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1922
Gerade hatte Magda noch den verrückten neuen Tanz ausprobiert, den Tango, bei dem sie Kuno von einer ihr noch unbekannten Seite erlebt hatte. Der Rhythmus war noch in ihrem Blut, die ungewohnten Bewegungen, bei denen sie dem Mann mal ganz nah und dann wieder von ihm entfernt war. Diese unglaubliche Spannung, die sich daraus ergab. Ein ganz neues Gefühl, in das sie sich so gern hätte weiterhin fallen lassen.
»Ein Messerangriff? Auf unsere Doris?« Es war, als hätte jemand in die Hände geklatscht und einen schönen Traum abrupt beendet. Schlagartig war sie wieder Ärztin, zwar im Abendkleid, aber von ihrem Beruf eingeholt.
An Kunos Seite schob sie sich gemeinsam mit der Reporterin Erika Hausner, die ihr die Hiobsbotschaft überbracht hatte, durch die Masse der Feiernden. Das neue Jahr war erst wenige Minuten alt. Der Silvesterball im »Admiralspalast« war bislang so prunkvoll, so einzigartig gewesen! In diesem Moment erschien Magda alles unwirklich. Frauen mit tiefrot angemalten Lippen lachten ausgelassen, Schmuck glitzerte im Licht der Kristalllüster. Herren im Frack schwenkten Champagnergläser. Küsse wurden auf eine Weise getauscht, wie man es sonst nie und nimmer vor aller Augen tat. Es duftete nach teuren und billigen Parfüms, Stimmen schwirrten und die Kapelle setzte ausgerechnet jetzt zur Tritsch-Tratsch-Polka an. Geigen, Saxofon und Flöten schufen Klangwellen, die abrupt abebbten und wieder aufbrandeten. Die Menschenmenge wogte; es war kaum ein Durchkommen.
»Polizei! Machen Sie Platz!« Kuno legte die Autorität eines Kommissars in seine Stimme, um den beiden Frauen den Weg zu bahnen.
Ein Stück von der belebten Tanzfläche entfernt, nahe den Séparées, in die Paare sich diskret zurückziehen konnten, ging das Parkett über in schwarz und weiß gefliesten Boden, ein dezentes Muster durchzog den Stein. Und jetzt, wo sich die Menge vor ihr teilte, sah Magda das Blut. Es trat auf Hüfthöhe aus dem weißen Ballkleid, in dem seine Besitzerin auf den kalten Fliesen lag. Magda dachte noch: Woher hat Fräulein Doris denn so plötzlich dieses wundervolle Kleid? Gerade eben war sie noch eine heißblütige Tangotänzerin in leuchtendem Rot gewesen.
Dann sah sie den Blick des Mädchens voller Verzweiflung und Angst, der bereits ein wenig irrlichterte. Wie es bei Verletzten der Fall war, die in Panik um ihr Leben rangen. Und Magda kämpfte gegen die Angst an, die sie urplötzlich selbst empfand. Ein Gefühl, das sich einer Ärztin nie bemächtigen durfte, denn eine Medizinerin brauchte einen klaren Kopf, um zielgerichtet zu handeln. Und so war sie doch auch sonst!
Stattdessen sah sie Fräulein Doris, die ihr in der »Pension Bleibtreu«, in der sie beide wohnten, ein Kleid zeigte: »Sehe ich darin nicht aus wie ein Glanz?« Ein Glanz zu werden, jemand, der alles und alle überstrahlte. Für diesen großen Traum war das Mädchen vor einem Jahr nach Berlin gekommen.
»Frau Doktor, Sie sind da. Dann wird alles gut.« Die Stimme der Verletzten war schwach, aber ihr Lächeln wie immer voll großer Zuversicht. Auch dieser entsetzliche Augenblick konnte ihr den unerschütterlichen Glauben an eine Wende zum Positiven nicht rauben.
»Ich sterbe doch nicht, Frau Doktor?« Doris schloss die Augen, als hätte sie beschlossen, dass dies der richtige Zeitpunkt war, um die Bühne zu verlassen.
»Lassen Sie mich durch! Ich bin Arzt!« Ein stattlicher Mann im Frack drängte durch die Umstehenden nach vorn.
Das neue Jahr war gleich zwei Stunden jung, wie die Uhr vor dem Operationssaal anzeigte. Eine Diakonisse hatte Magda einen Stuhl gegeben, damit sie sich setzen konnte, was eine keineswegs selbstverständliche Liebenswürdigkeit war. Gebrauch hatte sie davon kaum gemacht. Sie lief in dem schmucklosen Gang hin und her. Warten, was sonst konnte sie tun? Sie war Ärztin für Frauen- und Kinderheilkunde, keine Chirurgin.
Zum Glück hatte sich der so entschlossen einschreitende Herr im Frack als solcher erwiesen. Der hatte nach einem kurzen Blick auf Doris' Zustand mit offenbar befehlsgewohnter Stimme gedonnert: »Bringen Sie die junge Frau unverzüglich in meinen OP!«
Dies war sein Reich, die Chirurgie der Charité in der Ziegelstraße. Und er war der weltberühmte Chirurg Professor August Bier. Von dem Magda zwar vor langen Jahren während des Studiums gehört hatte, weil er der Miterfinder einer bestimmten Methode zur Narkose war. Erkannt hatte sie ihn natürlich nicht. Und wer konnte damit rechnen, dass der berühmte Chirurg ausgerechnet diesen Silvesterball im »Admiralspalast« besuchte? Seine Wirkungsstätte lag obendrein nur ein paar Gehminuten entfernt auf der anderen Seite der Spree!
