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Alisha Miller hat dich eingeladen, der Abschlussklassen-Gruppe 2011 der Wild River Highschool beizutreten.
Zwei Tage lang hatte Ellie Mitchell auf die Benachrichtigung gestarrt. Ihr Finger hatte über dem Button »Einladung annehmen« geschwebt, und dann hatte sie mindestens sechsundachtzigmal gekniffen. Die Highschool fühlte sich an, als läge sie eine Million Jahre zurück. Wollte sie wirklich diese Zeit ihres Lebens für einen einzigen nostalgieerfüllten Abend noch einmal heraufbeschwören?
Dass Alisha, heute Krankenschwester auf der Intensivstation des Wild River Community Hospital, an diesem Klassentreffen teilnahm, war nur natürlich. Sie war Mannschaftskapitänin der Cheerleader gewesen, stellvertretende Klassensprecherin des Abschlussjahrgangs (nur weil sie sich dagegen entschieden hatte, als Klassensprecherin zu kandidieren) und Vorsitzende des Debattierclubs. Alle hatten sie gemocht, weil sie - ein seltenes Zusammentreffen - sowohl beliebt als auch hübsch und nett gewesen war, bei schulischen Events immer mittendrin und ganz vorn, nicht angeberisch oder Aufmerksamkeit heischend, sondern auf eine aufmunternde, dem Schulgeist entsprechende Weise.
Ellie hatte bei schulischen Aktivitäten eher hinter den Kulissen gewirkt. Sie war eine Arbeitsbiene im Schülerrat gewesen und im Planungskomitee für die schulischen Events. Förderung der Gemeinschaft und Konfliktlösung im Hintergrund war ihr Ding gewesen. Die Hälfte ihrer Klassenkameraden hatte vielleicht sogar vergessen, dass sie überhaupt zu ihrem Jahrgang gehört hatte. Sie war nicht gerade besonders aufgefallen.
Zumindest nicht bis zum Abschlussjahr, als sie plötzlich in den Vordergrund gerückt war und der Aufmerksamkeit aller hatte sicher sein können. Aber das war weniger ihr Verdienst, sondern mehr dem Umstand zu verdanken gewesen, dass sie mit Brent Lanigan zusammen war, dem Klassensprecher und Quarterback der schulischen Footballmannschaft. Ellie wusste immer noch nicht, wie es überhaupt dazu hatte kommen können. Eines Tages hatte sie ihm Nachhilfeunterricht gegeben, damit seine Noten gut genug blieben, um weiter Football spielen zu dürfen, und am nächsten Tag hatte er sie mit einem unerwarteten Kuss überrascht, und dann waren sie während des restlichen Schuljahrs ein Paar gewesen.
Sie seufzte. Das Klassentreffen war für einen Termin in drei Wochen anberaumt, und sie konnte sehen, dass sich bereits über die Hälfte der Klasse angemeldet hatte.
Brent noch nicht. Würde er teilnehmen? Würde das einen Einfluss auf ihre eigene Entscheidung haben? Wahrscheinlich. So jämmerlich war sie.
Es war Punkt neun Uhr morgens, und sie schob sich das Handy in die Gesäßtasche ihrer Jeans.
Zeit, die Buchhandlung zu öffnen, Flippin' Pages, wo sie seit ihrem Abschluss arbeitete. Nachdem sie vor zehn Jahren eingestellt worden war, war sie mittlerweile die Managerin des Ladens und kümmerte sich um alles, angefangen von der Bestellung über die Inventur bis hin zur Buchhaltung und Planung von Events im Laden. Obwohl Flippin' Pages eine unabhängige Kleinstadtbuchhandlung war, war sie einer der Hotspots des Ortes - dank ihrer wöchentlichen Buchclubtreffen, Autorenlesungen und Vorlesestunden für Kinder. Flippin' Pages bot jede Woche irgendein Event an, und während der Touristensaison war das Programm noch dichter.
Sie ging zur Tür, drehte das Geschlossen-Schild auf Geöffnet und sperrte auf. Nachdem sie die Innenbeleuchtung eingeschaltet hatte, genoss sie kurz die behagliche Atmosphäre. Flippin' Pages war in einem der älteren Gebäude auf der Main Street in Wild River, Alaska, untergebracht, und der historische Charme des Ladens war einer der Faktoren, der Kunden anlockte. Die Buchhandlung zog sich über drei Stockwerke, eine prachtvolle Wendeltreppe führte zu den oberen Etagen, dunkle Mahagoniholzakzente waren überall zu finden, ursprüngliche Dielenböden und Facettendecken sorgten dafür, dass Kunden die stilvolle Aura des Gebäudes ebenso wie die beeindruckende Menge von Büchern bewunderten, die es beherbergte.
Wie zum Beispiel die unglaubliche Lieferung, die am vergangenen Tag eingetroffen war. Ellie konnte es gar nicht erwarten, sich über den Karton mit gespendeten Klassikern herzumachen, die ein älterer, am vergangenen Wochenende verstorbener Mann der Buchhandlung testamentarisch hinterlassen hatte. Hochgelobte Bücher von frischen Debütanten waren immer aufregend, aber solche ehrwürdigen Secondhand-Spenden standen noch höher in Ellies Gunst.
Vielleicht war es ihrer alten, romantischen Seele zuzuschreiben - Antiquitäten und Sammlerstücke hatten für sie etwas Magisches. Alte Dinge, die von Generation zu Generation weitergegeben worden waren, die eine Geschichte hatten . die existiert hatten, lange bevor sie selbst überhaupt zur Welt gekommen war, bargen etwas Mystisches in sich, zu dem sie sich hingezogen fühlte.
