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Würde diese Zeit des Jahres denn niemals einfacher werden?
Der typische Weihnachtstrubel tat Aaron immer in der Seele weh. Warum lebte er nicht in einer Stadt, die die Dekoration auf ein respektables Minimum beschränkte? Zu dieser Jahreszeit verwandelte Port Serenity sich stets in die Kulisse eines Weihnachtsfilms, und sein grinchmäßiges Herz konnte es kaum ertragen. Die Geschäfte konkurrierten um die aufwendigste Schaufensterdekoration, und die Stromkosten der Stadt für die Straßenlaternen, die komplett mit weißen Lichterketten umwickelt waren, schnellten in die Höhe. Der große Weihnachtsmann und die acht Rentiere, die in der Nähe des Büros des Bürgermeisters über der Straße hingen, versperrten seiner Meinung nach eine angemessene Sicht auf die einzige Verkehrsampel in der Stadt. Aber seine Petition, den in die Jahre gekommenen Weihnachtsschmuck in den Ruhestand zu schicken, war bei der Stadtratssitzung im vergangenen Jahr abgelehnt worden, daher wusste er, dass es sinnlos war, das Thema noch einmal zur Sprache zu bringen.
Er hatte die Weihnachtszeit nicht immer verabscheut . Aber es war auch alles ganz anders gewesen, als seine jüngere Schwester noch gelebt hatte. Amy hatte die Feiertage geliebt. Sie hatte den Weihnachtsschmuck herausgeholt, sobald Halloween vorbei war. Ihr Elternhaus war das Festlichste im ganzen Viertel gewesen, mit vielfarbigen Lichtern, großen aufblasbaren Figuren und einer Familie von Schneemännern auf dem Rasen. Sie hatte immer darauf bestanden, dass sie ihren Weihnachtsbaum schon am Tag nach Thanksgiving aufstellten, und sie hatte bei allen Einkäufen und beim Geschenkeverpacken geholfen, und es kümmerte sie nicht, dass sie alle Geschenke kannte, ihre eigenen eingeschlossen. Sie war eine echte Weihnachtsfanatikerin gewesen, sodass Aaron kaum atmen konnte beim Anblick all der Lichter und des Weihnachtsschmucks. Besonders wenn er die Weihnachtsmusik hörte, die sie so geliebt hatte.
Jene Winterferien vor zehn Jahren kamen ihm so vor, als wäre es erst gestern gewesen. Aaron würde den Unfall mit dem Schneemobil, der Amy und Blake, Aarons besten Freund, das Leben gekostet hatte, niemals vergessen können. Er würde sich niemals gestatten, ihn zu vergessen. Sie hatte mit seinem Freund mitfahren wollen. Sie war so verknallt gewesen in Blake. Aaron hätte darauf bestehen sollen, dass sie stattdessen bei ihm mitfuhr. Er hätte sie beschützen müssen.
Er konnte nicht zurück in die Vergangenheit und die Entscheidung ändern, die er an diesem Tag getroffen hatte. Eine Entscheidung, die letztendlich dazu geführt hatte, dass er sowohl seinen Freund als auch seine Schwester verloren hatte, als das Schneemobil gegen einen Baum prallte. Aber er konnte versuchen zu verhindern, dass andere Familien eine ähnliche Tragödie durchlitten.
Der Unfall war die treibende Kraft hinter seiner Entscheidung gewesen, sich nach seinem Abschluss der Coast Guard anzuschließen. Er hatte sich schon während der Highschool als Freiwilliger an Rettungsmissionen vor Ort beteiligt und jedes Sicherheitstraining und jeden Erste-Hilfe-Kurs absolviert, an dem er teilnehmen konnte. Nach der Highschool war er dann nach North Carolina gegangen für die Ausbildung zum Rettungsschwimmer bei Einsätzen mit dem Rettungshubschrauber. Das Programm dauerte vierundzwanzig Wochen und hatte eine achtzigprozentige Abbruchquote, weil viele Kandidaten einfach scheiterten an der nötigen körperlichen Fitness, den vielen Stunden Schwimmtraining, den extremen Übungen zum Wasservertrauen, aber auch an dem Unterricht im Klassenzimmer. Aaron hatte sich durch alles hindurchgekämpft, angetrieben vom Schmerz und dem Bedauern angesichts der Vergangenheit, wann immer es wirklich hart wurde, und er hatte an Amy gedacht, wenn er am liebsten alles hingeschmissen hätte. Es gab andere Positionen, für die er sich hätte bewerben und ausbilden lassen können, aber er wollte den Job machen, den nicht alle anderen machen konnten. Er wollte sich auf die harten, unberechenbaren, fast unmöglichen Missionen vorbereiten, die von ihm sein Bestes abverlangen würden. Mittlerweile gehörte er zu einer Elitetruppe hochspezialisierter Offiziere der Küstenwache, und er bemühte sich ständig, noch mehr zu lernen und sich weitere Fähigkeiten anzueignen. So hatte er gerade erst einen siebenwöchigen Höhenrettungskurs in Kalifornien absolviert, wo er für Höhlenrettungen und Hilfeleistungen an Klippen ausgebildet worden war.
Er wollte für absolut alles ausgebildet sein.
Semper paratus. Immer bereit.
