Schweitzer Fachinformationen
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Die Obfrau Stellvertreterin hat auf dem Dach - der Dachgarten ist ein Vorteil der neuen Wohnung im achten Bezirk - eine Geburtstagstafel für die Kinder hergerichtet. Ludwig hat Anfang Oktober Geburtstag, was es wirklich nicht einfach macht, das Fest zu planen, weil das Wetter nicht immer absehbar ist (und man doch eigentlich lieber im Park feiert). Dieses Jahr wünscht sich Ludo allerdings fast nichts mehr als eine Wohnungsparty, weil seine Schwester letztes Jahr ebenfalls eine hatte.
Mit der Nonna hat sich die Obfrau Stellvertreterin beraten und einen Ablauf überlegt. Das Fest dauert drei Stunden, von drei bis sechs Uhr. In der ersten Stunde gibt es Brot, Aufstriche und Gemüsesticks unten in der Wohnung, dann übergeben die Kinder die Geschenke - Flaschendrehen mit einer Chiantiflasche. Danach leitet Stephan die Schatzsuche an. Er macht das wirklich gut: Die Hinweise führen die Kinder bis in die Crêperie gegenüber und von dort in den Schönbornpark. Damit sollte die zweite Stunde gefüllt sein. Danach, ab siebzehn Uhr, gibt es die eigentliche Geburtstagsjause und Spiele sowie für die abholenden Eltern Bier und Prosecco auf dem Dach. Die Torte gibt es zuletzt - auf diesen Einfall ist die Obfrau Stellvertreterin besonders stolz. Sie hat das aus jahrelangem Trial and Error gelernt: Nach dem Zuckerkonsum sind die Kinder immer besonders wild. Darum fängt man am besten mit was Gescheitem an und gibt die erst gegen Ende wild gewordenen Kinder gleich wieder ihren Eltern mit.
Als sie den ersten Kuchen, eine Biskuittorte mit Beerenfülle, auf die Dachterrasse bringt, merkt die Obfrau Stellvertreterin, dass etwas nicht stimmt. Der arme Amir, der ihr eigentlich helfen wollte, aber einfach nicht erschienen ist, liegt neben der Geburtstagstafel und unter den Lampions gekrümmt in einer Blutlacke. Das Blut kommt oder kam, das kann die Obfrau Stellvertreterin nicht sagen, aus seinem Bauch, dort ist das gelbe T-Shirt unter der verrutschten Bomberjacke fast schon schwarz, zumindest sehr dunkel: nach einem weinroten Übergang glänzendes Aubergine.
Sofort stellt die Obfrau Stellvertreterin die Torte auf den Tisch, kniet sich neben Amir und ruft seinen Namen. Sie dreht Amir mühevoll auf den Rücken, überstreckt seinen Hals, kippt den Kopf zurück, und dann? Dann hört sie, ob er atmet. Tut er nicht. Und tastet seinen Hals ab. Puls hat er keinen mehr. Auch nicht am linken Handgelenk. Die Obfrau Stellvertreterin hat eine Leiche auf dem Dach und neun Kinder sowie zwei Babys in der Dachgeschoßwohnung beziehungsweise im Schönbornpark und bald wieder im Wohnzimmer. Was soll sie tun? Wenn sie jetzt die Polizei ruft, ist die Party vorbei und Ludo für immer enttäuscht.
Sie geht wieder in die Wohnung, den Kuchen nimmt sie mit. In der Küche stehen die Nonna und das Neue-Eltern-Amt mit Baby auf der rechten Hüfte beim Waschbecken und waschen die Weinviertler Zwetschken.
»Du schau mal, da ist sogar ein Wurm drin«, sagt die Nonna.
