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Irgendwo in der Gegend von Wild River
Siebenundfünfzig Stunden saß sie jetzt zusammen mit Selena Hudson in einem Auto, und langsam fragte sich Leslie Sanders, ob es wirklich so wichtig war, dass diese Frau am Leben blieb.
Selena hörte nicht auf, auf dem Beifahrersitz herumzuzappeln. Sie streckte ihre schlanken Beine aus und betrachtete die umliegende Landschaft - schneebedeckte Tannen, so weit das Auge reichte. »Wann sind wir da?«
Wenn Leslie diese Frage noch ein einziges Mal hörte, würden ihr vermutlich Rauchwölkchen aus den Ohren steigen. »In ein paar Minuten.« Mehr als zwanzig, aber jede Sekunde, eingepfercht im Wagen, fühlte sich an wie eine Ewigkeit.
»Aber hier draußen ist doch nichts. Ich habe seit über einer Stunde kein Haus gesehen, kein Geschäft, nicht einmal eine miese kleine Tankstelle. Dieser ganze Landstrich sieht verlassen aus.«
Das war der Punkt.
Leslie ging etwas vom Gas und suchte die Schneise zwischen den Bäumen, wo ein Weg, der gerade breit genug für ein Auto war, in den Wald führte. Es war eine Weile her, dass sie selbst hier hergefahren war, und dieses Stück verschneiter alaskischer Überlandstraße war wenig abwechslungsreich. Als sie den Abzweig in letzter Sekunde entdeckte, nahm sie die scharfe Kurve so vorsichtig wie möglich. Die Ganzjahresreifen ihres Gebrauchtwagens kamen mit den Frühlingsbedingungen Alaskas nicht besonders gut zurecht.
Hohe dicke Bäume zu beiden Seiten versperrten die Sicht auf die untergehende Sonne und warfen unheilverkündende Schatten.
»Ich dachte, Sie versuchen, mir das Leben zu retten. Hier sieht es aus wie in einem Horrorfilm.«
Selena Hudsons lebhafte Fantasie war eine Berufskrankheit, wenn man wie sie in Filmkulissen aufgewachsen war. Der Disney-Kinderstar, aus dem eine berühmte Darstellerin in Liebeskomödien geworden war, nahm die Welt nur wahr, wenn sie von Kunstlicht erhellt wurde.
»Glauben Sie mir, das hier ist der sicherste Ort für Sie.« Hoffentlich klang Leslie überzeugender, als sie sich fühlte. Je weiter sie sich von L.?A. entfernt hatten, umso mehr schwand ihre Zuversicht.
»Ist das überhaupt eine Straße?«
»Ja.« Keine tolle. Ihr Kleinwagen hatte Mühe mit dem Schnee.
»Sind Sie sich sicher, dass dieses Auto hier durchkommt?«, fragte Selena.
»Ja.« Wenn ein kleines Wunder geschah jedenfalls. Es reizte sie nicht besonders, auszusteigen und den Rest des Weges zu Fuß zu gehen. »Halten Sie einfach durch. Wir sind fast da.«
Selena seufzte, lehnte sich dann aber zurück.
Einige Minuten und etliche Gebete später bremste Leslie und legte vor einer kleinen, abgeschiedenen Holzhütte den Parkgang ein.
»Sagen Sie mir, dass das nicht unser Quartier ist.« Auf Selenas wenig beeindruckten Gesichtsausdruck war Leslie vorbereitet. Nur Luxusabsteigen mit fünf Sternen fanden Gnade vor den Augen des Stars. »Der Motor ist heiß gelaufen, oder? Halten wir deshalb?«
»Nein. Wir sind am Ziel. Das ist die Hütte meiner Familie. Sie ist sicher.«
»Gibt es hier überhaupt fließendes Wasser?«
»Ja.« Hoffentlich. Wenn es nicht aus den Rohren gelassen worden war, um zu verhindern, dass sie während der Wintermonate einfroren. Die Wahrheit war, sie war seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Leslies Entscheidung, den Filmstar in die alaskische Wildnis draußen vor ihrer Heimatstadt Wild River zu bringen, war eine impulsive gewesen. Eine, für die sie keine offizielle Zustimmung erhalten hatte und die sie durchaus ihren Job bei dem privaten Sicherheitsdienst in L.?A. kosten konnte. Es war eine Entscheidung, für die sie keine Vorbereitungszeit gehabt hatte. Sie hatte sie von jetzt auf gleich treffen müssen, und das war ihr eingefallen.
Natürlich hatte sie die Wahrheit auch ein wenig schönen müssen, um den Filmstar dazu zu bewegen, ihrer irrsinnigen Idee zuzustimmen, mit dem Auto von Kalifornien nach Alaska zu fahren, und jetzt legte der Ausdruck des Entsetzens auf Selenas Zügen die Befürchtung nahe, dass sie nie wieder irgendeinem anderen Klienten zugeteilt werden würde.
Aber sie war Personenschützerin von Beruf, und das hier hatte sich wie die beste und einzige Reaktion auf den Einbruch von Selenas Stalker angefühlt.
»Sie haben gesagt, wir würden in ein Skiresort fahren.«
Leslie nickte. »Sie können hier draußen Langlauf machen.« Ihre Familie bewahrte in dem kleinen Schuppen hinter der Hütte Skier und Schneeschuhe auf. Natürlich würden sie den Weg zum Schuppen erst einmal freischaufeln müssen.
