Schweitzer Fachinformationen
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12. Juni
So einen Sommer habe ich noch nicht erlebt. Hundstage seit Mitte Mai. Den ganzen Tag hängt dichter, staubiger Dunst völlig unbeweglich über Straßen und Plätzen.
Erst abends lebt man etwas auf. Vorhin habe ich einen Abendspaziergang gemacht, wie fast jeden Tag nach meinen Krankenbesuchen, und die sind im Sommer nicht gerade zahlreich. Von Osten her kommt ein kühler, anhaltender Luftstrom, der Dunst hebt sich, segelt langsam davon und bildet weit hinten im Westen einen langen Schleier aus rotem Staub. Kein Geratter von Lastfuhrwerken mehr, nur ab und zu eine Droschke und die Straßenbahn mit ihrem Geklingel. Ich gehe gemächlich die Straße entlang, treffe hier und da einen Bekannten und bleibe zu einem Schwatz an der Straßenecke stehen. Aber warum muss mir ständig dieser Pastor Gregorius über den Weg laufen? Ich kann diesen Mann nicht sehen, ohne dass mir eine Anekdote in den Sinn kommt, die ich einst über Schopenhauer1 gehört habe. Der mürrische Philosoph saß eines Abends im Café an seinem Eckplatz, wie üblich allein; die Tür geht auf, und herein kommt ein Kerl von unsympathischem Aussehen. Schopenhauer mustert ihn mit vor Ekel und Abscheu verzerrtem Gesicht, springt auf und fängt an, dem Mann seinen Stock auf den Schädel zu hauen. Und zwar nur wegen seines Aussehens.
Nun, ich bin kein Schopenhauer; als ich von Weitem den Pastor auf mich zukommen sah, es war auf der Vasabron2, blieb ich gleich stehen, um die Aussicht zu betrachten, die Arme aufs Brückengeländer gestützt. Die grauen Häuser auf Helgeandsholmen3, die morsche gotische Holzarchitektur des alten Dampfbads, die sich gebrochen im fließenden Wasser widerspiegelte, die großen alten Weidenbäume, die ihre Blätter in den Fluss tauchten. Ich hoffte, der Pastor hätte mich nicht gesehen und würde mich auch von hinten nicht erkennen, und ich hatte ihn schon fast vergessen, als ich ihn plötzlich neben mir stehen sah, die Arme auf dem Geländer wie ich, den Kopf schief gelegt - in genau derselben Haltung wie vor zwanzig Jahren in der Jakobs-Kirche4, als ich neben meiner seligen Mutter auf der Familienbank saß und zum ersten Mal diese abscheuliche Physiognomie wie einen ekligen Pilz auf der Kanzel auftauchen sah, wo er sein «Abba, lieber Vater» anstimmte. Dasselbe schwammige, fahle Gesicht, dieselben schmutzig gelben Koteletten, mittlerweile vielleicht ein wenig ergraut, und derselbe unergründlich verschlagene Blick hinter den Brillengläsern. Kein Entkommen möglich, schließlich bin ich jetzt sein Arzt, wie der vieler anderer, und er sucht mich gelegentlich mit seinen Beschwerden auf.
«Ach, guten Abend, Herr Pastor, wie geht es Ihnen.»
«Nicht gut, gar nicht gut, das Herz ist schwach, schlägt unregelmäßig, und nachts denke ich manchmal, es bleibt stehen.»
«Das freut mich», dachte ich, «von mir aus kannst du ruhig sterben, du alter Schuft, dann muss ich dich nicht mehr sehen. Außerdem hast du eine junge und schöne Frau, der du vermutlich das Leben zur Hölle machst, und wenn du stirbst, wird sie wieder heiraten und sich einen viel besseren Mann zulegen.» Aber laut sagte ich: «Aha, soso, vielleicht sollten Sie in den nächsten Tagen bei mir vorbeikommen, Herr Pastor, dann sehen wir mal nach, wie es steht.»
Aber er hatte noch viel mehr zu erzählen, wichtige Dinge: Diese Hitze ist ja geradezu unnatürlich, was für ein Unsinn, auf diesem kleinen Holm da ein großes Reichstagsgebäude zu bauen, und übrigens fühlt sich meine Frau nicht recht wohl.
Dann ging er schließlich, und ich setzte meinen Spaziergang fort. Ich kam in die Altstadt, den Storkyrkobrinken hinauf, in die Gassen hinein. Eine schwüle Dämmerung in den engen Schluchten zwischen den Häusern und seltsame Schatten an den Wänden, Schatten, wie man sie in unseren Vierteln da unten nie sieht.
- - - Frau Gregorius. Erst kürzlich hat sie mir einen sonderbaren Besuch gemacht. Sie kam in meine Sprechstunde; ich sah genau, wann sie eintraf und dass sie zeitig kam, doch sie wartete bis zuletzt und ließ anderen, die nach ihr an der Reihe waren, den Vortritt. Endlich trat sie ein. Sie errötete und stammelte herum. Schließlich brachte sie irgendetwas von Halsweh hervor. Ja, es sei jetzt übrigens schon besser. - «Ich komme morgen wieder», sagte sie, «ich bin gerade sehr in Eile .»
Noch ist sie nicht wiedergekommen.