Nachdem sie sich einen Cutter unter dem Ladentisch hervorgeangelt hatte, schlitzte sie vorsichtig den Pappkarton auf und öffnete das Bücherpaket. Es war wie das Öffnen eines Weihnachtsgeschenks. Vorfreude erfüllte sie, als sie eins der Bücher herausnahm und von allen Seiten betrachtete.
Eine sichtlich heißgeliebte Erstausgabe des Scharlachroten Buchstabens von Nathaniel Hawthorne.
Sie strich mit einem Finger über den Einband - Oktavformat, original braunes Leinen, mit dem Datum 1850 auf dem Buchrücken. Es gab nur zweitausendfünfhundert dieser Bände auf der Welt, und das Buch würde sich für einen hübschen Preis verkaufen lassen, aber das war es nicht, was ihr am besten gefiel. Sie holte tief Luft und öffnete es behutsam.
Ja! Da war eine Widmung. Das war immer das Beste. Fast als würde sie die Vergangenheit belauschen.
Für meinen lieben Michael,
möge dieses Buch dich auf eine fantastische Reise führen.
Mit all meiner Liebe,
Rose
Ellie seufzte. Michael und Rose. Wie war ihr Leben damals gewesen? Wer waren sie? Was hatten sie einander bedeutet? Verwandte oder heimlich Liebende? Sie hob das Buch an die Nase und atmete tief ein.
»Hast du gerade an diesem Buch gerochen?«, übertönte eine Männerstimme die Glocke der sich öffnenden Tür.
Ellie stellte das Buch schnell auf das Regal für neu eingetroffene Antiquitäten und drehte sich um, als Callum McKendrick, ihr Kollege, die Buchhandlung betrat. »Ich rieche an allen Büchern«, erklärte sie. »Und du bist spät dran.« Er war immer spät dran. Es war fast liebenswert, wie berechenbar seine Verspätungen waren. Als würde sie wissen, dass etwas nicht stimmte, wenn er jemals pünktlich käme. Er rauschte durchs Leben, ohne die mindeste Rücksicht auf lästige gesellschaftliche Konventionen wie etwa pünktliches Erscheinen zur Arbeit. Und er kam damit durch.
»Nur vier Minuten«, entgegnete er nach einem Blick auf eine imaginäre Armbanduhr. »Besser als gestern.«
Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Besser als gestern.«
»Was haben wir da?«, fragte er und krempelte sich die Ärmel seines hellblauen Hemdes auf, bevor er sich hinkniete, um in den Karton zu spähen. Sein dichtes dunkles Haar fiel ihm ins Gesicht, und er strich es sich aus der Stirn. Alle in der Stadt nannten ihn Clark Kent, weil er genauso aussah wie Superman mit seinen eins achtundachtzig, dem muskulösen Körperbau, den massigen Schultern und der breiten Brust. Sein pechschwarzes Haar war immer eine Spur zu lang, und seine Brille mit dem dunklen Gestell verringerte nicht im Geringsten den Sexappeal, den er verströmte.
Ellie hätte gern geglaubt, dass ihre Stammkunden wegen des literarischen Erlebnisses und der großen Auswahl bibliophiler Ausgaben kamen, die die Buchhandlug bereithielt, aber wahrscheinlich hatte es mehr mit dem sexy Buchhändler zu tun.
»Das ist diese testamentarisch verfügte Spende eines alten Herrn. Eine Dame hat gestern deswegen angerufen«, sagte sie, während sie auf dem Regal Platz für den Rest der Bücher schaffte. Wirklich erstaunlich, in welchem Zustand sie sich befanden. Irgendjemandem mussten sie so teuer gewesen sein, sie zu erhalten und sich um sie zu kümmern. Viele alte Bücher, die in den Laden kamen, mussten restauriert werden, die hier nicht.
»Ich kann nicht fassen, dass keins seiner Kinder oder Enkelkinder die hier gewollt hat«, bemerkte Callum und griff nach einer Ausgabe von Moby Dick. »Diese Bücher sehen aus, als könnten sie Erstausgaben sein.«
»Sind sie auch«, bestätigte sie und deutete auf das Datum auf dem Buchrücken. »Deshalb werden wir sie für ein kleines Vermögen verkaufen.«
»Und weil du nicht willst, dass sie wirklich jemand kauft«, entgegnete er augenzwinkernd.
Zweifellos bekamen Frauen wegen dieses kleinen Flackerns eines Augenlides nach Rokokomanier Schwächeanfälle, aber Ellie war immun gegen Callums Charme. Er war mehrere Jahre jünger als sie und flirtete so oft, wie er ausatmete.
»Das stimmt nicht«, protestierte sie.
»Doch, tut es.«
»Na schön. Du kennst mich zu gut.« Sie lachte, aber ihr Lächeln verschwand, als ihr Handy eine neu eingegangene Nachricht signalisierte. Sie nahm es heraus und sah einen neuen Post in der Facebook-Gruppe für das Klassentreffen, diesmal von Cheryl Kingsly - einer der langjährigen besten Freundinnen Alishas. Cheryl war jetzt Personal Trainer, und Ellie sah die beiden oft zusammen aus dem Fitnessstudio kommen.
Ich kann es gar nicht erwarten, mit meiner Wild-Cougar-Familie wiedervereint zu werden! Haben wir schon...