Die Zäsur
Der 11. September 1962. In knapp zwei Wochen hatte mein Bruder Kaj seinen elften Geburtstag. Papa hatte mich am Morgen gefragt, ob ich wüsste, was Kaj sich wünscht. Er würde ihn gern mit etwas Besonderem überraschen.
Mir fiel nicht allzu viel ein, außer dass er schon immer mal einen ganzen Tag in den Tierpark wollte.
Papa lachte. »Na prima! Dann machen wir einen tierischen Familienausflug und besuchen unsere Urahnen.«
War wohl doch eine blöde Idee, überlegte ich, viel lieber würde ich das Wochenende mit meinen Freunden in der Jugendgruppe der Paul-Gerhardt-Gemeinde in Laim verbringen. »Ich glaube, Kaj würde auch gerne mal nur mit dir und Mama etwas unternehmen«, versuchte ich diplomatisch aus der Nummer rauszukommen.
Das mit der Diplomatie hatte ich von meinem Papa, da war ich unschlagbar, und es funktionierte meistens. Papa schmunzelte, so als könne er meine Gedanken lesen, und stimmte mir dann wieder ernsthaft zu. Das Wochenende war gerettet.
Wenn ich nur entfernt geahnt hätte, was uns allen bevorstand, wäre die Aussicht auf einen gemeinsamen Familienausflug in den Tierpark das Schönste überhaupt gewesen.
Paps war gerade dabei, seinen Aktenkoffer im Herrenzimmer einzuräumen. Er hatte einen wichtigen Termin, wollte aber erst noch mal in seine Firma. Ich hörte, wie Mama ihm etwas sagte: »Ich weiß nicht, Heinz, vielleicht wäre es besser, wenn du Herrn Erasmus aus dem Büro zu dem Treffen mitnimmst, irgendwie habe ich kein gutes Gefühl .«
Dr. Heinz Krug, Ende der fünfziger Jahre
Herr Erasmus war so was wie der Sekretär meines Vaters, er half, wo er konnte, und führte alle Arbeiten aus, die Papa ihm auftrug. Manchmal holte er uns auch von der Schule ab, damit Papa mit uns zum Mittagessen gehen konnte. Er hatte eine weiß-blaue Isetta, wie bei einem Kühlschrank klappte man bei diesem kugeligen Gefährt die Fronttür auf. Das Lenkrad war so befestigt, dass es an der Türe blieb, wenn sie aufschwang. Eigentlich passten nur zwei Personen in das Auto, aber für einen Erwachsenen und zwei Kinder ging es zur Not. Witzig war, dass Herr Erasmus sehr groß war, wir mussten immer schrecklich lachen, wenn er sich so zusammenfaltete, dass er in seine Kugel hineinpasste.
Mama hasste es, wenn wir damit unterwegs waren: »Das Ding ist lebensgefährlich, wenn ihr damit einen Unfall habt, bleibt nicht mehr viel übrig .«
Jetzt fragte ich mich: Wieso sollte Paps zu einem Termin jemanden mitnehmen? Er hatte ständig Termine, überall in der Welt, und ausgerechnet hier in München hatte Mama Bedenken?
Aber ich musste das ja nicht unbedingt verstehen.
»Ruf an, Heinz, wenn es später werden sollte«, beschwor ihn Mama. »Ich habe extra Pfifferlinge für das Abendessen besorgt.« Mama sagte immer »Pfifferlinge«, obwohl sie hier in Bayern jeder »Reherl« nannte. Sie war Berlinerin, nicht einmal »Oachkatzlschwoaf« konnte sie fehlerfrei nachsprechen. Uns Kinder brachte das immer zum Lachen. Paps hingegen schaffte es mühelos, den bairischen Dialekt zu imitieren. Er stammte ursprünglich aus Bad Muskau in Schlesien, ging zum Studium nach Breslau und zog mit seinen Eltern schließlich auch nach Berlin.
»Keine Sorge, Liebling, ich werde auf keinen Fall mein Leibgericht verpassen«, hörte ich Paps lachend antworten. »Ich verspreche, pünktlich zu sein. Du kannst deine leckeren Semmelknödel um achtzehn Uhr ins Wasser legen, spätestens um halb sieben bin ich zurück.«
Er drückte uns und versprach noch einmal, rechtzeitig zum Abendessen wieder da zu sein. Mich irritierte in diesem Moment Mamas besorgter Gesichtsausdruck. Dann ging er. Es war das letzte Mal, dass wir meinen Vater sahen. Er kam nie wieder zurück.
Mama versuchte, das Essen warm zu halten. Im Normalfall hätte sie sich über die Warterei schrecklich aufgeregt und fürchterlich gemeckert, diesmal jedoch brach sie ständig in Tränen aus. »Es ist was passiert, ich spüre es«, schluchzte sie.
Kaj und ich waren verstört. Paps kam doch häufiger nicht pünktlich. Aber Mama hatte mit ihrer Sorge leider recht. Irgendwann wurde uns klar, dass er diesmal überhaupt nicht mehr nach Hause kommen würde.
Ich hatte am Abend noch die Notrufnummer der Polizei gewählt. Mama war dazu nicht in der Lage, sie schluchzte ständig und flüsterte immer wieder: »Ich weiß, es ist was Schreckliches passiert.«
Kaj und ich versuchten, sie zu trösten, aber sie nahm uns gar nicht richtig wahr. Der Polizist am anderen Ende der Leitung erklärte mir, dass es reicht, wenn wir am nächsten Vormittag zu unserem zuständigen Polizeirevier gehen, heute würde man sowieso nichts mehr unternehmen. Am nächsten Morgen begleitete ich meine Mutter zur Polizei.
