Schweitzer Fachinformationen
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Avdo grübelte, wie er den Grabstein des Toten gestalten sollte, der sieben Namen trug und heute beerdigt worden war. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und trank Tee in kleinen Schlucken. Die Finger mit der Zigarette streckte er aus, als spräche er mit jemandem, und sagte sich, der Grabstein dieses Mannes muss schwarz sein, und genau in der Mitte soll er ein rundes Loch haben. Schaut man von der einen Seite hindurch, soll man auf der anderen das Nichts sehen. Das Nichts muss wachsen, muss tiefer werden, je länger man hinschaut. Der Tote war einst Soldat gewesen. Als man ihn beim Militäreinsatz in Dersim verwundet und bewusstlos am Ufer des Euphrat fand, hatte er das Gedächtnis verloren. Die Soldaten, die ihn fanden, erklärten, er heiße Haydar, sei beim Angriff der Banden der kurdischen Zaza verwundet worden und müsse wieder in seine Einheit aufgenommen werden. Unverzüglich kehrte Haydar ins Glied zurück, und machte beim Marsch in der Hitze, auf dem die aus ihren Dörfern geholten Zaza barfüßig deportiert wurden, ausgiebig Gebrauch von der Peitsche. Verspürte er auch hin und wieder Schwindel und fühlte sich wie ins Nichts gestürzt, zweifelte er weder an sich noch an dem, was er tat. Als die Einheit das Hauptquartier in Dersim erreichte, die Hälfte der Deportierten waren als Leichen auf der Strecke geblieben, erkannte ihn ein blinder alter Mann unter den Gefangenen an seiner Stimme. Was ist nur aus dir geworden, fragte der Alte und berichtete von Haydars Vergangenheit. Sie stammten aus demselben Dorf. Sein Name lautete gar nicht Haydar, sondern Ali. Im Zuge der Deportation sei er auf der Flucht vor den Soldaten niedergeschossen worden und am Ufer des Euphrat liegengeblieben. Als die Soldaten, die ihn fanden, feststellten, dass er das Gedächtnis verloren hatte, hätten sie ihm eine neue Vergangenheit und Zukunft verpasst und behauptet, er sei Soldat. Als der Soldat von dieser anderen Identität erfuhr, desertierte er von seiner Einheit und floh gen Süden ins mesopotamische Tiefland. Mesopotamien lehrte ihn, dass er keine wahre Identität hatte. Du bist weder Haydar noch Ali, denn du entsinnst dich weder der Kindheit des einen noch des anderen. Wer sich aber nicht an seine Kindheit erinnert, kann sich selbst nicht kennen. Wem willst du glauben, dem blinden Alten oder den Soldaten? So zog er weiter, wanderte bis an sein Lebensende umher. Er beobachtete die Sterne, stellte sich Gott anheim, las in der Hoffnung auf einen Ausweg jedes Buch, das ihm unterkam. Vierzig Jahre lang war er durch Jerusalem, Kairo, Kreta, Athen, Rom und Istanbul gestreift und hatte sich an jedem Ort einen neuen Glauben und einen neuen Namen zugelegt. Als man ihn an diesem Tag zu Grabe trug, lagen ein verblichenes Halstuch und ein Zettel mit sieben Namen darauf auf seinem Sarg: Ali, Haydar, Isa, Musa, Muhammet, Yunus, Adem. Die letzte Woche hatte er im Bett verbracht. Dem Nachbarn, der ihn in seinem Zimmer voller Bücher und Wein besuchte, hinterließ er eine Tasche und einen Brief, die dem Grabsteinmetz Meister Avdo übergeben werden sollten.
Als sich des Nachts der Friedhof leerte, es ringsum still wurde und Nebel sich auf das diesseitige Ufer Istanbuls legte, öffnete Avdo den Umschlag:
»Avdo. In deine Obhut gebe ich meinen Grabstein. Etliche Religionen nahm ich an, ebenso dutzende Namen. Am Ende blieb mir kein einziger Glaube. Trotz all der Namen blieb mir auch von ihnen keiner. Dich lernte ich kennen, als du ein kleiner Junge warst und mit deiner wohlklingenden Stimme sangst. Dein Name ist mir in Erinnerung, Avdo, doch wie ich damals hieß, weiß ich nicht mehr. Vielleicht erinnerst du dich daran. Durch Zufall erfuhr ich letztes Jahr, dass du hier auf diesem Friedhof lebst. Mir kam zu Ohren, was dir widerfahren war. Ich suchte dich nicht auf, um dich herum gab es ja bereits genug Tote. Es hieß, du fertigst für jeden den Grabstein, der zu seiner Seele passt. Gestalte auch einen für mich. Folgendes soll mein Grabstein dem Universum sagen: Das einzig Schlechte an Gott ist, dass es ihn nicht gibt. In diesem Sinn sollst du meinen Grabstein anfertigen. In den Umschlag stecke ich Geld für deine Auslagen und für die Lieder, die du als Kind gesungen hast. Und in meiner Tasche sind ein paar Dinge, die dir womöglich nützlich sind.«
