Schweitzer Fachinformationen
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Dominic Yun ist in meinem Aufnahmeraum.
Er weiß, dass es mein Aufnahmeraum ist. Dominic ist seit vier Monaten hier, er muss es wissen, denn es steht im Kalender des Senders, dem, der mit unseren Mail-Accounts verknüpft ist. In einer blauen Blase steht da: Studio C: Goldstein, Shay. Täglich Montag - Freitag, 11:00 - 12:00. Endet: Nie.
Ich würde ja anklopfen, aber - tja, was einen Aufnahmeraum eben ausmacht, ist, dass er schalldicht ist. Und während die Liste meiner Fehler sicherlich eine halbe Stunde werbefreier Radiozeit füllen könnte, bin ich nicht so schlimm, dass ich einfach hineinstürmen und vermasseln würde, was auch immer Dominic gerade aufnimmt. Er ist zwar der am wenigsten qualifizierte Reporter beim Pacific Public Radio, aber dafür habe ich dann doch zu viel Respekt vor der Kunst des Abmischens. Was im Aufnahmeraum passiert, ist heilig.
Stattdessen lehne ich mich innerlich kochend an die Wand gegenüber von Studio C. Über der Tür blinkt die rote AUFNAHME-Leuchte.
»Nimm ein anderes Studio, Shay!«, ruft Paloma Powers, die Moderatorin meiner Sendung, auf dem Weg zum Mittagessen (Veggie Yakisoba aus dem winzigen Laden gegenüber auf der anderen Straßenseite, seit sieben Jahren jeden Dienstag und Donnerstag. Endet: Nie).
Könnte ich. Aber passiv aggressiv zu sein macht viel mehr Spaß.
Das öffentliche Radio wird nämlich nicht nur von Intellektuellen gemacht, die mit Samtstimmen um Spenden für den Sender bitten. Auf jeden Job in diesem Bereich kommen wahrscheinlich hundert verzweifelte Journalismus-Absolventinnen und -Absolventen, die This American Life einfach lieben - und manchmal muss man eben gemein sein, um zu überleben.
Ich bin allerdings eher dickköpfig als gemein. Dank meiner Dickköpfigkeit ergatterte ich vor zehn Jahren ein Praktikum hier und bin jetzt, mit neunundzwanzig, im Sender die jüngste leitende Redakteurin aller Zeiten. Seit meiner Kindheit hatte ich davon geträumt, beim Radio zu arbeiten, auch wenn ich damals eigentlich daran dachte, selbst vorm Mikro zu sitzen und nicht hinter einem Computer.
Um zwanzig nach elf geht endlich die Studiotür auf. Inzwischen habe ich meiner Nachwuchsredakteurin Ruthie Liao versichert, bis zwölf die Werbespots fertig zu haben, und Umweltreporterin Marlene Harrison-Yates ist bei meinem Anblick in Lachen ausgebrochen, bevor sie im weitaus minderwertigeren Studio B verschwand.
Zuerst sehe ich seinen Schuh, einen glänzenden schwarzen Oxfordschuh. Dann folgt der Rest seines fast zwei Meter langen Körpers, dunkelgraue Hose und bordeauxrotes Hemd, der oberste Knopf offen. Wie er so in der Tür von Studio C eingerahmt dasteht und stirnrunzelnd auf sein Skript blickt, könnte er einem Bildagenturfoto aus der Rubrik »Business Casual« entsprungen sein.
»Und, hast du die richtigen Wörter in der richtigen Reihenfolge gesagt?«, frage ich.
»Ich glaub schon«, sagt Dominic vollkommen ernst, den Blick weiter aufs Skript gerichtet. »Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Ich warte nur auf mein Studio«, sage ich mit zuckersüßer Stimme.
Da er nicht aus dem Weg geht, mustere ich ihn weiter. Seine Ärmel sind bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, die schwarzen Haare leicht zerzaust. Vielleicht ist er sich mit den Händen hindurchgefahren, aus Frust, weil seine Story nicht genau so geworden ist, wie er sie sich vorgestellt hat. Das wäre mal eine angenehme Abwechslung zu seinen letzten Storys, die unsere Website dominieren und wegen ihrer Effekthascherei in den Überschriften zwar jede Menge Klicks bekommen, emotionale Tiefe allerdings vermissen lassen. Vielleicht ist ihm während der verhängnisvollen zwanzig Minuten in Studio C bewusst geworden, dass er die Nase voll hat vom Radio, und gleich geht er zu Kent und sagt ihm, dass es ihm sehr leidtut, er aber für diesen Job nicht gemacht ist.
Er arbeitet noch längst nicht lange genug beim Sender, um die feinen Unterschiede zwischen Studio A, B und meinem geliebten Studio C zu begreifen: dass der Kopfhörer in Studio C perfekt geknickt ist, das Gewicht der Schieberegler am Mischpult es leichter macht, sie zu bedienen. Und er weiß auch nichts von der Bedeutung, die Studio C für mich hat: dass ich hier die Stücke für meine erste ganz allein produzierte Sendung mischte - die darüber, wie es ist, an Vatertag keinen Vater mehr zu haben. Stundenlang liefen die Telefonleitungen heiß. Als ich die Geschichten der Anrufenden hörte, fühlte ich mich zum ersten Mal seit Jahren ein bisschen weniger allein, und es rief mir wieder ins Gedächtnis, warum ich damals überhaupt zum Radio gegangen bin.
Gut möglich, dass meine Beziehung zu diesen zwei Quadratmetern aus Kabeln und Knöpfen nicht gesund ist.
