Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Wenn ich mich nicht dazu hätte überreden lassen, zu dieser Historiker-Tagung nach Hamburg zu fahren, hätte ich Helgi, Bolli, Luisa und all die anderen nie kennengelernt, wäre nie im Val Dulain gewandert .
Ich hätte mein ruhiges Leben als emeritierter Professor der Universität Basel geführt, am dritten Band meines Werkes »Die Wikinger - Krieger, Händler und Entdecker« geschrieben, Musik gehört, Spaziergänge gemacht und die Vögel auf dem alten Kirschbaum beobachtet. Ruhig und friedlich.
Welcher Teufel hatte mich nur geritten, nach Hamburg zu fahren? Wissenschaftliche Tagungen waren mir schon immer ein Gräuel, Menschenansammlungen meide ich, wo immer möglich, Apéros verbunden mit Small Talk verursachen mir Bauchweh, Flugzeuge besteige ich grundsätzlich nicht und lange Bahnfahrten sind für meinen Rücken die Hölle. Außerdem hasse ich es, in Hotelzimmern zu übernachten.
Es gab also keinen einzigen vernünftigen Grund, in diese Stadt zu fahren. Aber Thomas Geiger, mein ehemaliger Assistent, appellierte an meine Loyalität. Er war seit einem Jahr Juniorprofessor an der Universität Hamburg und organisierte diese Tagung mit dem vielsagenden Titel »Gesellschaftliche und politische Implikationen der mittelalterlichen landwirtschaftlichen Organisation«. Er bat mich inständig, ein Referat zu halten, denn es sei für ihn wichtig, dass das Programm interessant und fachlich auf höchstem Niveau sei. Dazu brauche er Koryphäen wie mich.
Ich gebe zu, dass die Anfrage mir ein wenig schmeichelte. Und ich weiß ja, wie hart die Konkurrenz unter den jungen Akademikern ist. Thomas brauchte für seine weitere Karriere Erfolge an der Uni und ich fühlte mich verpflichtet, ihn nicht im Stich zu lassen.
Zu Landwirtschaft im Mittelalter hatte ich jedoch nie geforscht und ich hatte weder Lust noch Zeit, mich in diese Thematik einzuarbeiten. Schließlich willigte ich ein, wenigstens die Moderation der Podiumsdiskussion zu übernehmen. Das brauchte nur wenig Vorbereitung.
Eine Diskussion zu leiten, erfordert einerseits Fachwissen, vor allem aber die Fähigkeit, Widersprüche aufzuspüren, Schwachstellen zu benennen, entscheidende Fragen zu formulieren. In meiner Berufslaufbahn habe ich so viele Podien und Seminare geleitet, dass ich mich absolut sattelfest fühle. Ja, es macht mir Freude, den Kollegen auf den Zahn zu fühlen und hin und wieder auch etwas fies nachzubohren. Aber meistens bin ich wohlwollend und friedlich. Nur die Schlauschwätzer und die eingebildeten Lackaffen reizen mich manchmal zu kleinen Gefechten. Einige fürchten mich.
Die Tagung fand in der Fakultät für Geisteswissenschaften, einem modernen, mehrstöckigen Bau aus Beton und Glas am Überseering 35, statt. Thomas hatte sich richtig ins Zeug gelegt und es tatsächlich geschafft, Referentinnen und Referenten zu gewinnen, die aktuelle und interessante Forschungen präsentierten. Ich war positiv überrascht und nickte nur beim Referat zu den »Designativen Nachfolgeregelungen im toledanischen Westgotenreich im Spiegel der Münzprägung« kurz ein.
Auf den Vortrag von Helgi Sigurðsson freute ich mich. Ich war ihm noch nie persönlich begegnet, hatte aber einige seiner Publikationen mit Interesse gelesen. Sigurðsson war ein anerkannter Mittelalterhistoriker und galt als Koryphäe auf dem Gebiet der archäologischen Ausgrabungen. Diese hatten ihn weit in der Welt herumgeführt, unter anderem nach Bhutan und Syrien. Auch in der Schweiz hatte er an verschiedenen Projekten teilgenommen, vor allem in den Bergkantonen, was dazu geführt hatte, dass er jetzt für ein Jahr an der Universität Bern einen Lehrauftrag innehatte.
Ich sehe ihn noch vor mir, wie er beschwingt zum Rednerpult ging und das Publikum sofort in den Bann zog. Ein rundlicher, quicklebendiger Mann mit großen abstehenden Ohren und borstigem grauem Haar. Er hielt seinen Vortrag zu den Alpen als Migrationsraum im Mittelalter. Sogar ich, der sich nicht sonderlich für Archäologie interessiert, fand es faszinierend, wie er anhand von Funden die Entwicklung der Wirtschaftsverhältnisse im schweizerischen Alpenraum um 1500 darlegen konnte. In der anschließenden Fragerunde war er durch Humor und Schlagfertigkeit aufgefallen.
Ich glaube, es gelang mir gut, in der Podiumsdiskussion die Kernaussagen der Referate zusammenzufassen und offene Fragen anzusprechen. Wir überzogen die vorgegebene Zeit, weil eine angeregte Diskussion zum Thema Umweltschutz entstand. Schon im Mittelalter hatte es interessante Praktiken und Methoden gegeben, den Boden und die Ressourcen zu schonen. Die Menschen waren sich durchaus bewusst, dass Raubbau an der Natur sich rächen würde. Leider ist dieses Bewusstsein mit dem Beginn der Industrialisierung verloren gegangen. Jedenfalls war ich zufrieden mit meiner Moderation, nahm mir aber trotzdem vor, zukünftig solche Aufgaben nicht mehr zu übernehmen. Ich wollte meine Zeit für mein Buchprojekt und eigene Forschungen nutzen.
