Schweitzer Fachinformationen
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Der Vortrag war zu Ende.
Der Projektor wurde ausgeschaltet, die Präsentation verschwand von der Leinwand.
Ich trank das Glas Wasser, das man mir aufs Rednerpult gestellt hatte, zur Hälfte aus und stieg vom Podium hinunter zum Publikum, wo sich schon viele von ihren Plätzen erhoben hatten und eifrig miteinander tratschten. »Die Entwicklung alter Stadtzentren und urbanes Gestalten« war mein Thema gewesen, und dass es auf Interesse stieß, bezeugte die beträchtliche Zuhörerschar, die sich heute hier eingefunden hatte. Ein Magistratsdirektor, Leiter des Planungsausschusses für den Privatsektor, nahm sich meiner an, und ich folgte ihm in die Aula vor dem Hörsaal. Alle strebten schon dem Ausgang zu, als sich eine junge Frau gegen den Strom durch die Menge zwängte und auf mich zusteuerte:
»Einen Moment, bitte!«
Ich blieb stehen, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Zu Jeans trug die Frau ein T-Shirt, alles sehr gewöhnlich, und das ungeschminkte Gesicht wurde von einem Kurzhaarschnitt umrahmt.
»Ich habe Ihnen etwas zu geben.«
Ich starrte sie nur verdutzt an, während sie mir einen Zettel hinhielt, auf dem groß ein Name prangte. Darunter standen in kleinerer Schrift Zahlen, die wohl eine Telefonnummer ergaben.
»Was soll das sein?«, fragte ich, während ich den Zettel in Empfang nahm. Inzwischen befand sich die Frau bereits wieder in einer Art Rückwärtsgang.
»Das ist die Nummer von jemandem, den Sie gut kennen, von früher«, antwortete sie, wobei sie den Abstand zu mir weiter vergrößerte. »Sie sollen sich unbedingt einmal bei ihm melden«, rief sie noch.
Ehe ich eine weitere Frage stellen konnte, war die junge Frau in der Menschenmenge verschwunden.
Dass ich gut eine Woche später nach Yeongsan aufbrach, lag an einer Textnachricht von Gus Frau. Gu war ein Freund aus Kindertagen. Ich stamme aus Yeongsan, habe dort meine gesamte Volksschulzeit verbracht, und das Nachbarskind Gu drückte mit mir zusammen die Schulbank. Die meisten Leute, die im Kreiszentrum lebten, besaßen entweder ein kleines Geschäft an der neu angelegten zentralen Hauptstraße, oder sie waren in den diversen Amtsgebäuden und Schulen angestellt. Diejenigen, die noch in den althergebrachten Anwesen hausten, diesen gefälligen Bauwerken mit ihren geräumigen Innenhöfen, das waren die Grundbesitzer. Ihnen gehörten die Äcker und Reisfelder draußen vor der Stadt. Mit dem Pappenstiel, den ihm seine Anstellung als Schreiber im Kreisamt einbrachte, konnte mein Vater unsere Familie gerade so erhalten.
Yeongsan lag am sicheren Ufer des Nakdong; nach dem Krieg war es dort nicht viel anders als vorher. Nachdem mein Vater mit heiler Haut aus dem Krieg zurückgekehrt war, verschaffte man ihm im Kreisamt von Yeongsan einen Posten als Hilfskraft. Meiner Mutter zufolge hing das damit zusammen, dass er sich in irgendeiner Gebirgsschlacht mit Waffenruhm bekleckert hatte, aber auch damit, dass er sich im Kreisamt schon unter den Japanern als Laufbursche die ersten Sporen verdient hatte. Unter den Bauerntölpeln vor Ort stach mein Vater heraus, hatte er doch zumindest sechs Jahre lang die Volksschule besucht; er beherrschte Japanisch in Wort und Schrift und kam mit chinesischen Schriftzeichen zurecht. Auf seinem kurzbeinigen Schreibtisch, vor dem er im Schneidersitz zu hocken pflegte, lagen alte Schwarten ordentlich Kante auf Kante: ein juristisches Kompendium, eine Einführung in die Verwaltungswissenschaft und dergleichen mehr, die Seiten vergilbt, Eselsohren anstelle von Lesezeichen. Dass wir später den Schritt in die Stadt wagen konnten, das war letzten Endes Vaters überdurchschnittlicher Bildung zu verdanken. Wir waren zwar arm, aber immerhin stellte Vaters Monatslohn ein verlässliches Einkommen dar. Einmal im Jahr kam sogar noch, in Form von ein paar Säcken Reis, ein Pachtzins hinzu, den ein kleines Stück Land abwarf. Die gut fünf Ar Grund hatte meine Mutter in die Ehe eingebracht.
Das Haus, in dem wir lebten, lag am Fuß eines kleinen Berges, der sich am Ortsende erhob. Es hatte neben einer Küche drei weitere Zimmer, die alle in einer Reihe angeordnet waren, mit einer großen offenen Diele in der Mitte. Das Elternhaus von Gu lag höher, das Grundstück war von unserem durch eine Mauer aus groben Steinen getrennt. Dabei handelte es sich um eine noch wesentlich simplere Hütte mit zwei Zimmern und einer Küche. In beiden Fällen war fachwerkverstärkten Lehmmauern ein herkömmliches Strohdach aufgesetzt. Später tauschte man diese Bedachung gegen Wellplatten aus Faserzement aus.