Ich kann mich noch gut an diesen unsäglichen Besuch auf dem Polizeirevier in Laim erinnern. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass uns keiner ernst nahm. Der etwas korpulente Polizist hinter dem Tresen aß gerade sein mitgebrachtes Brot und kaute mit vollen Backen, als er sich uns zuwandte und nuschelnd fragte, was wir wollen. Mama suchte nach Worten und erklärte leise, dass ihr Mann verschwunden sei. Der Polizist schluckte gelangweilt den Brocken in seinem Mund hinunter und kam an den Tresen. »Seit wann?«, fragte er kurz. »Er kam gestern von einer Besprechung nicht mehr nach Hause.«
Erstaunt sah uns der Beamte an. »Da hätten wir viel zu tun, gute Frau, wenn wir so einer Anzeige jedes Mal nachgehen würden. Der kommt schon wieder, wollte sich halt mal eine Auszeit nehmen«, versuchte er halbherzig zu trösten. Ich sah meine Mutter aus den Augenwinkeln an. Ich hatte Kampfgeist erwartet, Mama hasst es, wenn sie jemand »gute Frau« nennt. Aber es geschah nichts.
Langsam wurde ich wütend. Was maßte sich dieser Mann an? Er kannte weder meinen Vater, noch wusste er, worum es ging. Doch hinter dem Tresen, gemächlich seine Brotbrösel von dem Jackett klopfend, nahm er keinerlei Notiz von mir.
Jetzt platzte es aus mir heraus: »Wenn meinem Vater was passiert ist, dann können Sie was erleben.« Ich war nah am Schreien.
Heinz Krug neben dem gerade gekauften Mercedes, in dem er am 11. September 1962 entführt wurde
Der Polizist verschluckte sich fast, aber wenigstens nahm er mich jetzt zur Kenntnis. »Was könnte ihm denn passiert sein, junge Dame?«
»Naja«, erklärte ich, »schließlich wurde er bedroht.«
Sichtlich unbeeindruckt schrieb das Krümelmonster ein paar Worte auf ein Formular, ließ es von meiner Mutter gegenzeichnen und komplimentierte uns hinaus. »Sie können ja in drei Tagen wiederkommen. Wenn er bis dahin nicht sowieso wieder aufgetaucht ist«, rief er uns noch nach.
Am späten Abend bekamen wir erstaunlicherweise einen Anruf vom Polizeipräsidium. Die Vermisstenmeldung war anscheinend doch weitergeleitet worden, und man machte Mama zum Vorwurf, nicht gleich auf dem Polizeirevier angegeben zu haben, dass es was mit dem ägyptischen Raketenprogramm zu tun haben könnte.
Mama war wie gelähmt und beantwortete eine oder zwei Fragen unter Tränen. Irgendwann reichte sie mir zitternd den Hörer.
»Sie wissen Bescheid?«, fragte mich der Beamte freundlich, aber bestimmt. Ich bejahte diese Frage und bestätigte, dass sich Papa mit jemandem treffen wollte und dazu Unterlagen eingepackt hatte. Auch die genaue Uhrzeit, zu der er das Haus verlassen hatte, und dass er vorher noch in seine Firma fahren wollte, konnte ich bestätigen. Kaj und ich hatten ja an diesem Dienstag im September Sommerferien und waren auch tagsüber zu Hause. Ich gab schließlich noch die Autonummer des beigen Mercedes unseres Vaters durch.
»Ihr Vater ist an dem ägyptischen Raketenprogramm beteiligt«, erwähnte der Kommissar am Telefon beiläufig. Auch das bestätigte ich und erklärte ihm, dass Papa gestern Abend einer Besprechung im Hotel Ambassador in München beigewohnt und daraufhin heute mit jemandem ein Treffen vereinbart hatte. Um wen es sich handelte, konnte ich ihm leider nicht sagen.
Der Beamte fragte mich noch nach meinem Alter und meinem Namen und bedankte sich für die Auskunft. Schließlich teilte er mir mit, dass er gleich morgen früh bei uns vorbeikommen würde.
Meine Hand zitterte leicht, als ich den Hörer auflegte. Was war nur plötzlich so brisant, und was hatte es mit Ägypten zu tun? Ich teilte Mama kurz das Wesentliche von dem Gespräch mit, aber sie weinte nur noch mehr und schluchzte. Dann bestätigte sie noch mal: »Papa wurde bedroht .«
Am nächsten Tag kamen zwei Polizisten zu uns in die Wohnung. Einer der Beamten war Herr Baumer, mit dem ich bereits telefoniert hatte. Der Ältere der beiden war der spätere Münchner Polizeipräsident Manfred Schreiber. Ich erinnere mich an ihn als den nettesten Polizisten überhaupt. Er tröstete Mama und versprach, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um unseren Vater wiederzufinden und natürlich uns zu beschützen. Was auch kommen möge, er sei immer für uns da und wir könnten ihn jederzeit auch persönlich anrufen.
Ich wurde noch einmal gefragt, ob ich wüsste, mit wem sich mein Vater am Abend vor seinem Verschwinden treffen wollte. Daraufhin berichtete ich Herrn Schreiber, dass er mir gesagt hätte, er würde sich im Hotel Ambassador mit zwei Herren treffen. Nadim, ein Freund unserer Familie, wäre ebenfalls dabei. Gerade wegen Nadim war ich ziemlich sauer gewesen, dass ich nicht hatte mitgehen dürfen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich gehofft, dass Mr. Nadim uns besuchen kommt, wenn er schon mal in Deutschland ist.
»Vielleicht«, überlegte ich laut, »ist auch der Herr Valentin dabei, zumindest klang der Name so ähnlich.« Auf die Frage, wer...