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1. Tag Student Demirtay erzählt Die Eisentür
»Eigentlich ist es eine lange Geschichte, aber ich mache es kurz«, fing ich an. »In Istanbul hatte man nie zuvor einen solchen Schneefall erlebt. Als gegen Mitternacht zwei Nonnen das St.-Georg-Krankenhaus in Karaköy verließen, um zur St.-Antonius-Kirche zu gehen und die schlimme Nachricht zu überbringen, lagen zuhauf tote Vögel unter den Dachvorsprüngen. Mitten im April zerfraß der Frost die Blüten der Judasbäume und der schwertscharfe Wind piesackte die Straßenköter. Hast du es je im April schneien sehen, Doktor? Es ist eigentlich eine lange Geschichte, aber ich mache es kurz. Die beiden Nonnen kämpften sich durch das Schneegestöber, eine war jung, die andere alt. Schon fast auf Höhe des Galata-Turms sagte die junge Nonne zur anderen: Vom Fuß der Steigung an folgt uns ein Mann. Die ältere Nonne meinte: Ein Mann, der uns bei Sturm und Nacht folgt, kann nur eines im Sinn haben.«
Das Ächzen der Eisentür unterbrach mich. Ich warf dem Doktor einen Blick zu.
Es war eisig in der Zelle. Während ich dem Doktor die Geschichte erzählte, lag Barbier Kamo zusammengerollt auf dem nackten Betonboden. Decken gab es hier nicht, wir schmiegten uns aneinander wie Hundewelpen, um ein wenig Wärme zu finden. Seit Tagen drehte sich die Zeit um immer denselben Punkt, unmöglich zu bestimmen, wo die Nacht entlangfloss und wo der Morgen. Wir kannten den Schmerz und erlebten Tag für Tag aufs Neue das Grauen, das unser Herz überschwemmte, wenn man uns zur Folter holte. In dem kurzen Intervall, wenn wir uns gegen den Schmerz zu feien versuchten, waren Mensch und Tier, Weiser und Irrer, Engel und Teufel einander gleich. Als das Ächzen der Eisentür durch den Gang hallte, richtete Barbier Kamo sich auf. »Sie kommen mich holen«, unkte er.
Ich stand auf, trat an die Zellentür und spähte durch das kleine, in Kopfhöhe befindliche Gitterfenster hinaus. Das Licht der Lampe im Gang fiel auf mein Gesicht, als ich auszumachen versuchte, wer von der Eisentür her kam. Es war niemand zu sehen, vermutlich warteten sie am Eingang. Geblendet vom Lichtschein kniff ich die Augen zusammen. Ich warf einen Blick zur Zelle gegenüber und fragte mich, ob das junge Mädchen, das heute wie ein verwundetes Tier dort hineingeworfen worden war, wohl noch lebte.
Die Geräusche im Gang ebbten ab, ich setzte mich wieder und legte meine Füße über die des Doktors und von Barbier Kamo. Zum Aufwärmen kuschelten wir die bloßen Füße aneinander und bliesen uns den warmen Atemhauch aus nächster Nähe ins Gesicht. Auch Wartenkönnen war eine Kunst. Ohne jedes Bedürfnis zu reden, horchten wir auf das kaum wahrnehmbare Klappern von jenseits der Mauern.
Den Doktor hatten sie vor zwei Wochen in die Zelle gesteckt. Als man mich am nächsten Tag bluttriefend dazuwarf, hatte er mir die Wunden gereinigt und sein Jackett über mich gebreitet. Jeden Tag holte ein anderes Verhörteam uns mit verbundenen Augen heraus und brachte uns Stunden später kaum bei Sinnen zurück. Barbier Kamo wartete bereits seit drei Tagen. Seit er hier im Kerker saß, hatte man ihn weder zum Verhör geholt noch auch nur seinen Namen genannt.