Avdo seufzte, las den Brief ein zweites Mal, legte ihn dann auf den Umschlag. Er musterte den Nebel, der über die Gräber waberte, und fragte sich, welche Stimmen in dieser Nacht von dort kommen würden. In nebligen Nächten vernahm er mitunter Stimmen aus seiner Kindheit, manchmal aber auch das Seufzen der Toten. Als er den Brief las, war ihm, als beobachtete ihn seine barfüßige Kindheit aus dem Nebel heraus. Nur wenige Schritte entfernt stand sie da wie die geduldigen Zypressen. Sie bewegte sich sacht, machte Schritte, wo sie hintrat, knisterten die dürren Reiser. Bei jedem Knistern wurden Stimmen aus seiner Kindheit lebendig. Stimmen, die lachten, sangen, riefen, faserten durcheinander und schwebten, ungeachtet der Seufzer der Toten, fröhlich über den Friedhof. Frohen Herzens spürte Avdo, wie die Stimmen näher kamen. Er lehnte sich zurück und lauschte der Nacht. Er entsann sich seiner Kindheit, wusste also, wer er war, kannte zumindest seinen Namen. Er war nicht wie der Mann mit den sieben Namen. Was er all die Jahre erlebt hatte, lag in den geschützten Truhen seines Geistes bewahrt. Er entsann sich noch der ältesten Melodien, hatte sämtliche Liedtexte im Kopf. Ihm kam eines der Lieder in den Sinn, die er auf Plätzen und Märkten gesungen hatte, dank derer er sich hatte satt essen können. Leise, damit sein Hund, der ihm zu Füßen lag, nicht erwachte, begann er zu singen. Heba etme bir günümü ey canan / Bir gün bir ömürlük uzundur / Dara atma fer ömrümü ey canan / Bir ömür bir günlük uzundur. (Verschwende nicht einen meiner Tage, Geliebte / Ein Tag ist so lang wie ein Leben / Verachte nicht mein munteres Leben, Geliebte / Ein Leben ist so lang wie ein Tag.) Sang er am Fuß kalter Mauern, traten Frauen aus den Häusern, um dem Jungen mit der Schmachtstimme den Kopf zu tätscheln. Brot gaben sie ihm, heiße Milch, mitunter ließen sie ihn auch in ihren Häusern nächtigen. Er freute sich, wie jedes Waisenkind nahm er Zuflucht zu den zärtlichen Händen, dem traulichen Atem der Frauen. Den schönsten Schlaf genoss er in ihren Häusern. Er träumte, die Frau im Haus wäre seine Mutter, beim Einschlafen hoffte er, sein Traum wäre wahr geworden, wenn er am nächsten Morgen erwachte. Jene Nächte waren so lang wie ein Leben. Schlug er am Morgen die Augen auf und erblickte die Mutter der Familie, schaute er sie voller Liebe an und erzählte ihr, was er in der Nacht geträumt hatte. Im Traum habe ein alter Mann auf einem Friedhof Steine behauen, der habe ihn vor der Kälte geschützt und ihm erlaubt, mit seinem Hund zu spielen, auch der alte Mann sehne sich nach seiner Mutter, die er nie gesehen hatte.
Wer war wessen Traum, träumte der alte Avdo seine Kindheit oder träumte seine Kindheit ihn? Die Sache glich der Verwirrung des Toten mit den sieben Namen, dem Leben, das er geführt hatte, ohne von sich selbst zu wissen. So ist das Leben, dachte Avdo, wie sonderbar. Er nippte am Tee und zog erneut an der Zigarette. Als er den Rauch in die Luft blies, bröckelte die Asche von der Zigarette auf den Tisch. Er fand sie schön. Leicht und grau im Nebellicht. Er beugte sich vor, pustete und beobachtete, wie die Asche aufflog und sich über die Gräber verteilte. Als die Kinderstimmen entschwebten, fiel ihm auf, wie still es ringsum geworden war. Auch die Geräusche der Autos, die von der Straße neben dem Friedhof herüberlärmten und die Nacht wie ein Panzer umschlossen, waren verstummt. Als der Nebel dichter wurde, schlichen die Autos nur noch oder die ganze Stadt hatte sich nach Hause verzogen.
Strenger Winter setzte ein. Im Radio hieß es, die kommende Nacht wäre die längste des Jahres. Um Mitternacht würde sich der Nebel heben und gegen Morgen Schneefall einsetzen. In Weiß gehüllt schlief die Stadt ein, morgen würde sie im Weißen erwachen. Wenn sich Sturm hinter den Schnee setzte und die Straßen einschneiten, gäbe es ein paar Tage schulfrei, darüber würden sich die Kinder freuen. Schön und gut, wenn die Kinder sich freuten, aber was sollte aus den Obdachlosen und Straßenkötern werden? Sie würden sich an Hauswände schmiegen oder in den Ruinen der Stadtmauer Zuflucht suchen und auf den letzten Atemhauch gefasst sein, den das Schicksal ihnen zugedacht hatte. Hätten die Obdachlosen Glück, würde man ihren Leichnam finden und auf dem Armenfriedhof begraben, wäre ihr Glück noch ein Quäntchen größer, würden sie als Zahl im Radio oder in der Zeitung vorkommen. In Istanbul wurde die Anzahl der bei Schneesturm Erfrorenen in den Nachrichten genannt, die Hunde waren nicht einmal eine Erwähnung als Zahl wert, ihre Kadaver wurden zum Verrotten auf dem Müll entsorgt. Es war schwer, mit der Kälte in Istanbul zurechtzukommen, mit dem klammen Frostwetter, das vom Meer aufzog und durch Mark und Bein drang. Dach und Wände von Avdos Hütte waren intakt, sein Feuer loderte. In solchen Nächten ließ er die Lampe draußen brennen, wie ein Leuchtfeuer gab sie Obdachlosen Zeichen, wies ihnen den Weg zu ihm. Er hätte gern gesehen, wenn auch sein Hund ein Zeichen gegeben, geheult und die Straßenköter eingeladen hätte. Doch der lag lang ausgestreckt unter dem Tisch und schlief satt in seiner sicheren Welt. Seit einer Stunde hatte er sich nicht geregt. Er wurde alt. In letzter Zeit legte er sich bei jeder Gelegenheit hin, verzog sich tagsüber in die Höhle, die er hinter dem Haus gegraben hatte und döste dort stundenlang. Er fraß...
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