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«Was denkst du?», fragte Mariia lächelnd in ihrem hellen Kleid, als ich mit eingezogenem Kopf durch die niedrige Tür ihrer ordentlichen kleinen Hütte nach draußen trat, zurück in die Sonne und die Trümmer. «Ist alles so, wie es sein sollte?» Das war es. Ihre Teppiche und Decken waren in schönen geradlinigen Mustern ausgelegt, die mich an futuristische ukrainische Kunst denken ließen. Die Kabel, die zu ihrem Generator führten, waren ordentlich verlegt, und Wasserflaschen standen griffbereit. Ein dickes Buch lag aufgeschlagen auf ihrem Bett.
Außerhalb ihres metallenen Domizils, einer von einer internationalen Organisation zur Verfügung gestellten provisorischen Behausung, hingen Wollpullover zum Trocknen auf einer Leine. Auf einer Bank lag eine hübsche, mit Filz ausgekleidete Holzschublade, wie eine offene Büchse der Pandora. Als ich ihr ein Kompliment dazu machte, bot Mariia mir die Schublade als Geschenk an. Sie war ein Überbleibsel ihres Hauses, das direkt vor uns lag, eine Ruine nach dem Beschuss mit Bomben und Granaten. Nervös blickte sie gen Himmel zu einem vorbeifliegenden Flugzeug. «Alles ist passiert», seufzte sie, «und nichts davon war nötig.»
Wie alle anderen Häuser im Dorf wurde auch das von Mariia während des russischen Angriffs auf die Ukraine zerstört. Posad-Pokrovske, ganz im Süden der Ukraine gelegen, inmitten von Sonnenblumenfeldern in dieser fruchtbaren Gegend, befand sich am Rande des russischen Vormarschs. Ende 2022 hat die ukrainische Armee die Russen so weit zurückgedrängt, dass ihre Artillerie nicht mehr bis hierher reicht, sodass eine sichere Rückkehr oder ein Besuch im Dorf wie meiner jetzt, im September 2023, möglich sind.
Während ich auf der Bank Platz nehme und Mariia zuhöre, denke ich über Freiheit nach. Das Dorf, so könnte man sagen, ist befreit worden. Sind die Menschen hier frei?
Ohne Zweifel ist etwas Schreckliches aus dem Leben von Mariia verschwunden: die tägliche Bedrohung durch einen gewaltsamen Tod, eine Besetzung durch Folterer und Mörder. Aber ist das, selbst das, eine Befreiung?
Mariia ist 85 Jahre alt und lebt allein. Jetzt, da sie ihre hübsche kleine Unterkunft hat, ist sie sicherlich freier als zu der Zeit, als sie obdachlos war. Das hat damit zu tun, dass ihre Familie und Freiwillige gekommen sind, um ihr zu helfen. Und weil eine Regierung gehandelt hat, mit der sie sich durch ihre Wählerstimme verbunden fühlt. Mariia beklagt sich nicht über ihr Schicksal. Weinen muss sie nur, wenn sie von den schwierigen Herausforderungen spricht, vor denen ihr Präsident steht.
Das ukrainische Wort «Deokkupation», das wir in unserem Gespräch verwenden, ist präziser als die gängige «Befreiung». Es lädt uns dazu ein, darüber nachzudenken, was wir, über die Beseitigung von Unterdrückung hinaus, für die Freiheit brauchen könnten. Es ist viel Arbeit nötig, um eine ältere Frau in die Lage zu versetzen, Gäste willkommen zu heißen und die normalen Interaktionen eines würdevollen Menschen durchzuführen. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Mariia wirklich frei war, ohne ein richtiges Haus mit einem Stuhl und ohne einen freigeräumten Weg zur Straße für ihren Rollator.
Freiheit ist nicht nur die Abwesenheit des Bösen, sondern auch die Anwesenheit des Guten.
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Die südliche Ukraine ist Steppe; die Nordukraine besteht aus Wald. Als ich eine deokkupierte Stadt im Norden der Ukraine besuchte, hatte ich ähnliche Gedanken. Ich, der ich meine Kinder an einladenden Schulen in New Haven abgesetzt hatte, stand nun vor einem verwaisten Schulgebäude in Jahidne, das die russischen Besatzer in ein kleines Konzentrationslager verwandelt hatten. Fast die ganze Zeit über hatten die Russen dreihundertfünfzig Zivilisten, die gesamte Bevölkerung, im Keller der Schule festgehalten, zusammengepfercht auf einer Fläche von weniger als zweihundert Quadratmetern. Siebzig dieser Dorfbewohner waren Kinder, das jüngste ein Säugling.
