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Würde in ihrem Nachruf mutig oder verrückt stehen?
Cassie Reynolds starrte die steile Skipiste mit der Rampe am Ende hinunter. Die Rampe sollte die Teilnehmer des Slush Cups über den anschließenden breiten Eiswasserteich bis ans andere Ufer katapultieren. Oder eben nicht ganz so weit, in das Eiswasser hinein.
Nur wenige hatten die sanfte, trockene Landung tatsächlich geschafft. Die meisten waren zitternde, menschliche Eislutscher, die am Rand standen und hofften, dass sie weit genug und schnell genug gesegelt waren, um nachmittags am Finale des Slush Cups von Wild River teilnehmen zu dürfen.
Sich aufs Hoffen verlegen? Okay, sie war definitiv verrückt.
»Kein Wunder, dass es nichts kostet, an diesem Wettbewerb teilzunehmen«, bemerkte Erika Sheraton, ihre beste Freundin, und hüpfte neben ihr auf und ab, um sich bei dem feucht-kühlen Aprilwetter warm zu halten.
»Ich würde nicht unbedingt sagen, dass es kostenlos ist. Ich finde, wir bezahlen mit unserem Stolz«, warf Cassies Bruder Reed ein und versuchte, seine untere Region in dem hautengen Ganzkörperanzug aus silbrigem Elasthan und mit dem Logo von Snow Trek Tours auf dem Rücken zu verdecken.
Cassie warf ihrem Bruder einen Blick zu. Jedes Team, das sich für den Slush Cup anmeldete, musste passende Kostüme tragen. Am Rand hatte sich eine wie Hippies gekleidete Gruppe versammelt, mit Schlagjeans und Friedenssymbolen auf ihren gebatikten Shirts, dann eine Gruppe von Spartanern mit kurzen, braunen Kilts aus Leder und Schärpen über den nackten Oberkörpern und eine Gruppe von Werwölfen in weißen, flauschigen Einteilern . Cassie hatte strategisch geplant, als sie ihr Firmenlogo auf silbrige, eng anliegende Ganzkörperanzüge hatte drucken lassen.
Ihr Team wirkte aerodynamisch, alle gekleidet wie silberne Raketen, oder etwa nicht?
»Oh, kommt schon, Leute«, sagte sie. »Wo bleibt euer Kampfgeist? Tank beklagt sich nicht.« Genauso wenig wie sie. Ihr Bruder in dem hautengen Anzug bot einen Anblick, auf den sie hätte verzichten können, aber Tank, liebevoll so genannt wegen seiner geradezu überwältigenden Muskeln, seiner beeindruckenden einsdreiundneunzig großen Gestalt bei einem Gewicht von gut hundert Kilo dagegen . sie hätte seinen glänzenden, silbernen Hintern den ganzen Tag anstarren können.
»Ich habe versucht, mich zu beklagen. Es hat nicht geklappt«, entgegnete Tank und überprüfte ihr selbst gebautes Gefährt - einen Strandbuggy auf Skiern, den Cassie in drei Minuten benutzen würde, um über den sechs mal zwölf Meter großen Teich zu fliegen. In diesem Jahr hatten die Teilnehmer die Wahl, wie sie den Teich überqueren wollten: Skier, Snowboards oder ein selbst gebautes Gefährt. Nachdem sie sich Monate zuvor bei einem Lawinenunglück den Fuß gebrochen hatte, hatte Cassie sich für den Strandbuggy entschieden.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du dich dafür angemeldet hast«, sagte Erika und zog ihren Pulli fester um ihr eigenes glänzendes Kostüm. Indem sie den viel zu weiten Pullover übergezogen hatte, missachtete sie den Sinn der Sache, nämlich Cassies Firmenlogo sichtbar zu machen, aber als Cassie darauf hingewiesen hatte, hatte Erika ihr eine Antwort gegeben, die im Großen und Ganzen darauf hinauslief, dass sie ihr den Buckel runterrutschen konnte.
»Also, ich bin mir ziemlich sicher, dass keiner von uns sich freiwillig gemeldet hat«, sagte Reed.
»Jeder von euch ist aus einem bestimmten Grund auserwählt worden«, bestätigte Cassie. »Tank bringt die Muskeln mit .« Und Mann, hatte er Muskeln. Sie beäugte die kräftige, wohldefinierte Brust ihres Freundes in dem Anzug. Seine Brustmuskeln hätten für illegal erklärt werden sollen, und seine Bauchmuskeln, die unten in ein V ausliefen, ließen ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ihre Gedanken schweiften ab. Sie mussten endlich Sex haben. Eigentlich war das seit fünf Jahren überfällig.
Einige Monate zuvor hatten sie sich endlich vom Freundesterritorium entfernt, aber Tank bewegte sich im Tempo eines Minensuchgeräts. Und verdammt, ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Seine Bindungsangst und seine unerschütterliche Hingabe an die einzige dauerhafte Frau in seinem Leben - seine Tochter Kaia - zwangen Cassie, ihn aus der Ferne zu begehren.
»Und was ist mit uns Übrigen? Was qualifiziert uns?«, fragte Erika.
Cassie drehte sich zu ihrer Freundin, der brillanten Chirurgin, um. »Du bist hier, um mein Gesicht in Ordnung zu bringen, falls diese Sache schrecklich schiefgeht .«
»Was höchstwahrscheinlich auch passieren wird«, warf Reed ein.