Ich trat aus den Gassen heraus und überquerte die Skeppsbron5. Der Mond stand über dem Skeppsholmen, zitronengelb im Blau. Doch meine heitere und gelassene Stimmung war verflogen, die Begegnung mit dem Pastor hatte sie verdorben. Dass es Menschen wie ihn auf der Welt geben darf! Wer kennt nicht das alte Problem, das so oft zur Sprache kommt, wenn ein paar arme Schlucker um einen Tisch im Café versammelt sind: Wenn du einen chinesischen Mandarin töten könntest, indem du einfach auf einen Knopf an der Wand drückst, oder durch einen reinen Willensakt, um dann seine Reichtümer zu erben - würdest du es tun? Über diese Frage habe ich mir nie den Kopf zerbrochen, vielleicht weil ich das Elend der Armut nie so richtig hart und bitter erlebt habe. Aber ich glaube, wenn ich diesen Pastor töten könnte, indem ich auf einen Knopf an der Wand drücke, ich würde es tun.
Als ich in der unnatürlichen, fahlen Dämmerung der Nacht heimwärts ging, schien mir die Hitze wieder genauso drückend wie mitten am Tag, gleichsam mit Angst gesättigt; die hinter den Fabrikschornsteinen auf Kungsholmen6 aufgetürmten roten Staubwolken hatten sich verdunkelt und wirkten wie schlummerndes Unheil. Mit langen Schritten ging ich hinunter zur Klarakirche7, den Hut in der Hand, denn der Schweiß war mir auf die Stirn getreten. Nicht einmal unter den großen Bäumen des Friedhofs kühlte es ab, aber fast auf jeder Bank saß ein flüsterndes Paar, manche hielten sich eng umschlungen und küssten sich mit trunkenen Augen.
Ich sitze jetzt an meinem offenen Fenster und schreibe dies nieder - für wen? Weder für einen Freund noch für eine Freundin, eigentlich nicht einmal für mich selbst, denn ich lese heute nicht, was ich gestern geschrieben habe, und werde dies morgen nicht lesen. Ich schreibe, um die Hand zu bewegen, lasse meinen Gedanken freien Lauf; schreibe, um schlaflose Zeit totzuschlagen. Warum finde ich keinen Schlaf? Schließlich habe ich kein Verbrechen begangen.
Was ich hier zu Papier bringe ist keine Beichte; wem sollte ich beichten? Ich erzähle nicht alles von mir selbst. Ich erzähle nur das, was mir zu erzählen beliebt; aber ich sage nichts, was nicht wahr ist. Ich kann doch nicht die Erbärmlichkeit meiner Seele verleugnen, falls sie denn erbärmlich ist.
Draußen hängt die große blaue Nacht über den Bäumen des Friedhofs. Es ist jetzt still in der Stadt, so still, dass das Seufzen und Flüstern der Schatten dort unten bis zu mir heraufdringt, und zuweilen bricht ein freches Lachen durch. Ich habe das Gefühl, als wäre ich in diesem Augenblick der einzig einsame Mensch auf der Welt. Ich, Tyko Gabriel Glas, Doktor der Medizin, der gelegentlich anderen hilft, sich selbst aber nie hat helfen können und sich mit 33 Jahren noch keiner Frau genähert hat.
14. Juni
Was für ein Beruf! Wie kommt es, dass ich unter allen Erwerbszweigen den gewählt habe, für den ich mich am wenigsten eigne? Ein Arzt muss eins von beiden sein: entweder ein Menschenfreund oder ehrgeizig. - Allerdings habe ich mich früher wohl für beides gehalten.
Heute war wieder eine kleine Frau da, die weinte und bettelte und bat, ich solle ihr helfen. Ich kenne sie seit mehreren Jahren. Verheiratet mit einem kleinen Beamten, 4000 Kronen im Jahr ungefähr, und drei Kinder. Die Kinder kamen Schlag auf Schlag in den ersten drei Jahren. Dann blieb sie fünf oder sechs Jahre verschont, hat wieder ein wenig Gesundheit und Kräfte und Jugend zurückgewonnen, die Verhältnisse stabilisierten sich, und es ging langsam aufwärts nach dem Unheil. Natürlich ist das Brot knapp, aber sie kommen so eben zurecht, scheint es. - Auf einmal ist das Unglück wieder passiert.
Sie konnte vor Weinen kaum sprechen.
Ich habe ihr natürlich mit dem üblichen Sermon geantwortet, den ich in solchen Fällen stets herunterbete: meine Pflicht als Arzt und die Achtung vor dem Menschenleben, selbst vor dem schwächsten.
Ich blieb ernst und unerbittlich. So musste sie schließlich gehen, beschämt, verwirrt, hilflos.
Ich vermerkte den Fall; es war der achtzehnte in meiner Praxis, dabei bin ich kein Frauenarzt.
Den ersten vergesse ich nie. Es war ein junges Mädchen, etwa zweiundzwanzig Jahre alt; eine große, dunkelhaarige, leicht vulgäre junge Schönheit. Man sah gleich, dass sie von dem Schlag war, der zu Luthers Zeiten die Erde bevölkert haben muss, sofern er recht hatte, als er schrieb: Es ist einem Weibe ebenso unmöglich, ohne Mann zu leben, wie sich selber die Nase abzubeißen. Dickes, bürgerliches Blut. Der Vater war ein wohlhabender Kaufmann; ich war der Hausarzt der Familie, daher kam sie zu mir. Sie war erregt und außer sich, aber durchaus nicht schüchtern.
«Retten Sie mich», bat sie, «retten Sie mich.»
Ich antwortete ihr mit der Pflicht usw., aber das war etwas, was sie offenbar nicht verstand. Ich erklärte ihr, mit dem Gesetz sei in solchen Fällen nicht zu spaßen.
«Gesetz?» Sie machte nur ein fragendes Gesicht.
Ich riet ihr, sich ihrer Mutter anzuvertrauen: Dann spricht diese mit...
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