Wir waren damals eng befreundet, aber es gibt auch vieles, was ich von Gu nicht weiß. Meine Eltern zogen nämlich mit mir und meinem Bruder nach Seoul. Ich hatte damals gerade die Volksschule abgeschlossen. Dass Gu und ich uns wiedersahen, fand erst Jahrzehnte später statt, als wir schon auf die Vierzig zugingen. Ich bilde mir ein, es war in einem Hotelcafé im Zentrum von Seoul.
»Ergennst du mik wieda?«
Die mundartliche Färbung der Südostprovinz war bei dieser Frage unüberhörbar, aber der Groschen fiel nicht sofort. Der Fragesteller steckte in einem dunkelblauen Anzug und hatte den Hemdkragen über den Reverskragen seines Sakkos geschlagen - eine damals vor allem unter höheren Beamten sehr verbreitete Mode. Als er jedoch sagte, er sei Yun Byeong-gu aus Yeongsan, rutschte mir wie durch wundersame Zauberei sofort jener Spitzname heraus, den ich doch eigentlich schon längst vergessen hatte:
»Kokelbatate! Bist du's wirklich? Kokelbatate!«
Da mag man sogar blutsverwandt sein - wenn man sich erst nach vollen zwanzig Jahren wiedersieht, hat man einander im Normalfall kaum noch etwas zu sagen. Gewiss, man fragt sich gegenseitig aus, gibt Auskunft über die eigene Familie und die momentanen Lebensumstände, geht selbstverständlich gleich mal auf einen Kaffee, tauscht Visitenkarten oder wenigstens Kontaktdaten, verspricht einander, vage und unverbindlich, bald einmal einen zusammen zu heben, und geht wieder auseinander. Dann ist es aber oft so, dass man sich für den Rest seines Lebens überhaupt nicht mehr sieht. Bestenfalls telefoniert man noch ein paarmal miteinander; und selbst wenn es ausnahmsweise dazu kommt, dass man sich tatsächlich auf ein Gläschen verabredet, so hält eine derartige wiederaufgewärmte Verbindung für gewöhnlich nicht lange an. Schließlich pflegt man in aller Regel nur Interessensbeziehungen, die sich aus den konkreten Lebensumständen ergeben; fehlt ein echter Berührungspunkt, treffen einander sogar nahe Familienangehörige höchstens zum Ahnengedenken oder wenn jemand gestorben ist. Dass Gu und ich an unsere einstige Freundschaft hatten anknüpfen können, lag letzten Endes daran, dass mir das Planungsbüro San-Plan gehörte und er gerade das mittelständische Unternehmen Nam-Bau übernommen hatte. »Kokelbatate« - kaum hatte ich seinen Spitznamen ausgesprochen, begann sich in Gus Augenwinkeln Wasser zu sammeln. Er packte meine Hände und stammelte ganz ergriffen: »Das hast du also nicht vergessen?«
Wenn man vor unserem Haus saß und auf den kleinen Hof hinausblickte, so stand da linker Hand eine schöne Ulme, und dahinter kam gleich die Grundstücksmauer. Hinter dieser wiederum war Gu zu Hause. Jeden Morgen streckte er seinen Kopf über die Mauer und forderte mich lauthals auf, den Weg zur Schule gemeinsam zu gehen. Gleich hinter seinem Elternhaus führte ein steiler Hang in die Höhe, mit einem schütteren Bestand an jungen Pinien. Alle wohnten auf Land, das eigentlich dem Staat gehörte; es war kein Baugrund. Nach dem Krieg wurden viele kleinere Pächter in der Gegend betrogen und mussten die Felder aufgeben, die sie mühevoll bewirtschaftet hatten; sie schlossen sich zusammen und begannen, aus Lehm und Steinen behelfsmäßige Hütten hochzuziehen; Dutzende solcher Behausungen entstanden. In der Kreisstadt verdingten sich diese ehemaligen Pächter als Mädchen für alles. Sie betätigten sich beispielsweise als Friseur, Schreiner oder Kreisamts-Faktotum; manche arbeiteten auch als Erntehelfer für diejenigen Landwirte, die sich hatten halten können.
Auch ich wurde in einer dieser improvisierten Hütten geboren. Die Familie von Gu siedelte sich erst viel später an, ich ging damals schon in die dritte Klasse Volksschule. Am Tag, als sie eintrafen, suchte Gu sofort Anschluss, und tatsächlich trieben wir uns gleich den ganzen Nachmittag draußen herum und spielten in der Wildnis am Hügel. Gus Mutter hatte ein großes Herz. Sie stand bei einem Bauern im Dienst, wo sie nach der Süßkartoffelernte immer ausbuddelte, was den Rodern durch die Lappen gegangen war. Ich kann mich noch gut erinnern, wie sie uns eine Korbschüssel voller gedämpfter Bataten vorbeibrachte - für die werten Nachbarn zum Kosten, wie sie meinte. Gu nahm oft welche in die Schule mit, sie bildeten dann sein Mittagsmahl. Gus Vater ließ sich meist längere Zeit nicht zu Hause blicken, und wenn er einmal...
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