»Es ist ganz dein«, sagt Dominic, bewegt sich aber kein Stück und blickt immer noch nicht von seinem Skript auf.
»Sollte es auch. Jeden Wochentag von elf bis zwölf. Wenn dein Kalender nicht funktioniert, müsstest du vielleicht mal der IT Bescheid sagen.«
Schließlich löst er den Blick vom Skript und sieht zu mir runter. Weit runter. Er lehnt sich gelassen gegen den Türrahmen, die Schultern leicht gebeugt. Das macht er immer, normal große Gebäude sind anscheinend zu klein für ihn. Ich bin eins sechzig und mir dessen selten so bewusst, wie wenn ich neben ihm stehe.
Als unsere Rezeptionistin Emma ihn für die Website fotografierte, wurde sie knallrot, wahrscheinlich weil er als einziger Typ im Sender noch unter dreißig, aber kein Praktikant mehr ist. Auf dem Foto guckt er ziemlich ernst, bis auf den einen Mundwinkel, ein winziges gekrümmtes Komma, das seine Lippen etwas zur Seite zieht. Als das Foto veröffentlicht worden war, blickte ich ziemlich lange auf dieses Komma und fragte mich, warum Kent jemanden anstellte, der noch nie vorher einen Fuß in einen Radiosender gesetzt hatte. Kent schwärmte von Dominics Master in Journalismus an der Northwestern University in Chicago, der beste Studiengang in den USA, wie es ständig hieß, und davon, dass Dominic einen Journalistenpreis nach dem anderen abgesahnt hat.
Dominic schenkt mir ein Lächeln, das etwas angespannter und zurückhaltender ist als auf dem Websitefoto. »Es war fünf nach, und das Studio war leer. Ich hab vielleicht eine große Story für eine Eilmeldung. Ich warte nur noch auf die Bestätigung von einer weiteren Quelle.«
»Cool. Ich muss Palomas Intros mischen, also .« Ich mache Anstalten, den Aufnahmeraum zu betreten, doch er rührt sich immer noch nicht, sein unglaublich großer Körper versperrt mir den Weg. Ich bin ein Junges, das versucht, die Aufmerksamkeit eines Grizzlybären zu erregen.
Das Komma zieht etwas mehr an seinem Mund. »Du fragst noch nicht mal, worum es in meiner Story geht?«
»Ich werde sicher morgen in der Seattle Times darüber lesen.«
»Ach, komm schon, wo bleibt dein Teamgeist? Der öffentliche Rundfunk kann auch mal als Erstes Eilmeldungen bringen«, sagt er bestimmt. Wir hatten diese Diskussion schon zig Male, seit er in seiner ersten Woche beim Sender fragte, warum niemand aus unserem Team von Reporterinnen und Reportern regelmäßig an den Stadtratssitzungen teilnimmt. »Wäre es nicht toll, mal als Erstes eine Story zu bringen, statt allem nur hinterherzuhinken?«
Dominic scheint nicht zu verstehen, dass Eilmeldungen nicht unsere Stärke sind. Als ich ihm bei seiner Einführung erklärte, dass unsere Leute manchmal einfach Kurznachrichten aus der Times umschrieben, sah er mich an, als hätte ich gesagt, wir würden bei unserer nächsten Spendenkampagne keine Stoffbeutel ausgeben. Unsere Reporterinnen und Reporter leisten großartige Arbeit - wichtige Arbeit -, aber ich fand schon immer, dass wir am besten sind, wenn wir uns auf längere Features, tiefgehende Analysen und aus dem Leben gegriffene Geschichten konzentrieren. Genau das macht meine Sendung, Puget Sounds, und darin sind wir gut. Paloma hat sich den Namen ausgedacht, ein Wortspiel mit Puget Sound, dem Gewässer entlang der Nordwestküste Washingtons, an dem Seattle liegt.
»Die Leute schalten uns nicht ein, um Eilmeldungen zu hören«, sage ich und versuche, nicht lauter zu werden. »Wir haben Umfragen dazu durchgeführt. Außerdem ist es den Leuten völlig egal, wo regionale Eilmeldungen herkommen. Morgen wird es auf jedem Sender, Blog und Twitter-Account mit siebenundzwanzig Followern zu finden sein, und niemanden interessiert es, wer es zuerst veröffentlicht hat.«
Er verschränkt die Arme vor der Brust, was seine nackten Unterarme mit den dunklen Haaren darauf noch betont. Ich stand schon immer auf Unterarme - wenn ein Mann seine Ärmel hochkrempelt, ist das für mich praktisch schon Vorspiel. Dass solche schönen Unterarme an Dominic verschwendet wurden, ist eine Unverschämtheit.
»Stimmt«, sagt er. »Ich darf nicht vergessen, dass der Schwerpunkt von echtem Radio auf . - wie heißt noch mal deine Sendung heute?«
»Tiersprechstunde«, sage ich und recke das Kinn, in der Hoffnung, dass es selbstbewusst rüberkommt. Ich werde mich nicht dafür schämen. Die Tiersprechstunde ist eine unserer beliebtesten Sendungen, eine Livesendung, in der die Hörer anrufen und der berühmten Tierverhaltensexpertin Mary Beth Barkley - was mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht ihr echter Name ist - Fragen stellen. Sie bringt immer ihren Corgi mit, und es ist eine Tatsache, dass Hunde alles besser machen.
»Du leistest einen echten Dienst an der Öffentlichkeit, im Radio Katzenkotze zu analysieren.« Er stößt sich vom Türrahmen...
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