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Den ganzen Tag verbrachte die Maus verängstigt in ihrem Versteck. Was war in der letzten Nacht geschehen? Und vor allem: Was war mit ihr passiert? Sie konnte plötzlich neben ihren natürlichen Instinkten klare Gedanken fassen. Es war alles so sonderbar. Aber sie fühlte sich großartig.
"Habe ich mich wirklich verwandelt oder habe ich das nur geträumt?", fragte sie sich.
Als es in der Halle wieder still wurde und die nächste Nacht einbrach, wagte sich die Maus aus ihrem Versteck und ging zum Ort der Ereignisse vom Vortag. Sie schnüffelte ausgiebig und untersuchte die Stelle.
"Kann ich mich wieder verwandeln oder war es nur ein einmaliges Ereignis?", wollte sie für sich selbst wissen. Anschließend fragte sich die Maus, was sie letzte Nacht gefühlt hatte, als der Kater plötzlich hinter ihr stand. Es war vor allem Angst. Sie versuchte sich auf alle neuen Fähigkeiten zu konzentrieren und stellte sich Angst vor, aber nichts passierte.
"Doch alles nur geträumt".
Nächster Versuch:
"Ich will weglaufen."- nichts geschah.
Die Maus stellte sich weitere Dinge vor. Nichts! Absolut nichts.
"Ich will größer als die Katze sein!"
Dann wiederholten sich die magischen Ereignisse der letzten Nacht. Die Maus stellte sich auf zwei Beine und nahm eine fast menschliche Gestalt an.
"Klein sein", kam es aus ihrem Mund und sie war wieder eine Maus.
"Groß sein", zack und wieder verwandelt.
Jetzt betrachtete sie ihre Gestalt genauer.
"Eindeutig Mensch", sagte sich die Maus.
Sie hatte einen schlanken mittelgroßen, aber sportlichen Körper. Einzig ihr schmales Gesicht, was etwas blass wirkte und die etwas zu lange, spitze Nase erinnerten noch an eine Maus. Aber es passte gut zu ihrem noch jugendlichen Aussehen. Die schwarzen Haare waren schulterlang und die dunkelbraunen Augen funkelten nur so vor Energie. Ihre Instinkte als Maus waren ihr aber geblieben. Sie konnte sich unfassbar schnell bewegen und ihre Reaktionen waren unglaublich gut.
"Seid ihr anderen Tiere von gestern auch noch da? Ich weiß, dass ihr mich verstehen könnt".
Einen kurzen Moment lang herrschte Stille. Dann aber wagte sich als erstes die Spinne aus dem Versteck. Ihr folgte kurze Zeit später die Heuschrecke. Die beiden Tiere standen nun vor der verwandelten Maus und blickten zu ihr hinauf.
"An groß sein denken", sagte die Maus zu den beiden.
Die Spinne und die Heuschrecke verwandelten sich nun wieder und auch sie sahen jetzt wie menschliche Wesen aus. Die Spinne hatte jetzt zwei Beine und sechs Arme an deren Ende sich jeweils eine Hand mit fünf langen, sehr beweglichen Fingern befanden. Der Körper war kompakt und sportlich, so wie der eines Boxers. Das dunkle, gekräuselte Haar, die braunen Augen und die sonnengebräunte Gesichtsfarbe betonten ihre Willenskraft. Ihre zwei zusätzlichen Armpaare konnten gut am Körper angelegt werden, sodass sie kaum auffielen.
Die Heuschrecke hatte ihre gefalteten Beine mit mehreren Gelenken behalten. Für einen Menschen war sie ungewöhnlich groß, was eindeutig den langen Beinen geschuldet war. Die dunkle Hautfarbe, die blauen Augen und das helle Haar unterstrichen ihr außergewöhnliches Erscheinungsbild.
Die Drei schauten sich gegenseitig verwundert an. Keiner von ihnen konnte das Geschehene fassen und sie standen sich schweigend gegenüber.
"Darf ich auch herauskommen?", hörte man eine weitere Stimme ertönen.
Es war der Leguan, der nun zögerlich aus seinem Versteck emporkroch.
"Ich habe alles gehört, wie ich mich auch verwandeln kann."
"Dann versuch es doch", antwortete die Spinne.
"Meint ihr wirklich, ihr werdet euch sicherlich über meine Gestalt erschrecken."
"Nachdem was alles passiert ist, sicherlich nicht", erwiderte die Heuschrecke.
Die Verwandlung, die jetzt beim Leguan stattfand, war aber alles andere als menschlich. Er wuchs. zwei Meter, drei Meter, so groß wie zwei Kutschen übereinander. Rechts und links entstanden zwei riesige Flügel an deren Enden rasiermesserscharfe, sichelartige Krallen saßen. Das Maul hatte jetzt das Aussehen von dem eines Krokodils. Nur waren die Zähne noch gewaltiger. Der Körper war mit Panzerplatten übersät, die undurchdringlich schienen. Und die Flügel waren aus dem zähesten Leder, was man sich vorstellen konnte.
Die drei anderen standen mit offenen Mund vor dem Drachen. Eine gefühlte Ewigkeit wagte es keiner nur ein Wort zu sagen. Die Spinne durchbrach als erster das Schweigen:
"Das ist ja krass!" Mehr brachte sie nicht heraus, denn sie alle waren es nicht gewöhnt, wie Menschen sprechen zu können.
Dann wurde das Schweigen auch von den Anderen gebrochen. Daraus entwickelte sich ein intensives und langes Gespräch über die Geschehnisse, die seit der letzten Nacht passiert waren.
