Schweitzer Fachinformationen
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Was es bedeutet, von heute auf morgen seine Heimat zu verlieren, erzählt Gabriele Sonnberger fesselnd und einfühlsam in ihrer von wahren Begebenheiten inspirierten Saga um eine böhmische Familie. Es ist das Jahr 1929, und im Rheinland herrscht Hungersnot. Die fünfjährige Erika wird von ihren Eltern schweren Herzens zu ihrer Tante Mimi ins südböhmische Hohenfurth geschickt, ohne zu wissen, wann sie ihre Familie wiedersehen wird. In der Obhut der strengen Tante wächst Erika zu einer selbstbewussten jungen Frau heran und findet in ihren Schulkameradinnen Emmi und Oli Freundinnen fürs Leben. Mit der Besetzung des Sudetenlandes 1938 ist die vertraute Idylle in Hohenfurth plötzlich bedroht. Und doch scheint Erikas Traum von einer glücklichen Zukunft zum Greifen nahe, als sie sich in den feschen Marineoffizier Heinz verliebt. Bis eines Tages sämtliche deutschen Bewohner Hohenfurths den amtlichen Befehl erhalten, sofort das Land zu verlassen. Doch dieses Mal ist Erika fest entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen ...
Der neue Pullover kratzte am Hals, aber Erika beschwerte sich nicht. Mama hatte ihn extra für die Reise gestrickt, obwohl sie doch so viel zu tun hatte. Außerdem war sie die letzten Tage immer wieder traurig und hatte heimlich geweint, wenn sie dachte, dass Erika es nicht merkte. Da wollte sie ihre Mama nicht kränken. Auf dem Bahnhof in Köln war ein schreckliches Gewühl, und Erika hielt sich an ihrer geflochtenen Umhängetasche fest. Die andere Hand steckte in der geschlossenen Faust ihrer Mutter.
Dicht hinter den beiden hielten sich Erikas Geschwister und ihr Vater an den Händen, um einander nicht zu verlieren. Toni war ihr richtiger Bruder. Eigentlich hieß er Anton, aber so nannte ihn Mama nur, wenn sie sich über ihn ärgerte. Doch das passierte nur ganz selten. Erika war mächtig stolz auf ihn, weil er schon zur Schule ging und richtig schlau war. Die drei Mädchen waren viel älter. Monika, Netta und Luise. Paps hatte sie mitgebracht, denn vor Mama war er mit einer anderen Frau verheiratet gewesen, die gestorben war. Erika hatte ihre Stiefschwestern aber nicht weniger lieb als Toni. Kurz überfiel sie die Sorge, dass sie ihre Geschwister doch sehr vermissen würde. Aber die Aufregung wegen der bevorstehenden Reise vertrieb den Gedanken gleich wieder.
Jetzt war er also gekommen - der Tag, an dem sie zu ihrer Tante in den Böhmerwald verschickt werden sollte. Erika war die Hungersnot nicht anzusehen, die das Rheinland seit dem Ende des Krieges fest im Griff hielt. Ihre kurzen Arme und Beine waren pummelig, und im rotbackigen runden Gesicht, umrahmt von einem dunklen Pagenkopf, blitzten blaue Augen, die alles ganz genau beobachteten. Aber Mama hatte gesagt, dass es bei der Tante etwas Besseres als jeden Tag nur Erdäpfel zu essen geben würde.
Olga hievte ihr kleines Mädchen mit Schwung auf die Hüfte. »Tante Mimi wird gut für dich sorgen. Und zum nächsten Osterfest bist du wieder zu Hause.« Zwischen zwei Küssen drückte sie ihre Wange gegen das kleine Gesicht. Dann ließ sie Erika wieder zu Boden gleiten und hockte sich auf Augenhöhe vor sie.
»Sei brav, Erimaus. Und mach, was die Tante dir aufträgt.«
Eine Durchsage dröhnte durch die Halle. Erschrocken schaute Olga zur großen Bahnhofsuhr an der gläsernen Stirnseite. Eilig erhob sie sich und holte aus einem Köfferchen ein Pappschild heraus, das sie mit einer gedrehten Kordel um Erikas Hals befestigte.
Erika Binder, 5 Jahre, Ankunftsbahnhof: Eger
Darunter hatte sie in ihrer akkuraten Handschrift noch den Namen und die Adresse ihrer Schwester geschrieben.