»Scht . und du, großer Bruder, bist hier, um alles zu filmen«, sprach sie weiter und reichte Reed ihr Handy. Sie stellte ihre Helmkamera an, als sie in den Buggy stieg. Unterschiedliche Blickwinkel würden ein faszinierenderes Video ergeben. »Sieh zu, dass du ein gutes, klares Foto machst. Eins, das ich für die Werbung benutzen kann.«
Seit dem Ende des Winters gingen die Buchungen in ihrer Firma Snow Trek Tours zurück, und durch die Eröffnung einer Filiale der North Mountain Sports Company in einigen Wochen, einer konkurrierenden Ladenkette, brannte Cassie verzweifelt darauf, weitere Touristen in die Berge zu führen. Die Menschen mussten einfach erkennen, wie viel Spaß Alaska im Frühling machen konnte und dass Cassies Firma Teil dieser wilden und abenteuerlichen Gemeinschaft war. Aufnahmen von ihrer Teilnahme am Frühlingsjahrmarkt und dem alljährlichen Slush Cup wären definitiv hilfreich.
Als sie den steilen Hang hinunterschaute, verlor sie beinahe den Mut. Bisher war jeder Teilnehmer in dem halb zugefrorenen Teich gelandet. Konnte sie es heil hinüberschaffen?
Tausende von Besuchern verfolgten das Geschehen vom Rand und schwenkten Schilder, um ihre Lieblingsmannschaft zu unterstützen. Es war eins der Wochenenden in Wild River, an denen am meisten los war. Cassies Ziel bestand darin, einige dieser Extremsportfans als Kunden zu gewinnen.
Falls sie überlebte.
Sie holte tief Luft und setzte ihre Skibrille auf.
Da der Mann ihrer Träume zuschaute, konnte sie jetzt nicht kneifen.
»Komm schon, Cass! Du schaffst das.« Kaia, Tanks Tochter, winkte von ihrem Platz am Fuß der Piste, den Fotoapparat bereit, um Bilder für die Werbung in den sozialen Medien zu machen. Cassies junger sibirischer Husky saß zu Kaias Füßen und versuchte, gehorsam zu sein, aber das Hecheln und Schwanzwedeln verriet sie. Diva würde glücklich in den Teich springen, wenn Kaia sie nicht an ihrer Leine festhielte.
Es gab keinen Grund zur Sorge. Sie hatte in ihrem Team eine Chirurgin und zwei der Besten des Search and Rescue Teams, und sie hatten ein narrensicheres .
Der Steuerknüppel des Gefährts brach ab, als sie ihn testete.
»Nun, das ist Pech.« War es zu spät, Änderungen an dem Strandbuggy vorzunehmen? Zum Beispiel einen Airbag zu installieren?
»Okay, also war's das?«, fragte Erika, die aussah, als würde sie mit Freuden für den Tag Schluss machen. »Das bedeutet, dass wir nicht starten können, oder?«
Reed schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Hoffnungen. Sie ist irre.«
Cassie zeigte ihm den Mittelfinger.
»Keine Sorge. Du brauchst ihn nicht«, fügte Tank hinzu und nahm ihr den Steuerknüppel ab. »Du fährst immer nur geradeaus.« Er bückte sich und machte sich bereit, sie abzustoßen, gerade als der Verantwortliche ihnen bedeutete, sich in Position zu bringen. »Bereit? Dann wollen wir diesen Stunt mal hinter uns bringen.«
Seine dunklen, kohlefarbenen Augen offenbarten seine Sorge. Dieser Ausdruck stand sehr oft in ihnen. Auf Rettungsmissionen mit dem Search and Rescue Team war er immer angespannt und besorgt, bis der Einsatz vorüber war, und als lediger Dad machte er sich ständig Gedanken um Kaia . ob sie sicher war, ob er als Vater die richtigen Entscheidungen traf, ob er die Rolle von Vater und Mutter erfolgreich ausfüllte . das war es vor allem, was Cassie zu Tank hinzog - seine Aufmerksamkeit, sein Ernst, seine strenge Loyalität und sein Beschützerinstinkt. Sie selbst war unbeschwert und stets risikofreudig, aber einen sicheren Ort zu haben, an dem sie landen konnte, und jemanden, der ihr Rückendeckung gab, während sie durch ihr Leben abenteuerte, das war ein gutes Gefühl. Und das hatte sie in Tank.
Als Freund.
Er strich ihr das Haar aus den Augen, und das Gefühl seiner kühlen Hand auf ihrer verschwitzten Haut ließ sie erbeben. Vielleicht sollte sie ihn küssen, nur für den Fall, dass sie starb, ohne eine Gelegenheit dazu zu bekommen . wie viele Male im Laufe der Jahre hatte sie das tun wollen? Aber sie kam stets zur Besinnung, bevor sie den Schritt über diese Grenze wagte. Sobald sie sie überquerte, würde es kein Zurück geben, und es stand eine Menge auf dem Spiel. Alle in Wild River dachten, sie beide wären ein perfektes Paar . alle bis auf Tank. Er ignorierte entweder das Getuschel und die Blicke aller oder war tatsächlich so begriffsstutzig.
Würde ein Kuss ihm endlich klarmachen, dass sie mehr sein konnten als Freunde? Sie starrte auf seinen Mund. Verführerische Tom-Hardy-Lippen .
Er grinste. »Könntest du dich bitte konzentrieren?«
Verdammt, er wusste immer, was sie dachte.
Sie riss den Blick von ihm los. »Okay. Bin so weit«, bestätigte sie und hielt sich an den Seiten des Buggys fest.
Reed winkte dem Wettkampfleiter am Fuß der Piste zu, und der fünfsekündige Countdown begann.
»Ich kann nicht glauben, dass ich...