"Wir müssen uns Namen geben wie die Menschen", sagte plötzlich die Maus.
"Du Heuschrecke oder du Spinne klingt verdammt schlecht."
Diesen Vorschlag stimmten alle zu.
"Ich weiß schon wie ich heißen möchte", sagte die Maus: "Pia".
"Ich weiß auch schon einen Namen der mir gefällt", erwiderte die Spinne: "Alea".
Die Heuschrecke überlegte lange bis ihr etwas einfiel. "Freddy", möchte ich heißen.
Diesen Vorschlag stimmten auch die Anderen zu. Nur dem Leguan fiel kein Name ein und auch Pia, Alea und Freddy waren ratlos.
"Wir nennen dich einfach "Pepe" oder einfach kurz "Pep", kam es letztendlich aus Aleas Mund.
"Was meint ihr? Wenn dir der Name überhaupt nicht gefällt, kannst du dir ja später noch einen anderen überlegen", schlug er vor.
"In Ordnung", erwiderte Pepe und in fast dem selben Atemzug schoss es aus ihm heraus:
"Ob ich auch Feuer speien kann? Ich werde es einmal versuchen".
Als er sein riesiges Maul öffnete, gerieten die Anderen in Panik:
"Bist du des Wahnsinns!!! Doch nicht hier in der Halle. Willst du alles abfackeln? Wenn du es ausprobieren möchtest, flieg in die Berge wo dich keiner sieht und stört".
Pepe schloss sein Maul.
"Ihr habt recht. Ich sollte das Feuerspucken lieber erst einmal in Ruhe und alleine üben."
Pepe verwandelte sich zurück in einen Leguan und schlüpfte durch ein Loch in der Lagerhalle nach draußen. Dann hörte man mächtiges Flügelschlagen, welches nur ganz langsam leiser wurde.
"Hoffentlich hat er nicht die halbe Stadt damit aufgeweckt", sagte Alea.
Kurz waren die Drei in ihren eigenen Gedanken vertieft, da kam der Papagei herbeigeflogen, setzte sich auf den Rahmen der noch offenen Dachluke und schaute herab. Freddy bemerkte den Vogel als erstes und schaute zu ihm hinauf:
"Kannst du mich verstehen und auch sprechen?"
"Ja das kann ich", erwiderte der Vogel.
"Komm herunter zu uns. Wir erklären dir wie du dich wieder verwandeln kannst."
Der Papagei schwebte herab.
"Habt ihr auch diese schreckliche Kreatur da draußen gesehen. Ich hoffe der Drache kommt nicht wieder und zerstört den ganzen Hafen. Sie sind also doch nicht nur Fabelwesen."
"Ach du meinst Pepe", erwidert Pia.
"Gehört dieser Drache etwa auch dazu?"
"Ja, er ist davongeflogen, damit er ausprobieren kann, ob er auch Feuer spuckt".
Der Papagei nahm es schweigend auf.
"Jetzt müssen wir dir noch erklären wie du dich verwandeln kannst und dann schauen, was aus dir dann geworden ist."
"Das müsst ihr wohl tuen. Denn ich habe geschlafen als ich mich verwandelt habe. Als ich aufgewacht bin, saß ich als Mensch oben auf dem Balken".
Alea beteiligte sich jetzt auch an dem Gespräch:
"Dann scheint Pia ja die Fähigkeit zu besitzen, nicht nur sich selbst sondern auch uns alle zu verwandeln."
"Du hast recht", erwiderte sie. " Als ich dem Kater gegenüberstand, habt ihr euch alle verwandelt. Aber wie ich das gemacht habe, weiß ich selbst nicht. Jetzt sollten wir aber schauen, was aus dem Papagei wird."
Sie erklärten dem Vogel was zu tun ist und dieser hörte aufmerksam zu. Nun verwandelte sich auch der Papagei. Aus ihm wurde ein großer, kräftiger Mann. Seine Oberarme und Hände hatten schon beeindruckende Ausmaße. Ansonsten wirkte er sehr gewöhnlich. Kurzes blondes Haar, blaue Augen und eine natürliche Gesichtsfarbe. "Und wie fühlst du dich jetzt?", fragte Freddy.
"Eigentlich ganz normal."
"Ist an dir irgendetwas außergewöhnlich?", fragte Freddy weiter.
Auch die anderen begutachteten ihn von allen Seiten. Der Papagei erwiderte:
"Ich glaube, an meinem Körper ist nichts außergewöhnliches. Aber ich kann mich plötzlich an alle möglichen Dinge erinnern. Dass der Käfig, als ich noch bei der Menschenfamilie wohnte, 52 Gitterstäbe hatte. Oder die Farbe und Art der Kleidung, die die Seeleute trugen, als ich gestern über sie hinwegflog. Außerdem sah ich vor ein paar Tagen einen Kran zum Verladen von Gütern. Ich weiß genau wie ich ihn nachbauen würde."
Aus Pia platze es heraus: "Ein fotografisches Gedächtnis! Voll krass. Und wenn ich mir deine Oberarme so anschaue, möchte ich mit dir keinen Streit bekommen. Jetzt brauchen wir nur noch einen Namen für dich."
"Das ist einfach, als ich bei den Menschen wohnte, nannten sie mich Till."
Nun präsentierten Pia, Alea und Freddy was sie konnten. Till war beeindruckt. Anschließend vertieften sie sich gemeinsam in unterschiedliche Gespräche....