Die Obfrau Stellvertreterin nimmt das Neue-Eltern-Amt am Ellenbogen. »Komm bitte mal kurz mit.« Und führt sie aufs Dach. »Schau mal bitte.«
Das Neue-Eltern-Amt sieht den gedeckten Tisch, sieht den Freiwilligen. Schlägt die linke Hand vor den Mund. »Scheiße. Ist er tot?«
»Puls hat er keinen.«
»Die Kinder dürfen hier nicht rauf. Wen ruft man noch mal zuerst, Rettung oder Polizei?«
»Wenn jetzt die Polizei kommt, ist die Party vorbei.«
»Und was sagen wir dann den Kindern?«
»Eben.«
Beide stehen vor der Leiche und entscheiden, dass es reicht, die Polizei in ein, zwei Stunden zu rufen, wenn die Gäste gegangen sind. Der See-the-World-Freiwillige ist ja schon tot.
»Vielleicht sollten wir ihn noch irgendwie zudecken.«
Fragt man die Obfrau Stv. nach ihrer Jugend beziehungsweise ihrer Herkunft, nennt sie mal Reichenau an der Rax, mal die Josefstadt. Diese Erzählung trifft schon auf ihre Eltern zu, die ihre Zeit seit jeher auf das Haus mit Garten in Reichenau und die Wohnung in der Josefsgasse aufteilen. Genauso hat das die Obfrau Stv. auch immer gemacht, und so stammen Ex und Ehemann ebenfalls aus Reichenau. Verheiratet ist die Obfrau Stv. mit Stephan Lasser, Sohn einer Reichenauer Baumeisterfamilie. Gemeinsam haben sie zwei Kinder: Emilia und Ludwig, genannt Lia und Ludo.
Die Obfrau Stv. selbst kommt aus einer Professor_innenfamilie. Der Vater Doktor emeritus der Geschichte, die Mutter Romanistin, Schwerpunkt italienische Literaturwissenschaft. Die Wahl des Studienfachs der Mutter ist ein früher Hinweis auf deren Italophilie. Die Eltern der Obfrau Stv. haben ihre Herkunft um Italien erweitert. Man fährt jährlich nach Lignano und wird Nonna und Nonno gerufen. Die Tochter hat man nach der Wahlschwester der Nonna benannt. Für Wien und Reichenau haben sie aus Francesca Franziska, früher Franzi, gemacht.
Als die Obfrau Stv., die, zuerst nur mit Stephan und Lia, in der Krongasse wohnte, erfuhr, dass in der Josefsgasse eine Wohnung frei wäre, musste sie einfach zugreifen und einziehen. Jetzt wohnt sie schräg gegenüber von ihren Eltern, was wirklich fein ist, weil die Lia jeden Dienstag zu Mittag einfach zu ihren Großeltern gehen und eine Frittata essen kann. Auch sonst sind die Nonna und der Nonno oft zur Stelle. Zum Beispiel, wenn die Obfrau Stv. und Stephan ins Burgtheater oder zu den Wiener Festwochen gehen. Zum Beispiel auch bei Kindergeburtstagen.
Die Tür öffnet sich, und vor dem Chefinspektor steht eine gut gelaunt gekleidete Frau mit ernstem Gesicht. Hellgrünes Oberteil, in verschiedenen Grüntönen gemusterter Rock, dazu rote Ohrstecker und gebräunte Haut. An keinem Kleidungsstück ist ein Fleck oder Loch zu entdecken. Die Obfrau Stv. wirkt tadellos und frisch, auch weil die Frisur als solche erkennbar sitzt - in ihrem Nacken wippt ein Pferdeschwanz. Anders also als bei des Chefinspektors Frau, wenn sie mit den Kindern zu Hause ist. Und es hieß doch, hier habe eine Kinderparty stattgefunden. Von den Kindern jedoch ist nichts zu bemerken. Die Gäste seien schon gegangen, und ihre zwei seien bei den Großeltern. Sie sollten das hier nicht mitbekommen.
