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Ich glaube nicht an Wunder. Zumindest nicht an das, was die Leute so als Wunder bezeichnen. Das liegt daran, dass ich mir eigentlich alles erklären kann. Dieses Grubenunglück in Chile zum Beispiel, als sie vor ein paar Jahren alle verschütteten Minenarbeiter nach über zwei Monaten lebend befreiten: »Ein Wunder, ein Wunder!«, riefen sie, also nicht nur die zu Recht aufgewühlten Angehörigen der Bergleute, nicht nur der gläubige Großteil der lateinamerikanischen Bevölkerung, nein, auch westliche Medien von New York City bis Mitteleuropa überhöhten die ganze Angelegenheit auf eine Weise, dass ich nur lachen konnte. Ein Wunder? So ein Quatsch. Die 33 Männer, die da 700 Meter unter Tage eingeschlossen waren, haben sich einfach als verdammt zähe Jungs entpuppt, aber immerhin reden wir hier auch von Bergleuten und nicht von irgendwelchen Schnarchnasen. Das sind harte Männer, die kommen schon klar, erst recht in Extremsituationen.
Oder das verschwundene malaysische Flugzeug. Die Leute staunen, wo es abgeblieben ist. Sie halten die ganze Angelegenheit für ein böses Wunder, ein blaues Wunder sozusagen. Alles bullshit! Na gut, ich gebe zu, ich weiß jetzt auch nicht ganz genau, was mit MH370 passiert, wo die Maschine denn nun abgeblieben ist - ob sie entführt wurde oder ob die Crew selbst an einer Sabotage beteiligt war, ob es nach einem Kabelbrand zum Ausfall der Bordelektronik kam und die Piloten mit ihrem Kurswechsel tatsächlich eine Notlandung in Penang oder Langkawi anpeilten, oder ob es im südlichen Indischen Ozean, in den Roaring Forties, abgestürzt ist, nachdem der Treibstoff nach Stunden führerlosen Fluges endgültig ausging. Oder ob der Pilot einfach ein wahnsinniger Selbstmörder war, der so viele Unschuldige wie möglich mit in den Tod reißen wollte. Ich bin kein Verschwörungstheoretiker, aber ich bin auch nicht naiv, und ich weiß ganz sicher, dass es irgendwo auf der Welt hochrangige Verantwortliche gibt, die uns in allen Einzelheiten erklären könnten, was mit der Maschine passiert ist, wo sie abgeblieben ist, wie es den Passagieren ergangen ist und warum das alles so mysteriös abgelaufen ist. Irgendwo da draußen gibt es Leute, die ganz genau wissen, warum die Wahrheit über das verschollene Flugzeug unter Verschluss gehalten wird. Weshalb MH370 zwar eine ganz heikle Geschichte ist, aber noch lange kein Wunder.
Manchmal glaube ich, die Leute möchten einfach gerne an Wunder glauben, ja sie müssen sogar an Wunder glauben, um die traurigen, bitteren, zynischen und gefährlichen Wahrheiten der Welt zu ignorieren.
Das einzige Ereignis in meinem Leben, das ich ansatzweise als Wunder bezeichnen würde, war dieses: Ich wurde am ersten Schultag an der Central High School in Providence neben Amy gesetzt. Sie teilten uns an die beiden Tische direkt vor dem Pult ein, und unsere Verärgerung über die Streberplätze schweißte uns sofort zusammen.
Während des Unterrichts konnte ich kaum den Blick von ihr nehmen, denn an Amy war alles lässig: wie sie mit den Fingern ständig in ihren Korkenzieherlocken herumpulte, als wollte sie erzwingen, dass sich ihre Haare noch mehr ringeln; wie sie immer laut und bebend rülpste und dann in dreckiges Lachen ausbrach, wenn sie Pepsi-Cola trank - und sie trank gerne Pepsi-Cola, nicht Coca-Cola, nein, Pepsi musste es für sie schon sein; oder ihren kleinen Höcker auf der Nase, den sie hatte, weil sie als Kind von der Schaukel gefallen war und sich die Nase gebrochen hatte - aber natürlich war ihr das nur passiert, weil sie auf dem Bauch geschaukelt und dabei das Gleichgewicht verloren hatte. Amy machte nie irgendetwas normal, sie war unberechenbar wie Wasser. Amy war wild. Amy war die Beste. Anfangs schüchterte ihre Lässigkeit mich manchmal beinahe ein, dann verhielt ich mich ihr gegenüber untertäniger als ein deutscher Fernsehmoderator gegenüber Hollywood-Prominenz. Aber das bekam ich schnell in den Griff, und so lange sah Amy darüber hinweg.
Und sie kümmerte sich vom ersten Tag an um mich, weil sie sich nicht darum scherte, was die coolen Kids machten, und weil sie immer ein bisschen für sich blieb. Also freundete sie sich mit dem Neuen aus Germany an, der im Klassenzimmer an den Tisch direkt neben ihrem gesetzt wurde.
In den ersten Wochen hingen wir fast jeden Nachmittag zusammen ab, wir trafen uns zum Kiffen im Park oder besuchten das Footballspiel unserer High-School-Mannschaft.
Und wenn wir besonders wagemutig drauf waren, dann beobachteten wir Dr. Jennings.
Dr. Jennings war ein Schönheitschirurg bei uns in der Nachbarschaft, seine Praxis war für die reichen Ehefrauen der Stadt eine Anlaufstelle. Wir hatten Angst vor ihm.
