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Nur wer dem Faden bis zum Ende folgt, kann verstehen, was ich verkünde, singt der Waldvogel in Richard Wagners Oper Siegfried.
Am Freitag, dem 14. Oktober 1962, wurde Kirsten Flagstad in Oslo beigesetzt. Sie war zweifellos die größte Stimme ihrer Zeit, ein »funkelnder Knopf/an der Weste der Welt«, um Henrik Ibsens bekannten Ausspruch aus Peer Gynt zu zitieren. Eine Sängerin, die von mehreren englischsprachigen Musikkritikern bereits 1936 zur Stimme des Jahrhunderts ausgerufen worden war. Mehrere große Zeitungen in Europa und den USA publizierten nach ihrem Tod Huldigungsartikel über diese einzigartige Künstlerin. In ihrem Testament stand allerdings, dass ihr Tod erst nach der Einäscherung bekanntgegeben werden dürfe. Sie wünschte auch keine große Trauergemeinde bei ihrer Beisetzung, und sie untersagte es, ihre Asche aufzubewahren.1
Es war ein klirrend kalter Tag. So kalt, dass viele fröstelten, als sie zu den Orgelklängen von »In einsamer Stunde«, einer von Ole Bull um 1850 aufgezeichneten Volksweise, durch den Mittelgang des Vestre-Krematoriums schritten. Nachdem alle Trauergäste die Kapelle verlassen hatten, machte sich das Bestattungsunternehmen ans Werk. Die Kerzen wurden ausgeblasen, riesige Mengen von Kränzen und Blumen weggeräumt.
Am nächsten Tag schrieben die Zeitungen, alles, was Rang und Namen besitze, sei anwesend gewesen, und der Kranz des Königs habe majestätisch vor dem Sarg gelegen. Sie schrieben über die eleganten Nelkengestecke, über die strahlende Amaryllis und die schneeweiße Pracht von Lilien und Flieder, die beim Erscheinen der Zeitungen längst vernichtet worden waren.
Der Sarg war in den Keller hinabgelassen worden, wo in einem kleinen Büro über die Verbrennung der Särge und das Füllen der Urnen Buch geführt wurde. Die Flammen umloderten den Körper, der eine Stimme beherbergt hatte, die kein Orchester hatte übertönen können. Wie oft hatte diese Stimme gesungen:
Fliegt heim, ihr Raben! Raunt es eurem Herren, was hier am Rhein ihr gehört! An Brünnhildes Felsen fahrt vorbei! - Der dort noch lodert, weiset Loge nach Walhall!
Die Asche wurde in eine Urne mit der Aufschrift »Kirsten Flagstad« gefüllt und stand anschließend drei Jahre lang in einem Regal im Keller des Neuen Krematoriums. Vielleicht wurde »In einsamer Stunde« oben in der Kapelle viele Hundert Mal gespielt, ehe die Urne endlich zusammen mit fünf weiteren Urnen in einem anonymen Gedenkhain abgestellt wurde. Das verstieß zwar gegen Flagstads letzten Willen, aber es hinterließ den Eindruck, als habe alles seine Richtigkeit. So war der Standard. Norwegen hatte sich würdig von einer weltberühmten norwegischen Künstlerin verabschiedet.
Was war das für eine Lebensgeschichte, die dazu geführt hatte, dass ihr letzter Wunsch lautete, ihren Tod erst nach der Einäscherung bekanntzugeben, keine Trauergemeinde bei der Beisetzung zuzulassen und ihre Asche nicht aufzubewahren?
Kirsten Flagstad erlangte vor allem als Interpretin von Richard Wagners Opernfiguren Isolde und Brünnhilde Berühmtheit. Dabei war es ein anderer Komponist, der ihr noch mehr am Herzen: Ludwig van Beethoven.
Im Frühjahr 1802 hatte Beethoven Wien verlassen. Er befand sich in einer tiefen existenziellen Krise und suchte Zuflucht in der Natur. Früher hatte er in diesem mütterlichen Element eine gewisse Linderung gefunden, aber jetzt gab es auch dort keinen Seelenfrieden, keinen Schutz, keine Ruhe. Beethoven war ein sensibler Mensch, mit einem fein entwickelten inneren und äußeren Gehör, an dem er sich orientierte. Die Landschaft aber schwieg nun, die Umwelt verschloss sich vor ihm, und das Lied der Hirten würde bald nur noch eine vage Erinnerung sein. Ein immer stärkerer Gehörverlust hatte ihn von den Menschen und der sinnlich erfahrbaren Welt fortgetrieben. Ihm war bewusst, dass es keine Heilung gab, dass er gänzlich taub werden würde. Der Schmerz und die Verzweiflung über diese Erkenntnis waren fast nicht zu ertragen, er spielte sogar mit dem Gedanken an Suizid.2
Doch dann, in der finstersten und schwersten Stunde, muss sich ein starker Wille seiner bemächtigt haben. Die äußere Welt verschwand, aber wie durch ein Wunder eröffnete sich ihm eine andere Wirklichkeit. Er war für die Außenwelt immer tauber geworden, aber sein inneres Gehör fing nun neue Schwingungen aus den Harmonien der Sphären auf. Über den griechischen Mathematiker und Mystiker Pythagoras heißt es, er habe die Sphärenmusik hören können, habe aber die Ansicht vertreten, sie müsste vermittelt werden. Beethovens Gehör reichte nun auch so weit, er wurde zu einem Wiederentdecker der orphischen Leier, zu einem, der durch seine Musik die Seele der Menschheit aus der Unterwelt zurück auf die Erde führen konnte. Er bewegte sich von einem geozentrischen zu einem heliozentrischen Standpunkt und konnte damit seinen Kontakt zu einem spirituellen Zentrum vertiefen, zum ursprünglichen wahren Selbst. Von diesem Zentrum aus erkannte Beethoven die sinnlich erfassbare Welt als leere Form - und hinter Form und Leere fand er das Absolute.