Selena starrte sie an. »Sie wissen, dass das nicht das ist, was ich erwartet habe.«
»Nun, Erwartungen sind immer so eine Sache.«
»Leslie! Sie haben mich belogen. Sogar in vielen Punkten. Sie haben mich von Unicorn getrennt - der übrigens ein emotional stabilisierendes Tier ist -, und Sie haben gesagt, diese Autofahrt würde Spaß machen. Hat sie aber nicht. Sie haben gesagt, wir könnten unterwegs anhalten und uns etwas ansehen. Haben wir nicht gemacht. Sie haben gesagt, diese gemeinsame Zeit würde uns einander näherbringen. Spoiler-Alarm - ich habe überhaupt nicht das Gefühl, Ihnen nähergekommen zu sein.«
Leslie stellte den Motor des Wagens ab. »Hören Sie, ich wusste, dass Sie nicht mitgekommen wären, wenn ich Ihnen die ganze Wahrheit gesagt hätte, und es blieb keine Zeit, Unicorn zu holen, bevor wir die Stadt verlassen mussten.« Der kaum zweieinhalb Kilo auf die Waage bringende Chihuahua des Stars war im Posh Puppy Spa gewesen, als sie Hals über Kopf aus L.?A. verschwunden waren.
Selenas verkniffener Gesichtsausdruck verriet, dass sie kurz davor war, vor Ärger zu platzen, sie rutschte auf dem Sitz hin und her. »Wir bleiben nicht hier, aber ich muss wirklich pinkeln, also ist der Plan folgender. Wir gehen hinein. Ich pinkele. Dann machen wir, dass wir hier wegkommen, bevor Jason mit einem Eishockeyhelm auftaucht und uns ermordet.«
Leslie knirschte mit den Zähnen. Sie konnte die beiden ersten Schritte dieses Plans ermöglichen, aber Selena würde akzeptieren müssen, dass sie nicht weiterfahren würden. Nicht bis Leslie herausgefunden hatte, was als Nächstes passieren sollte. »Lassen Sie uns reingehen«, sagte sie. »Sie werden sich bestimmt besser fühlen, sobald Sie die Hütte von innen gesehen haben.«
»Verlassen Sie sich nicht zu fest darauf«, murrte Selena. Sie schaute aus dem Fenster. »Wie sollen wir überhaupt zur Tür kommen?«
»Ähm .« Leslie schaute auf ihre eigenen Füße und dann auf die der anderen Frau. Selenas Laufschuhe und ihre eigenen Arbeitsschuhe waren einem Marsch durch hohen Schnee nicht gewachsen.
Seit dem vergangenen Sommer war niemand mehr in der Hütte gewesen; Katherine, ihre Schwester, kam gewohnheitsmäßig jedes Jahr einige Wochen her, um sich zu erholen. Sie behauptete, dass die angenehme Geräuschkulisse ihr half, sich zu entspannen, genau wie der Wald um sie herum, dann konnte sie sich von dem Stress ihres Jobs als Detective der Mordkommission der alaskischen Staatspolizei erholen. Abgesehen von diesem jährlichen Besuch benutzte eigentlich niemand aus ihrer Familie die Hütte. Jedenfalls nicht mehr seit dem Tod ihres Vaters, als die Familienatmosphäre angespannter geworden war. Und definitiv nicht während der Wintermonate, wenn der Zugang zur Hütte und zu Aktivitäten im Freien behindert war, daher war sie nicht mehr gut in Schuss.
Leslie wusste, dass die Heizung nicht eingeschaltet sein würde, und keine von ihnen war für alaskisches Wetter gekleidet; sie trugen lediglich Übergangsjacken und billige dünne Stoffhandschuhe von der letzten Tankstelle, bevor sie nach Alaska gelangt waren.
Zugegeben, sie hatte die Logistik dieser überstürzten Entscheidung nicht gründlich durchdacht . eigentlich überhaupt nicht durchdacht. Es war eine Reaktion binnen eines Herzschlags gewesen, eine Reaktion auf eine gefährliche Situation. Ihr Kämpfen-oder-Fliehen-Instinkt hatte die Kontrolle übernommen, und sie hatte sich dafür entschieden zu fliehen, unsicher, wogegen sie eigentlich kämpften. Ihre Ausbildung hatte sie gelehrt, dass es immer ein Nachteil war, unvorbereitet zu sein, und sie hatte Selena nicht noch größerer Gefahr aussetzen wollen, indem sie die Sache in L.?A. abwartete.
Selenas Blick brannte sich in ihren. »Also?«
Sie würde nicht in Panik geraten oder ihrer Klientin gegenüber unvorbereitet erscheinen. Bleib cool.
Leslie bückte sich, um ihre Stiefel aufzuschnüren. Sie hatten in der Hütte zusätzliche Winterkleider und Stiefel. Sie brauchten nur dort hinzugelangen. »Wir tauschen.«
»Igitt. Auf keinen Fall.«
»Wollen Sie wirklich in diesen Schuhen durch den Schnee stapfen?« Sie deutete mit dem Kopf auf die zartgrün-hellrosafarbenen Laufschuhe.
»Nein. Also werden Sie mich wohl zur Tür tragen müssen.«
Diese Frau hatte offenbar den Verstand verloren. »Sie wollen, dass ich Sie trage?«
»Hören Sie, es war Ihre Lebensentscheidung, Bodyguard zu werden. Daher haben Sie sich verpflichtet, meinen Körper zu schützen - meinen ganzen Körper und auf jede notwendige Weise. Und wenn Sie einen traditionellen Männerberuf ausüben wollen .«
Verdammt, ging das schon wieder los. Selenas Ungläubigkeit und Enttäuschung, dass man ihr einen weiblichen Leibwächter zugeteilt hatte. Während des ersten Monats hatte sie sich nur Selenas Skepsis anhören müssen, ob Leslie sie in einer lebensbedrohlichen Situation tatsächlich beschützen könne. Leslies Referenzen - fünf Jahre als Staatspolizistin...