Die Zelle von einem Meter Breite und zweien Länge war uns zunächst winzig vorgekommen, mittlerweile hatten wir uns eingewöhnt. Boden und Wände waren aus Beton, die Tür aus grauem Eisen. Einrichtungsgegenstände gab es keine. Wir hockten auf dem nackten Boden; schliefen uns die Beine ein, standen wir auf und drehten Runden. Manchmal, wenn wir den Kopf hoben, bei einem Schrei aus der Ferne, blickten wir einander im schummrigen, vom Gang hereinfallenden Licht an. Die Zeit verging mit Schlafen und Reden. Wir froren erbärmlich und wurden jeden Tag dünner.
Wieder erklang das rostige Quietschen der Eisentür. Die Vernehmer gingen fort, ohne jemanden aus den Zellen mitzunehmen. Wir lauschten, warteten ab, um uns zu vergewissern. Als die Eisentür ins Schloss fiel, verstummten die Geräusche, der Gang lag verlassen da. Barbier Kamo schnaufte. »Die Bastarde haben mich nicht geholt. Ohne jemanden abzuführen, sind sie fort«, brummte er. Er hob den Kopf, starrte zur finsteren Decke hinauf, dann rollte er sich wieder auf dem Boden zusammen.
Der Doktor bat mich weiterzuerzählen.
»Die beiden Nonnen im Schneegestöber .«, fuhr ich fort, da griff Barbier Kamo nach meinem Arm und fiel mir ins Wort. »Junge, könntest du nicht diese Geschichte ändern und etwas Vernünftiges erzählen?«, drängte er. »Eiskalt ist es hier, wir frieren uns den Arsch ab, und du erzählst Geschichten von Schnee und Sturm!«
Waren wir in Kamos Augen Freunde oder Feinde? Zürnte er uns, weil wir sagten, dass er seit drei Tagen im Schlaf redete, verachtete er uns? Würden sie ihn erst mit verbundenen Augen abführen, sein Fleisch in Fetzen reißen, ihn aufhängen und obendrein ans Kreuz nageln, dann mochte er wohl lernen, uns zu vertrauen. Im Augenblick ertrug er unsere Worte und unsere geschundenen Leiber nur notgedrungen. Der Doktor berührte sanft seine Schulter. »Schlaf gut, Kamo«, sagte er und bettete ihn wieder.
»In Istanbul hatte man nie zuvor einen derart heißen Tag erlebt«, fing ich an. »Eigentlich ist es eine lange Geschichte, aber ich mache es kurz. Als gegen Mitternacht zwei Nonnen das St.-Georg-Krankenhaus in Karaköy verließen, um zur St.-Antonius-Kirche zu gehen und die frohe Kunde zu überbringen, zwitscherten munter die Vögel auf den Dachvorsprüngen. Mitten im Winter blühten beinah die Knospen der Judasbäume auf und verdampften vor Hitze schier die Straßenköter. Hast du je im strengen Winter Wüstenhitze ausbrechen sehen, Doktor? Die beiden Nonnen kämpften sich in der Hitze voran, eine war jung, die andere alt. Schon fast auf Höhe des Galata-Turms angelangt, sagte die junge Nonne zur anderen: Vom Fuß der Steigung an folgt uns ein Mann. Die ältere Nonne meinte: Ein Mann, der uns in der düsteren, einsamen Gasse folgt, kann nur eines im Sinn haben: Vergewaltigung! Entsetzt hetzten sie die steile Gasse hinauf. Keine Menschenseele war zu sehen, die Leute waren an dem unvermutet heißen Tag zur Galata-Brücke geströmt oder an die Gestade des Goldenen Horns hinunterspaziert, nun, gegen Mitternacht lagen die Gassen wie ausgestorben da. Der Mann kommt näher, er holt uns ein, noch ehe wir oben sind, sagte die junge Nonne. Dann laufen wir, erwiderte die Ältere. In ihren langen Röcken und dicken Gewändern hasteten sie an Schildermachern, Musikalienhandlungen und