Er ging über die Main Street, den Kopf eingezogen in seinem Thermowintermantel, der Schnee knirschte unter seinen Füßen, und einige Minuten später öffnete er die Tür der Port Serenity Highschool. Seine Brust schnürte sich noch mehr zusammen, als er die Schule betrat, die er und Amy besucht hatten. Sie war immer gern zur Schule gegangen, vor allem während der Weihnachtszeit. Sie war die stellvertretende Leiterin des Winterfestausschusses gewesen und hatte ihr Schließfach mit Girlanden und Lichterketten geschmückt. Sie hatte jedes Jahr eine Spielzeugspendenaktion organisiert und ehrenamtlich nach der Schule bei der örtlichen Suppenküche gearbeitet. Sie hatte eine außerordentlich starke karitative Ader gehabt.
Er holte tief Luft, als er sich der offenen Tür der Turnhalle näherte. Seine alljährliche Ansprache an die Schüler zum Thema Sicherheit in den Winterferien sollte in fünf Minuten anfangen, und die Schüler hatten sich bereits in der Turnhalle versammelt und saßen auf dem Boden. Gerade richtete der Direktor das Wort an sie und versuchte sie vor der Präsentation zur Ruhe zu bringen.
Er mochte nicht der spannendste Redner sein, aber es war wichtig, die Kinder aufzuklären, da den Eltern nicht immer bewusst war, was nicht nur an der Küste, sondern auch in den abgelegenen Waldgebieten alles passieren konnte. Die Winter- und Frühlingsferien waren die Jahreszeit, in der sie die meisten Rettungseinsätze hatten. Wenn Aarons Ansprache auch nur einen einzigen Schüler daran hindern konnte, ein unnötiges Risiko einzugehen, war es die Mühe wert.
»Keine Sorge, sie beißen nicht«, bemerkte eine Frau hinter ihm.
Als er sich umdrehte, sah er Trina Clarkson, eine Lehrerin der achten Klasse den Flur herunterkommen. Er zwang sich, seine ehemalige Klassenkameradin anzulächeln. Trina war hübsch, mit dunklen Locken und strahlend grünen Augen. Sie war freundlich und geduldig und besaß eine energische Persönlichkeit, die sie zu einer perfekten Lehrerin für hormongesteuerte, renitente Teenager machte.
»Hallo, Trina«, begrüßte er sie.
»Schön, dich zu sehen. Du warst schon seit einer ganzen Weile nicht mehr beim Bowling.«
Er senkte verlegen den Kopf. »Man hat mich aus der Mannschaft geworfen.«
Sie lachte. »Was? Warum? Du warst ihr bester Spieler.«
»Genau das war anscheinend der Grund. Die Liga hat mehrheitlich entschieden, dass ich eine Saison aussetze - um einer anderen Mannschaft eine Chance auf die Trophäe zu geben.«
Er hatte acht dieser Trophäen. Als Teenager war er der Mannschaft beigetreten, um seinem Dad einen Gefallen zu tun, weil sie zu der Zeit einen vierten Spieler gebraucht hatten. Doch dann war er wirklich gut im Bowlen geworden und hatte mit der Zeit Gefallen gefunden an diesem wenig anspruchsvollen Sport. Es war ein gewaltiger Kontrast zu dem extremen Stress, den er seinem Körper in seinem Berufsalltag zumutete. Sein Dad hatte mit dem Spielen aufgehört, als seine Eltern nach Florida gezogen waren. Sie hatten das harte Winterwetter und die unversöhnliche Wildnis hinter sich gelassen - zusammen mit den unzähligen Erinnerungen an Amy und ihr früheres Familienleben.
Aaron sah nichts Falsches in ihrer Entscheidung, aber er selbst hatte beschlossen, in Port Serenity zu bleiben. Aufgrund einer grimmigen Loyalität seiner Heimatstadt gegenüber war Fortgehen für ihn keine Option. Er hielt Kontakt zu seinen Eltern, soweit das der Zeitunterschied zuließ, und im Laufe der vergangenen drei Jahre waren seine Crew-Kollegen zu seiner Familie geworden.
Trina schüttelte den Kopf. »Nun, was mich betrifft, ich vermisse es, dir dabei zuzusehen, wie du einen Strike nach dem anderen wirfst«, sagte sie kokett.
Ich vermisse es, auf deinen Hintern zu starren, schwang definitiv in ihrem Ton mit.
Er räusperte sich, wusste aber nicht recht, was er antworten sollte. Flirten war nicht wirklich seine Stärke, und er mochte Trina zwar, wollte ihr aber keine falschen Hoffnungen machen. Er hatte bemerkt, wie sie ihn beim Bowling ansah und wann immer sie einander in der Stadt über den Weg liefen, und er wollte sie nicht zu etwas ermutigen, das er nicht erwidern konnte. Unglücklicherweise gab es wirklich niemanden in Port Serenity, zu dem er sich hingezogen fühlte .
Ein Bild von Isla in diesem irre heißen roten Kleid auf der Sealena-Party blitzte in seinen Gedanken auf, aber er verdrängte es sofort. Isla gehörte auf jeden Fall in die Kategorie: ansehen, aber nicht anfassen. Er war klug genug, sich nicht die Finger zu verbrennen.
»Ich finde es wirklich toll, dass du immer wieder das Sicherheitstraining hier machst«, wechselte sie das Thema, da sie sein Unbehagen zu spüren schien.
Nach Amys Tod hatte er alle Sicherheitstrainings für die Wildnis belegt, die er finden konnte, und dann hatte er daraus eine eigene informelle Präsentation entwickelt, um die wesentlichen Inhalte zu vermitteln.
Er nickte. »Alljährliche Wiederauffrischungen können Leben retten«, antwortete er und hoffte, dass dieser Satz nicht so lahm klang, wie Isla es ihm...