In dieser Zeit arbeitete Beethoven an Christian Fürchtegott Gellerts Andachtsliedern, diese sechs Lieder nach Gellerts Gedichten sollten zum Opus 48 werden. Sie vermitteln eine tiefe Erkenntnis und Spiritualität, die sich nach der großen Lebenskrise eingestellt hatten, und nehmen einen besonderen Platz in Beethovens Gesamtwerk ein.
Zwei dieser Lieder hatte Kirsten Flagstad am 22. April 1947 in ihr Konzertprogramm für das ehrwürdige alte Opernhaus Academy of Music in Philadelphia aufgenommen. Den Anfang sollte das sechste Lied, das lange »Bußlied« machen. Das Konzert war eines ihrer ersten in den USA nach dem Krieg. Die Polizei hatte vor Ausschreitungen gewarnt. Angeblich hatte sich einer der Millionäre der Stadt bereiterklärt, mehr als 100 000 Dollar zu investieren, um ihre Auftritte in den USA zu bekämpfen. Sie konnte das nicht so recht glauben, war aber sicherheitshalber bereits am frühen Nachmittag unter Polizeischutz ins Opernhaus gefahren. Der Pianist, der sie begleiten sollte, war ganz blass. Er wirkte verängstigt und rechnete mit dem Schlimmsten.
Sie erfuhren, dass eine verdächtig große Bestellung für überall im Saal verteilte Sitze eingegangen war. Das war so außergewöhnlich, dass beim Kartenverkauf die Sitznummern notiert worden waren, diese Liste wurde der Polizei übergeben. Vor der Oper sammelte sich nun eine Gruppe von Studenten zu einer Art Protestmarsch. Flagstads Agent ging hinaus, um mit ihnen zu sprechen, und erfuhr von einigen, dass sie fünfzehn Dollar sowie Gratiseintrittskarten für ihre Teilnahme an der Demonstration erhalten hatten. Die Menge der Demonstranten wuchs im Laufe des Nachmittags weiter an. Ein Wagen fuhr mit einem Megafon umher; mit schriller Stimme wurde verkündet, dass eine Nazisympathisantin ein Konzert geben wolle, dass Amerikaner gegen die Nazis gekämpft hätten und von Kirsten Flagstads Freunden getötet worden seien und dass diese Gefallenen hier nicht anwesend sein könnten. Deshalb müssten alle anderen dieses Konzert meiden.
Eine Frau lief vor der Oper mit einem großen Plakat hin und her, auf dem Flagstad mit Adolf Hitler verglichen wurde. Journalisten waren mit Kamera und Notizblock zur Stelle, während sich immer neue Demonstranten anschlossen. Einsatzwagen der Polizei brachten Beamte, die strategisch vor und in der Oper platziert wurden. Kirsten Flagstad hatte hinausgelugt und fünfzehn Polizisten gezählt, die auf allen Seiten die Bühne bewachten, weitere waren im Saal verteilt. Der Pianist richtete ihr von der Polizei aus, sie solle die Bühne verlassen, wenn es im Haus zu gefährlichen Situationen käme.
Sie war sich nicht so sicher, ob sie diesem Befehl Folge leisten würde, denn gerade jetzt verspürte sie keine Angst. Ihre Furchtlosigkeit entsprang ihrer Überzeugung, dass sie nichts verbrochen hatte, nichts von dem, was vor der Oper geschrien und gebrüllt wurde, hatte mit ihr zu tun. So war Kirsten Flagstad nicht, und deshalb wollte sie dem Pöbel nicht den Sieg überlassen.
Sie betritt hocherhobenen Hauptes die Bühne, sinkt aber ein wenig in sich zusammen, weil der Saal so spärlich besetzt ist, schließlich ist sie es gewohnt, Tausende anzulocken. Dann stimmt sie den ersten Ton des »Bußliedes« an, den Text, der die Erkenntnis enthält, dass die Sünden, die wir in unserem Leben begehen, sich in erster Linie gegen unser höheres Selbst richten: »An dir allein, an dir hab ich gesündigt.« Sie kommt nicht über den ersten Ton hinaus, den das Klavier gleichzeitig anschlägt, denn nun brechen im Saal die Buhrufe los. Das geschieht sehr überraschend und bringt sie für einen Moment aus dem Takt, doch zugleich hört sie einen Applaus, der sie zum Weitermachen auffordert. Das Wunderbare ist, dass Beethoven und die große dramatische Stimme sogar einen Mob verzaubern können. Keine Buhrufe sind mehr zu hören, während sie das Lied vorträgt. Erst als das »Bußlied« verklungen ist, besinnt sich der Pöbel und tut, wofür er bezahlt worden ist, er buht, während das musikinteressierte Publikum applaudiert.
Unmittelbar vor dem nächsten Lied, in dem Beethoven ein wenig von der Süße der Wehmut vermittelt, »Wonne der Wehmut«, herrscht Stille im Saal. Sie horcht auf den Anschlag des Pianisten, als eine Stimme oben auf dem Balkon die Stille bricht und ein Wort mit zwei Tönen singt: Na.zi.
Vom Orchester her wird zum Balkon hochgeschrien: »Hör...
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