Maria Minich. Hohenfurth Nummer 41.
Unter dem Pullover trug Erika einen Brustbeutel, in dem mehrere Fotografien auf dicker Pappe steckten. Sie konnte die harten Kanten spüren. Es waren Bilder von Mama und Papa, von Toni und ihren drei Stiefschwestern. Und ganz vorne lag das Foto von Tante Mimi.
»Hörst du? Steig nicht aus dem Zug, wenn er zwischendurch Halt macht.« Sie deutete auf den stählernen Koloss, der eben mit lautem Schnauben und Stampfen auf dem Gleis neben ihnen zum Stehen gekommen war. »Bei jeder Station wird eine Dame von der Fürsorge nach dir schauen. Sei artig und bedank dich schön, wenn sie dir etwas zu essen gibt. Und lass dich von niemandem sonst ansprechen. Und geh mit niemandem mit, den du nicht kennst!«
Mamas Hände legten sich um das kleine Gesicht, das sich schon wieder in alle Richtungen drehte. »Hast du auch richtig zugehört?«
»Ja, sicher, Mama.« Automatisch fingerte Erika nach dem Brustbeutel und prüfte zum hundertsten Mal, ob er sich noch an seinem Platz befand.
»Bist du traurig, weil ich wegfahre?«
Die Augen ihrer Mutter glänzten verdächtig, aber ihr Mund zog sich zu einem Lächeln auseinander. »Mach dir keine Gedanken, meine kleine Maus. Ich komm schon zurecht ohne dich.« Dabei zerstrubbelte sie ihren Pagenkopf. »Auch wenn mir dein Geplapper und deine ewige Fragerei jetzt schon fehlen.« Sie lachte, und Erikas Herz klopfte schneller. Sie mochte es so gern, wenn Mama lachte. Das tat sie viel zu selten.
Noch einmal ging die Mutter vor ihr in die Hocke. »Tante Mimi holt dich in Eger am Bahnhof ab. Und damit du sie auch sicher findest, wird sie einen Stoffbären hochhalten. Schau also nach dem Teddy. So wirst du die Tante nicht verfehlen.«
Dann ging alles ganz schnell. Begleitet von einem langgezogenen Pfiff stieß die Lok eine riesige Dampfwolke aus. Hektik erfasste die kleine Gruppe auf dem Bahnsteig. Noch einmal wurde Erika reihum gereicht, und jeder drückte das Mädchen an sich. Der Vater steckte ihr ein Päckchen zu. Monika, Netta und Luise schluchzten mindestens so herzzerreißend wie Toni, der zwar zwei Jahre älter als Erika war, sich aber an den Rockzipfel der Mutter klammerte, als befürchtete er, im letzten Moment gegen seine Schwester eingetauscht zu werden.
Mama begleitete Erika noch bis zu ihrem Sitzplatz und drückte sie ein letztes Mal an sich. »Ich hab dich lieb, meine Erimaus.« Ihre Stimme war kaum zu verstehen, so tief vergrub sie ihr Gesicht im Haarschopf ihrer Tochter. Eine dichte Wolke Dampf, vom Lokführer abgelassen, rief mit einem ungeduldigen Pfiff zur Eile. Mit einem Ruck riss Olga sich von Erika los und hastete zum Ausgang. Das Mädchen presste ihre Nase gegen die Fensterscheibe. Kaum war die Mutter wieder draußen neben dem Rest der Familie aufgetaucht, stampfte der Zug auch schon aus dem Bahnhof. Schnell wurden die Personen kleiner, und Erika winkte, solange sie noch etwas von den flatternden weißen Taschentüchern erkennen konnte.
Mit einem Seufzer ließ sie sich auf den Sitz plumpsen und holte aus dem Brustbeutel die Fotos hervor. Tante Mimi blickte ihr streng entgegen. Wochenlang hatte sie es mit ihrer Mama immer wieder studiert, und Mama hatte ihr viel von ihrer zwölf Jahre älteren Schwester erzählt. Erika war sich nicht sicher, ob es ihr so einfach gelingen würde, sie »Tante Mimi« zu nennen, wie Mama es ihr vorgeschlagen hatte. Irgendwie klang das zu sanft. Die Frau in dem eng anliegenden Kostüm hatte ihre grauen Augen auf den Fotografen gerichtet. Die schmalen Lippen waren aufeinandergepresst, die Locken um die eingefallenen Wangen wirkten wie einzeln um das Gesicht geordnet. Der saubere weiße Spitzenkragen umschloss hoch den dürren Hals, und direkt unter dem ersten Blusenknopf steckte eine filigrane Brosche, die mit alten böhmischen Granaten besetzt war.