»Er hat böse Augenbrauen«, sagte Amy immer, und dabei blitzten ihre braunen Augen, die so dunkelbraun waren, dass ich mich in ihnen spiegeln konnte. Tatsächlich erschauderte auch ich beim Anblick der beiden grauen Brauen, die sich zu Dr. Jennings' gruseligem Lächeln formten wie die goldenen Bögen des McDonald's-M. Alle Jugendlichen im Ort waren sich sicher, dass Dr. Jennings heimlich Kinder belästigte. Weil er die Kinder mit seinem Lächeln immer so komisch anguckte, und weil er alle Kinder ständig anfasste und streichelte - so wie Väter das bei ihren Söhnen machen, aber Dr. Jennings war ja kein Vater. Auch wenn niemand ein Opfer von Jennings persönlich kannte, hielt sich das Gerücht offenbar seit Jahren so selbstverständlich, dass es auch für Amy kein Gerücht mehr war, sondern eine Tatsache: Dr. Jennings, der Kinderschänder mit den Clownsbrauen und dem irren Lächeln im Gesicht. Zur Tarnung behandelte er überwiegend ältere Damen, aber im Keller hielt er seine minderjährigen Geiseln gefangen, die er je nach Lust und Laune verprügelte oder begrapschte. So malten wir uns das aus. Vor allem Amy erging sich immer in besonders drastischen Schilderungen ihrer Vorstellungen, welche Schweinereien sich in Jennings' Keller zutrugen. Sie erzählte mir, dass Jennings' Tochter Miranda damals in ihre Klasse gegangen und ihre Sitznachbarin gewesen war, ehe sie von einem Tag auf den anderen einfach nicht mehr zur Schule kam - es hieß, Mirandas Mutter habe Dr. Jennings verlassen und sei mit Miranda und ihrer kleinen Schwester nach Kansas City gezogen. Amy war überzeugt, dass die Wahrheit viel schlimmer war, auch wenn sie nie ausformulierte, was sie für die Wahrheit hielt. Aber mit ihrer Fantasie bezüglich des gruseligen Dr. Jennings schaffte sie es damals, mich regelmäßig zu traumatisieren. Sie hasste ihn wirklich.
Vielleicht reagierte Amy eines Nachmittags auch deshalb so entschlossen, als Dr. Jennings mir zu nahe kam - in ihrem Kopf war er schließlich längst zu einem Monster mutiert, als er mich anfasste. Mit unseren Fahrrädern hatten Amy und ich uns in der Barnaby Street mal wieder ein Wettrennen geliefert, als ich kurz nach dem kleinen Hügel direkt vor Dr. Jennings' Praxis die Kontrolle über mein Rad verlor, mit dem Vorderreifen wegrutschte und mich böse auf den Asphalt packte. Ich hatte schlimme Schürfwunden, und es brannte wie die Hölle. Amy war schon mindestens 50 Meter vorausgefahren und bemerkte jetzt erst, dass ich den Anschluss verloren hatte und hingefallen war. Sie hielt an und kehrte um, aber schon vorher stand plötzlich Dr. Jennings über mir. Er hatte meinen Sturz offenbar aus dem Praxisfenster heraus beobachtet und war sofort nach draußen geeilt.
»Alles in Ordnung, Junge?«, fragte er so mitfühlend, als wäre ich sein Patient. »Hast du dir das Knie aufgeschlagen?«
Schon als er mir über die Haare strich, bekam ich eine Ekelgänsehaut, aber als er auch noch nach meinem Bein griff unter dem Vorwand, mein Knie mal genauer untersuchen zu wollen, überkam es mich. Ich begann zu schreien wie am Spieß.
»Nehmen Sie Ihre dreckigen Finger weg!«
Dr. Jennings sah mich mit aufgerissenen Augen an; erschrocken ließ er von mir ab.
»Was ist denn mit dir los, Junge?«, fragte er mit sanfter Stimme. »Was soll das? Warum brüllst du denn so herum?«
Ich ließ nicht nach: »Wollen Sie mich in Ihren Keller holen, oder was?«
Jennings sah mich an, als spräche ich in Zungen: »Was denn für einen Keller?«
Und dann schrie er ganz plötzlich auf, laut und röhrend wie ein Hirsch. Er griff sich in den Schritt, krümmte sich vor Schmerzen und sank schließlich auf die Knie. Amy hatte ihm mit voller Wucht von hinten zwischen die Beine getreten und griff nun nach meiner Hand, um mir aufzuhelfen.
»Komm schnell, Hansen«, zischte sie, »wir müssen hier weg, bevor das Schwein uns mitnimmt!«
Jennings lag winselnd auf der Straße. Wir schwangen uns wieder auf die Räder und fuhren davon, so schnell wir konnten. Ich strampelte mit aller Macht gegen die Schmerzen in meinen blutigen Beinen, und plötzlich tat es schon fast gar nicht mehr weh. Ich hatte ein komisches Gefühl im Bauch. Dass Amy mir zu Hilfe geeilt war, erfüllte mich in diesem Moment mit Stolz, schließlich hatte sie damit bewiesen, wie viel ich ihr bedeutete. Klar, ich war immer noch der Junge und sie war das Mädchen, und normalerweise muss so was umgekehrt laufen - ich müsste sie beschützen und vor Schweinen wie Jennings retten, aber diese eine Ausnahme ließ ich mir gefallen.
Mir war längst klar: Amy war meine Mara. Mara war die Freundin meines großen Bruders Hauke, er war ungefähr seit dem Kindergarten mit ihr zusammen. Die beiden waren das beste Team, sie waren richtige Freunde und knutschten trotzdem ständig miteinander herum. Ich bewunderte sie dafür und hatte mir insgeheim immer gewünscht, auch irgendwann eine Mara nur für mich zu finden. Jetzt...
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