Jahidne wurde im April 2022 deokkupiert, und ich besuchte den Ort im September desselben Jahres. Im Erdgeschoss hatten die russischen Soldaten das Mobiliar zerstört. An den Wänden hinterließen sie entmenschlichende Schmierereien über Ukrainer. Es gab keinen Strom. Im Licht der Taschenlampe meines Smartphones tastete ich mich in den Keller vor und inspizierte die Wandzeichnungen der Kinder dort. Ich konnte lesen, was sie geschrieben hatten («Nein zum Krieg»); meine Kinder halfen mir später, die Figuren zu identifizieren (beispielsweise einen Hochstapler aus dem Spiel Among Us).
An einem Türrahmen entdeckte ich zwei mit Kreide geschriebene Listen mit den Namen derjenigen, die umgekommen waren: auf der einen Seite diejenigen, die hingerichtet wurden (soweit ich sehen konnte, waren das siebzehn); auf der anderen diejenigen, die an Erschöpfung oder Krankheit gestorben waren (das waren zehn).
Zu dem Zeitpunkt, als ich in Jahidne ankam, befanden sich die Überlebenden nicht mehr im Keller. Waren sie frei?
Eine Befreiung suggeriert ein Leid, das sich verflüchtigt hat. Aber die Erwachsenen brauchen Unterstützung, die Kinder eine neue Schule. Es ist unglaublich wichtig, dass die Stadt nicht mehr besetzt ist. Aber es wäre falsch, die Geschichte von Jahidne mit dem Moment zu schließen, in dem die Überlebenden aus dem Untergrund auftauchten, oder die Geschichte von Posad-Pokrovske mit dem Ende der Bombardierung.
Der Herr, dem der Schlüssel für die Schule in Jahidne anvertraut war, bat um Hilfe beim Bau eines Spielplatzes. Inmitten eines zerstörerischen Krieges mag das wie ein seltsamer Wunsch erscheinen. Die Russen töten Kinder mit Raketen und kidnappen sie, um sie zwangsweise zu Russen zu machen. Aber dass diese Verbrechen nicht mehr da sind, reicht nicht; Deokkupation genügt nicht. Kinder brauchen Orte zum Spielen, zum Laufen, zum Schwimmen, Orte, um sich selbst zu verwirklichen. Ein Kind kann keinen Park und kein Schwimmbad bauen. Die Freude der Jugend besteht darin, solche Dinge in der Welt zu entdecken. Es bedarf kollektiver Arbeit, um Strukturen der Freiheit zu schaffen, für die Jungen genauso wie für die Alten.
Ich bin während des Krieges in die Ukraine gekommen, weil ich dieses Buch über Freiheit schreiben wollte. Hier ist das Thema allerorten greifbar. Einen Monat nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine sprach ich mit einigen ukrainischen Parlamentariern: «Wir haben uns für die Freiheit entschieden, als wir nicht geflohen sind.» «Wir kämpfen für die Freiheit.» «Die Freiheit selbst ist die Wahl.»
So redeten nicht nur die Politiker. Als ich zu Kriegszeiten in der Ukraine mit Soldaten, Witwen und Bauern, Aktivisten und Journalisten sprach, hörte ich immer wieder das Wort «Freiheit». Interessant war, wie sie es verwendeten. Da ein Großteil ihres Landes unter völkermörderischer Besatzung stand, hätten die Ukrainer, so könnte man annehmen, allen Grund gehabt, von Freiheit als Befreiung von, als Abwesenheit des Bösen zu sprechen. Das tat aber niemand.
Auf die Frage, was sie mit «Freiheit» meinten, nannte nicht eine einzige Person, mit der ich sprach, die Freiheit von den Russen. Ein Ukrainer erklärte mir: «Wenn wir sagen, meinen wir nicht .» Ein anderer definierte den Sieg als «für etwas zu sein, nicht gegen etwas». Die Besatzer hatten sich dem Gefühl in den Weg gestellt, dass die Welt sich öffnete, dass die nächste Generation ein besseres Leben haben würde, dass die jetzt getroffenen Entscheidungen in den kommenden Jahren von Bedeutung sein würden.
Es war wichtig, die Unterdrückung zu beseitigen, das zu erlangen, was Philosophen «negative Freiheit» nennen. Aber die Deokkupation, die Beseitigung des Leids, war nur eine notwendige Bedingung für die Freiheit, nicht die Sache selbst. Ein verwundeter Soldat in einem Rehabilitationszentrum sagte mir, bei der Freiheit gehe es darum, dass jeder die Chance hat, nach dem Krieg seine eigenen Ziele zu verwirklichen. Ein Veteran, der auf eine Prothese wartete, meinte, Freiheit wäre ein Lächeln auf dem Gesicht seines Sohnes. Ein junger Soldat auf Fronturlaub erklärte, Freiheit, das seien die Kinder, die er eines Tages haben werde. Ihr Oberbefehlshaber im versteckten Stabsraum, Walerij Saluschnyj,...
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