»Die hat unserer Mutter gehört.« Mama hatte leise geseufzt, als Erika mit ihrem Zeigefinger darauf gedeutet hatte. »Bald wirst du sie ganz aus der Nähe anschauen können.«
Vorsichtig verstaute Erika die Bilder wieder in dem Beutel und holte stattdessen einen kleinen Zeichenblock und den Bleistiftstummel hervor, den Mama in letzter Minute noch dazugesteckt hatte. »Damit du während der langen Fahrt etwas zu tun hast«, hatte sie gemeint und ihr dabei liebevoll übers Haar gestrichen. Mama wusste eben, wie gerne ihre Jüngste zeichnete. Erika wollte für Tante Mimi einen Blumenstrauß malen. Kurz war sie unglücklich darüber, dass sie nicht auch ihre Buntstifte hatte einstecken dürfen, doch sie hatte einsehen müssen, dass der Brustbeutel dafür einfach zu klein war. Fürs Erste musste eben eine Zeichnung reichen.
Eine Stunde später blickte sie zufrieden auf das Bild in ihrem Schoß. Die Tante würde sich bestimmt darüber freuen.
Dann erinnerte Erika sich an das Päckchen, das Papa ihr zugesteckt hatte. Mit geschickten Fingern öffnete sie die Schnur und wickelte vorsichtig das Papier ab. Eine dicke Stange Lakritze fiel ihr in den Schoß. Während sie die zähe Masse mit der Zunge gegen den Gaumen drückte, wo sie langsam zerging, schloss sie genüsslich die Augen. Die herbe Süße strömte vom Mund in ihren ganzen Körper.
»Nürnberg Hauptbahnhof!«
Das gleichmäßige Rattern hatte Erika in den Schlaf gewiegt, doch neue Mitreisende weckten sie auf. Aufgeregt verfolgte sie durch das Fenster, wer die Eisentreppe hochkletterte. Erst konnte sie hinter dem wehenden Mantel einer rundlichen Frau nur einen Wust langer blonder Locken erkennen, die unter einer Schiebermütze hervorquollen. Die Tür zum Waggon schlug auf, und Erika lächelte erwartungsvoll. Wie gerne hätte sie für die Fahrt eine Freundin, mit der sie sich unterhalten könnte.
»Grüß dich! Möchtest du dich zu mir setzen?« Sie patschte mit der Hand auf den Platz neben sich und blinzelte unsicher dem türkisen Blick entgegen, der sie unverblümt musterte. Der verkniffene Mund bildete einen irritierenden Kontrast zu dem engelsgleichen Gesicht, und Erika zog ihre Hand zurück. Die Frau schob das Kind zu den Sitzen auf der anderen Seite des Gangs. Erika sah, wie sie nach draußen deutete, wo ein Mann eine Hand zum Winken hob, sie wieder sinken ließ und sich zum Gehen wandte, bevor der Zug sich in Bewegung setzte. Das blonde Kind starrte währenddessen nur reglos auf den Boden und wippte mit den Schuhspitzen, bis der Zug wieder Fahrt aufgenommen hatte. Erika beobachtete die beiden neu Zugestiegenen aus den Augenwinkeln. Warum sprachen sie nicht miteinander? War das Kind womöglich stumm? Als die Frau nach einer Weile den Waggon verließ, nahm Erika einen neuen Anlauf.
»Wohin fährst du denn?«
Ein Knurren drang zwischen kaum bewegten Lippen hervor.
»Das geht dich nichts an.«
Erika schluckte. Aber trotz der harschen Abfuhr wollte sie nicht so schnell aufgeben. Immerhin hatte sie eine Antwort erhalten.
»Ich bin auf dem Weg zu meiner Tante in Hohenfurth.«
»Na, das ist aber ein Zufall. Wir wollen auch nach Hohenfurth.« Unbemerkt...
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