An den Füßen der Obfrau Stv. entdeckt der Chefinspektor: Schlapfen, die ihn sofort an seine Volksschullehrerin erinnern. An - für ihn - guten Tagen trug sie Straßenschuhe, häufig die von ihm favorisierten Riemchensandalen, manchmal weiße Sportschuhe, wie er selbst sie hatte. Tennisschuhe sagte sein Vater dazu. An - für ihn - schlechten Tagen trug die Lehrerin genau jene Schlapfen, Typ orthopädisches Schuhwerk: Gummisohle, Korkfußbett und breiter Lederriemen mit Schnalle. Das Schuhorakel prophezeit also einen schlechten Tag beziehungsweise Abend. Franziska Lassers Schuhwahl schlägt sich sofort auf die Stimmung des Chefinspektors. Schlapfen machen ihn grantig. Sie passen auch so überhaupt nicht zu der ansonsten so sorgfältig zusammengestellten Garderobe der Obfrau Stv.
Er deutet auf die schwebende Treppe, die ins zweite Stockwerk führt, dreht sich um und wirft einen weiteren Blick auf die Füße der Obfrau Stv.
»Sie waren schon oben?«
»Ja, Herr Chefinspektor, ich habe doch den armen Amir gefunden.«
Der Chefinspektor nickt und greift in seine Jackentasche. Er entfaltet weiße Plastikfolie. Die Obfrau Stv. sieht ihm dabei zu. Die Plastikfolie wird größer, eigentlich sind es zwei idente Folien - Einwegüberzieher werden erkennbar, die sich der Chefinspektor über die Schuhe streift. Er weist zur Treppe. »Bitte schön.«
Der Pferdeschwanz der Obfrau Stv. schwingt auf und ab, als sie die hölzerne Treppe zum Zwischenstock und dann die Wendeltreppe zur Terrasse hinauf- und dem Chefinspektor vorangeht.
»Bitte, greifen Sie möglichst nichts an.«
Die Obfrau Stv. nimmt die linke Hand vom Geländer.
Vor der Tür zur Terrasse bleibt sie stehen. »Soll ich?« Sie deutet mit dem Kinn auf die Türschnalle, der Pferdeschwanz wippt.
»Nein, warten Sie bitte.«
Die Obfrau Stv. legt ihre Hände an die Oberschenkel.
Der Chefinspektor entfaltet weiße Plastikfolie. Die Obfrau Stv. sieht ihm dabei zu. Die Plastikfolie wird größer, eigentlich sind es zwei idente Folien - Einweghandschuhe werden erkennbar, die sich der Chefinspektor über die Hände streift.
Als er am Tatort ankommt, bietet sich ihm Folgendes:
Zuerst das Parlament und die Zweierlinie von oben, und der Chefinspektor denkt: »Das würde der Karin gefallen.« Dann der Blick auf die Terrasse: Blumenbeete. Ein Tisch. Füße unter einem Tuch. Ein geschlossener Grill.
Der Chefinspektor beginnt noch einmal, diesmal im Uhrzeigersinn. Wenn er selbst auf sechs Uhr steht, beginnen ab sieben Uhr die Sträucher. Erde, darin kleinere und größere Pflanzen: übrig gebliebene grüne Tomaten an ausgetrockneten Ästen, Salat, vielleicht Stachelbeeren. Eine schwächliche Bohne auf zehn Uhr. Dem Standpunkt des Chefinspektors gegenüber, auf zwölf Uhr, der Grill. Zwischen zwei und drei Uhr ein Tisch. Der Chefinspektor steckt die Hände in den Handschuhen in die Hosentaschen und nähert sich:
Die Geburtstagstafel - gedeckt mit Tellern aus feinstem Melamin, Bechern in Pastelltönen aus Bambusfasern und Mais, Konfetti in Gold und Hellblau, hellblau und golden gestreiften Servietten und am Boden Füße, die aus einem blassroten Tuch von LeStoff herausschauen. Diese Details fallen dem Chefinspektor natürlich nicht auf beziehungsweise kennt er die feinen Unterschiede nicht. Für ihn ist Kindergeschirr Kindergeschirr und Handtuch Handtuch. Dem Neue-Eltern-Amt sind sie sehr wohl aufgefallen.
Die...
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