Den Apéro, der den Abschluss der Tagung bildete, verließ ich so schnell wie möglich. Ich gratulierte Thomas zur Organisation und sprach noch kurz mit einer alten Bekannten aus meiner Zeit an der Uni Marburg.
Das Nachtessen nahm ich in einem Restaurant ein, das gleich um die Ecke meines Hotels lag, ein einfaches türkisches Lokal. Ich hatte keinen großen Hunger und bestellte einen Auberginenauflauf, der erstaunlich gut schmeckte, allerdings im Öl schwamm.
Als ich danach ins Hotel zurückkehrte, es mag wohl gegen 21 Uhr gewesen sein, sah ich Sigurðsson an der Hotelbar stehen. Er war offenbar auch im Plaza einquartiert. Erstaunt bemerkte ich, dass er mich zu sich winkte. »Haben Sie Lust auf einen Schlummertrunk?« Zuerst zögerte ich, denn das ungewohnte Essen lag mir schwer im Bauch und ich war müde. Die Tagung, meine Moderation, die vielen Leute, die Stadt mit ihrer Hektik, das alles hatte an meinen Nerven und Kräften gezehrt und ich sehnte mich nach dem Bett und Ruhe. Doch ich wollte nicht unfreundlich erscheinen und ließ mich zu einem kurzen Bier überreden.
Ich weiß nicht mehr, wann ich endlich im Bett landete. Es muss gegen Morgen gewesen sein, und mit Sicherheit war ich dann nicht mehr ganz nüchtern. Helgi bot mir bereits beim ersten Bier das Du an und im Laufe der Nacht kamen einige norddeutsche Alkoholspezialitäten dazu: eisgekühlter Korn und Wodka. »Wenn wir schon in Hamburg sind, müssen wir uns an die hiesigen Sitten anpassen«, meinte er.
Er erwies sich als äußerst trinkfest. Und ich verlor irgendwann die Kontrolle und meine sonst meist so klare Zurückhaltung.
Der Abend war ausgesprochen unterhaltsam, anregend und fröhlich. Es lag nicht nur am Alkohol, nein, Helgi war ein sehr lebendiger Erzähler und vor allem auch ein guter Zuhörer. Die meisten Leute verstehen ein Gespräch vor allem als Möglichkeit, selber ausgiebig zu Wort zu kommen. Sie warten nur darauf, dass man ihnen ein Stichwort liefert und dann legen sie los. Vielleicht hätte ich Seelsorger oder Psychiater werden sollen. Die werden wenigstens für das Anhören bezahlt. Denn irgendwie scheine ich Menschen anzuziehen, die ein dringendes Mitteilungsbedürfnis haben. Sie plappern und plappern, erzählen mir alles, was ich gar nicht wissen will, und verabschieden sich schließlich mit der tiefsten Überzeugung, einen sehr interessanten Gedankenaustausch mit mir geführt zu haben.
Helgi war anders. Er hörte geduldig zu, stellte Fragen, lachte und schlug sich lebhaft auf die Schenkel, als ich ihm von einer geplatzten Intrige bei der Lehrstuhlbesetzung an der Uni Basel berichtete. Zuerst redeten wir viel über die Tagung, über Unipolitik und Forschungsprojekte, aber dann, zu meinem Erstaunen, wurde das Gespräch immer persönlicher. Ich erzählte ihm von meinem Umzug, meinen Kochversuchen, den Vogelbeobachtungen und von meiner Federsammlung. Die meisten Menschen finden es etwas skurril, dass man freiwillig frühmorgens im Wald oder am Flussufer steht und stundenlang mit klammen Fingern und steifem Nacken durchs Fernglas starrt. Helgi aber war begeistert. Ja, es stellte sich heraus, dass er selber vieles über Seevögel wusste. Kein Wunder, wenn man in Island aufgewachsen ist. Auch hatte er ausgezeichnete Kenntnisse von Fauna und Flora der Alpen. Ein Archäologe müsse sich auskennen mit Pflanzen und Lebewesen aller Art, beteuerte er. Bei den Ausgrabungen stoße man immer auch auf Spuren von Tieren: Knochen, Zähne, Exkremente. Daraus lasse sich viel über die Lebens- und Wirtschaftsweise der Menschen schließen. Nach dem fünften Wodka vertraute er mir an, dass er in einem Jahr pensioniert und dann nach Island zurückkehren werde. Er freue sich, weil er sich dann endlich seinem neuen Forschungsprojekt widmen könne. Eine Forschung zu Geistern und Fabelwesen. »Wir Isländer sind alle verrückt«, sagte er mit breitem Grinsen, »wir glauben an Feen und Trolle.« Seine abstehenden Ohren wackelten, als er laut loslachte. »All diese Fabelwesen werden heute gnadenlos kommerzialisiert in TV-Serien, Fantasyfilmen, kitschigem Spielzeugramsch. Mich interessiert aber nicht der heutige Aberglaube, nein, mich interessiert die Funktion von Magie und Zauberei auf Island im Mittelalter. Den Herrschenden war jedes Mittel recht, die Leute für dumm zu verkaufen und zu manipulieren.«
Er bestellte zwei weitere Bier und warf mir einen komplizenhaften Blick zu. »Ist ja immer noch so: Macht und Geld, ein Dauerbrenner! Profitgier und Lügen, auch bei euch in der schönen demokratischen Schweiz.« Versonnen blickte er in sein Glas. »Kennst du das Val Dulain? Du solltest dort unbedingt mal hin.« Plötzlich schlug er mir auf...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.