenfichten, der stille See, die Beeren im Wald, der Mittagsschlaf auf der Veranda, das arglose Lachen der Schwestern, die perlenden Läufe auf dem Klavier, die Regenbögen.
Als der Sommer vorüber war, kam ich ans Gymnasium. Um genau zu sein: Ein Chauffeur mit dem komischen Namen Kudlatsch fuhr mich dorthin, Tag für Tag im blauen Automobil. Ins Gymnasium am Krjukow-Kanal gingen vorzugsweise Kinder reicher Leute. Man ließ sich aber nicht bis vors Tor fahren; dies galt als unschicklich. Die Wagen hielten in einiger Entfernung, das restliche Stück lief man zu Fuß. So war es üblich.
Den Unterricht fand ich interessant. Die Lehrer hier hatten mit dem graumausigen Didenko und der stillen Madame Panaget so gar nichts gemein. Sie sprachen wohlgesetzt und zusammenhängend. Am besten gefielen mir der immer fröhliche Mathematiklehrer Terenti Valentinowitsch, der kleine, aber unerhört agile Turnlehrer Monsieur Jacob, genannt: Petit Napoléon, und die etwas laute, immer stark nach Rosenöl duftende Französischlehrerin Jekaterina Samuilowna Babizkaja. Der Direktor des Gymnasiums, Kasimir Jefimowitsch Krebs, ein Hüne mit ungeheuer großem Kopf, Rauschebart, drei Fingern an der linken Hand und einer dumpf rollenden Bassstimme, den die Schüler Nebukadnezar nannten, weckte in mir ein gemischtes Gefühl aus Furcht und Begeisterung.
Doch es war noch kein Vierteljahr meiner Gymnasialzeit vergangen, als eine neue Revolution sich ankündigte. Vater nannte sie das bolschewistische Chaos und prophezeite: »Die Brut hält sich nicht lange.«
Womit er sehr im Irrtum war.
An der Revolution No. 2 war alles anders: Diesmal waren es ausschließlich Soldaten und Matrosen, die durch die Straßen gerannt, galoppiert oder auf Pritschenwagen gefahren kamen. Jeder mit einem Gewehr. Die Einwohner wichen respektvoll zurück, sahen zu, dass sie in der Nähe ihrer Häuser blieben. Nachts waren Schüsse zu hören.
Die Zeit schien sich zu spannen wie ein Flitzbogen. Und schnellte auf einmal los, dass einem Hören und Sehen verging: Menschen, Ereignisse, Jahreszeiten, alles geriet durcheinander.
Trotz des »bolschewistischen Chaos« ging der Unterricht am Gymnasium noch bis zum Frühjahr 1918 normal vonstatten. Zu seinem Abbruch führte ein sehr einfacher Umstand: Der größte Teil der Schüler war mit den vermögenden Eltern inzwischen aus Petersburg, wenn nicht überhaupt aus Russland geflohen.
Unsere Familie war erst im Juli reif zum Davonlaufen. Bis dahin hatte es einschneidende Veränderungen gegeben: Ilja, der schon am Gymnasium ein Faible für den Marxismus entwickelt hatte, war bei den Bolschewiken gelandet. Mit dem Vater hatte er sich überworfen. Mama ließ er über Dritte ein paar Briefe zukommen; darin stand, er kämpfe jetzt für ein freies Russland. Dann hörte man von ihm gar nichts mehr. Wassilissa war zielstrebig die Ehe mit einem schweigsamen, hakennasigen Oberleutnant eingegangen, der wegen einer Kriegsverletzung (Schuss ins linke Knie) aus der Armee ausgeschieden war; ebenso schnell war sie mit ihm von dannen gezogen - auf die Halbinsel Krim, zur Schwiegermutter.