Buchläden vorüber. Alle Geschäfte hatten geschlossen. Die junge Nonne drehte sich um. Der Mann rennt auch, sagte sie. Schon waren sie außer Atem, Schweiß rann ihnen den Rücken hinunter. Trennen wir uns, bevor er uns erwischt, schlug die Alte vor, dann kommt wenigstens eine von uns davon. Sie stoben in zwei verschiedene Gassen davon, ungewissem Schicksal entgegen. Die junge Nonne bog rechts ein und dachte, besser, ich drehe mich nicht mehr um. Ihr fiel die Geschichte aus dem Heiligen Buch ein. Auf keinen Fall wollte sie sich den Zorn zuziehen, der jene traf, die sich in der Ferne noch einmal umdrehen, um einen letzten Blick auf die Stadt zu werfen. Starr hielt sie die Augen auf die schmalen Gassen gerichtet, floh durch die Dunkelheit und änderte mehrfach die Richtung. Recht hatten jene, die den Tag für verflucht hielten. Im Fernsehen hatten Weissager gesprochen, außergewöhnliche Hitze mitten im Winter kündige eine Katastrophe an, die Narren des Viertels hatten den lieben langen Tag über die Stränge geschlagen. Nach einer Weile stellte die junge Nonne fest, dass außer ihren eigenen Schritten kein Geräusch zu hören war, da hielt sie an einer Ecke inne. In einer fremden Gasse lehnte sie den Rücken an eine Mauer und spähte umher, sie hatte sich verlaufen. Keine Menschenseele war zu sehen. In Begleitung eines Hundes, der ihr um die Füße scharwenzelte, schlich sie an der Mauer entlang. Eigentlich ist es eine lange Geschichte, aber ich mache es kurz. Als die junge Nonne endlich bei St. Antonius eintraf, war die andere noch nicht da. Sie stieß hervor, was ihnen widerfahren war, und versetzte alle in Schrecken. Gerade wollte eine Handvoll Mannhafter sich aufmachen, die ältere Nonne zu suchen, da ging das Tor auf und herein trat aufgelöst und aufgewühlt die Alte. Sie sank auf einen Schemel, verschnaufte und schlürfte zwei Schalen Wasser. Erzähl, was geschah, drängte die Junge ungeduldig. Ich bog wieder und wieder in andere Gassen ab, berichtete die Ältere, doch ich konnte den Mann nicht abhängen, bald sah ich ein, ich würde ihm nicht entkommen. Und dann, drängelte die Junge weiter. Ich blieb an einer Ecke stehen, da blieb auch der Mann stehen. Und dann? Ich hob meine Röcke. Und dann? Der Mann ließ die Hosen herunter. Uuund? Ich rannte weiter. Und dann? Was soll schon geschehen sein, eine Frau mit geschürzten Röcken rennt schneller als ein Mann mit heruntergelassenen Hosen.«
Barbier Kamo prustete los. Wir sahen ihn zum ersten Mal lachen. Sein lang auf dem Boden ausgestreckter Körper bebte, als vergnügte er sich im Traum mit seltsamen Wesen. Ich wiederholte den letzten Satz. »Eine Frau mit geschürzten Röcken rennt schneller als ein Mann mit heruntergelassenen Hosen.« Barbier Kamos Lachen explodierte in Gelächter, und ich fühlte mich bemüßigt, ihm den Mund zuzuhalten. Da schlug er die Augen auf und sah mich an. Hörten uns die Wärter, würden sie uns entweder verprügeln oder uns damit bestrafen, stundenlang an der Wand zu stehen. Auf diese Art wollten wir die Pausen zwischen der Folter allerdings nicht unbedingt verbringen.
Barbier Kamo richtete sich auf und lehnte den Rücken an die Wand gegenüber. Er holte tief Luft, sein Gesicht wurde ernst und nahm erneut den...
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