Während Magda den langen, dunkelgelb gefliesten Gang auf und ab ging, hoffte sie, dass all dies nicht nur unglaubliche Zufälle waren. Doris brauchte einen Schutzengel, der ihr beistand. Offenbar hatte jemand mit einem Messer auf sie eingestochen. Und zwar in etwa dort, wo die Bauchschlagader verlief. War die durchtrennt, gab es keine Rettung. Es hing alles davon ab, wie tief der Einstich war.
Bevor er im OP verschwunden war, hatte Professor Bier in der Hektik des Abtransports kein Wort mit Magda gewechselt. Er wusste nicht einmal, wer sie war, hielt sie mit Sicherheit für eine Angehörige seiner Patientin.
Doch wie war es zu dem Unglück gekommen? Ein Angriff, wie Erika gemeint hatte? Warum sollte das jemand tun? Kuno war im »Admiralspalast« geblieben, um als Kommissar sofort mit den Ermittlungen zu beginnen. Ihr hatte er nur zugelächelt. Mehr zur Verständigung brauchte es nicht. Früher oder später wäre er bei ihr.
Erika hingegen war für sie eine Reporterin, von der sie wusste, dass sie über den Instinkt einer Jägerin verfügte. Jemand, der keine Skrupel kannte, weshalb die beiden Frauen schon aneinandergeraten waren. Zum Beispiel über den Umstand, dass Erika sich in derselben Pension einquartiert hatte, in der Magda bereits wohnte. Vermutlich, um durch sie an aufregende Geschichten zu kommen. Bislang mit mäßigem Erfolg, was sich in dieser Nacht womöglich gerade änderte. Von Journalismus verstand Magda zwar nichts, doch ihre Fantasie reichte aus, um sich vorzustellen, dass der Messerangriff auf Doris für eine Schlagzeile taugte. Folglich würde auch Erika sich hier blicken lassen. Schon um nachzusehen, ob das Opfer die Attacke überlebte.
War es zynisch, so zu denken? Magda war seit etwas mehr als einem Jahr in Berlin. Keine lange Zeit, wenn alle Tage so wohltuend gleichförmig verliefen wie in ihrer Heimatstadt Hildesheim. In Berlin hingegen war immerzu so viel Aufregendes passiert, dass Magda meinte, sie wäre schon seit einem Jahrzehnt hier. Was die Nacht dieses Jahreswechsels bewies!
Schnelle Schritte näherten sich, und im nächsten Moment eilten Erika und Kuno gleichzeitig den Flur entlang. Kuno so, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte, im Smoking, darüber der offene, wehende Mantel, den Hut etwas verwegen im Gesicht. Einen halben Schritt hinter ihm, wie ein eigenwilliger Schatten, Reporterin Erika im schlichten Wollmantel über dem dezenten Abendkleid, den schmalkrempigen Hut so tief ins Gesicht gezogen, dass er ihre eisblauen, dunkel umrandeten Augen verschattete.
»Wie geht es Fräulein Kaufmann? Wird sie es schaffen?«, fragte Kuno bereits, als er noch einige Schritte entfernt war. Er hob seinen Hut kurz zum Gruß.
Magda hätte ihn jetzt gern an sich gezogen und seine Nähe gespürt. Aber Erikas Argusaugen bekamen alles mit; wie nah sie und Kuno sich standen, konnte sie zwar nur vermuten. Allerdings hatte sie gesehen, wie eng sie gerade erst auf dem Ball miteinander getanzt hatten.
Gerade musste die sensationslüsterne Reporterin selbst Neuigkeiten loswerden: »Er wollte Doris ermorden! Ich habe mit vier Zeugen gesprochen. Die sagten es alle: Er hat ihr das Messer absichtlich in den Bauch gestoßen. Aber beschreiben konnte ihn keiner. Nicht wahr, Herr Kommissar?«
Kuno Mehring überging die Frage. Magda spürte, dass er mit ihr allein sprechen wollte. Für ihn war Erika bis zu diesem Abend eine Unbekannte gewesen. Magda hatte nicht einmal die Zeit gefunden, ihm mitzuteilen, dass sie drei sich aus der Pension kannten.
»Entschuldigen Sie uns bitte einen Moment, Erika.«
»Ich will das junge Glück nicht stören.« Die Journalistin lächelte süffisant.
Während sie sich mit Kuno ein paar Schritte den Krankenhausflur entlang von Erika entfernte, spürte Magda, wie sie ruhiger wurde. Allein schon seine Nähe gab ihr Zuversicht. »Was hast du herausgefunden, Kuno? Wer hat das getan?«
Der Kommissar seufzte. »Du hast es von Frau Hausner gehört. Es waren viele Zeugen ganz in der Nähe, die mal einen großen Mann sahen, mal einen kleinen . einen dicken, einen dünnen . Jemand meinte gar, es wäre eine Frau gewesen. Anders ausgedrückt: In dem Gedränge hat niemand eine zuverlässige Beobachtung gemacht. Und niemand war nüchtern.« Kuno sah sie fragend an. »Wie schwer sind ihre Verletzungen?«
»Ich weiß nur, dass Fräulein Kaufmann erschreckend viel Blut verloren hat.«
Magdas schwarzes Ballkleid, eigens für diese Nacht erstanden, war damit durchtränkt.
In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Operationssaal. Professor Bier, ein Herr von Anfang fünfzig mit dichtem Schnauzbart, trat so heraus, wie er hineingegangen war - im Frack. Müde rieb er sich die Augen. Seiner angespannten Miene war der Kampf um Doris' Leben abzulesen.
»Professor .«, setzte Magda an.
Bier hob abwehrend die Hand. »Jemand wird Ihnen alles erklären«, knurrte er unwirsch und...
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