Vater, der mittlerweile alles verloren hatte, was er in Russland besaß, dachte nun zum ersten Mal daran, mit uns nach Warschau umzuziehen. Er habe dort »eine kleine Sache« - ob er damit ein Haus meinte oder ein Geschäft, weiß ich bis heute nicht. Dann sollte es auf einmal noch weiter gehen, bis nach Zürich, da habe er »etwas liegen«. Der Bankier Rjabow und seine Familie waren gleichfalls nach der Schweiz gezogen, wo sie noch vor Ausbruch der Revolutionen ein Haus erworben hatten. Im Sommer 1918 führte der Weg nach Westeuropa über Kiew. Ein gewisser Dymbinski, der einen kleinen Schnurrbart unter der Nase hatte, sollte zuerst Mama und die Schwestern nach Warschau bringen, dann Wanja und mich mit dem Vater, der noch ein paar Wochen in Petersburg ausharren wollte, um »ein paar Sachen zu regeln«. Diese vierzehn Tage sollten unserer Familie zum Verhängnis werden. Denn kaum waren Mama, Nastja und Arischa weg, als Wanja an Bauchtyphus erkrankte. Er lag einen Monat flach, bevor er sich glücklicherweise berappelte; stark abgemagert und mit extrem gelber Haut. Dann wurde Vater von der Tscheka abgeholt. Drei Monate gab es keine Nachricht von ihm. Mamas Schwester, die fromme Tante Flora, nahm Wanja und mich in ihrer Wohnung am Moika-Kanal auf und hielt jeden Tag Fürbitte für den verhafteten Vater. Und das Wunder geschah: Er kam frei. Gebeugt und mit ergrautem Haar. Behauptete aber, er sei in den drei Monaten kein einziges Mal ins Gesicht geschlagen worden.
So war es bereits Winter, als wir in Kiew eintrafen. Wir ließen uns in Lipki nieder, einem reichen, gepflegten Viertel, wo Papas Bruder eine große Wohnung hatte. Onkel Juri war Vaters absoluter Antipode: schnell zu begeistern, unbesonnen und laut; fest gewillt, sein geliebtes Kiew nicht zu verlassen, nahm er uns bei sich auf, als wäre an Krieg und Revolution überhaupt nicht zu denken gewesen. Der Tisch brach schier unter der Last des fetten ukrainischen Essens, der tadellos gekleidete Diener schenkte Champagner ein, während der Onkel, etwas schmaler und grauhaariger als früher auch er, in einem fort redete und auf das Wohl eines mir unbekannten Hetmans anzustoßen wünschte. Nach den Brotschlangen zu Hause mochte man ob der Fülle auf diesem Tisch seinen Augen nicht trauen. Am kuriosesten aber war, dass Mama und die Schwestern, nachdem sie die längste Zeit bei Onkel Juri gewohnt hatten, Anfang November nach Warschau aufgebrochen waren. Ob sie dort wohlbehalten angekommen waren, wusste niemand. Fest stand nur, dass dort auch die Revolution ausgebrochen war und Pilsudski die Unabhängigkeit erklärt hatte. Der Vater war erbost: Brüllte den Onkel an, titulierte ihn einen »Waschlappen«, stampfte mit dem Fuß auf. Onkel Juri suchte ihn zu beschwichtigen, so gut es ging. Er wolle sich beide Hände abhacken lassen, beteuerte er, wenn Mama und die Schwestern nicht am Leben und in Sicherheit seien. Onkel Juri war der erklärte Liebling von uns Kindern. Eine eigene Familie hatte er nicht, war ein unverbesserlicher Junggeselle. Uns himmelte er geradezu an. Und wir liebten ihn wie einen zu groß gewachsenen Altersgenossen und Spielkameraden. Wanja und Ilja hatten ihm schon vor langer Zeit einen komplizierten Spitznamen verpasst. Er entfuhr dem Onkel ganz von selbst jedes Mal, wenn er bei uns in Petersburg zu Besuch war. Denn als Freund gepflegter Restaurationen und Kaffeehäuser suchte er Vater stets noch am ersten Abend zu überreden, mit ihm »irgendwohin«...