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Heute .
»Hallo, ich bin Montana Banks. Und ich bin süchtig nach Basejumping.«
Offensichtlich war das nicht das, was man hier hören wollte. Achtzehn Augenpaare betrachteten sie mit unterschiedlichen Abstufungen von Verurteilung.
Sicherer Ort, dass ich nicht lache.
»Ähm . okay. Nun, willkommen, Montana«, sagte Jane, die Leiterin der Selbsthilfegruppe für Süchtige, in die peinliche Stille hinein. »Ich weiß nicht recht, ob Sie hier richtig sind.« Sie deutete auf das Handbuch auf ihrem Schoß, als suche sie nach Regeln. Oder einem Grund, Montana wegzuschicken.
»Das ist hier eine Gruppe für Menschen, die nach etwas süchtig sind, das sie nicht tun sollten, richtig?«, fragte Montana.
Jane sah sich im Raum um. »Nicht etwas, das wir nicht tun sollten. Es geht eher darum, etwas zu lassen, das einen negativen Einfluss auf unser Leben und die Menschen um uns herum hat.«
»Nun, dann bin ich hier richtig«, entgegnete Montana. Ob sie nächste Woche wiederkommen würde, musste sich erst herausstellen. Es waren drei Monate in Wild River in Alaska notwendig gewesen, um den Mut aufzubringen, zu der Suchtselbsthilfegruppe zu gehen, und dieser Empfang war genau der Grund dafür. Niemand würde ihre Probleme ernst nehmen. Denn ihr Laster schien so viel weniger ernst zu sein als die aller anderen.
Bedauerlicherweise gab es keine Selbsthilfegruppe für Extremsportler mit Hirnverletzungen, die sie daran hinderten, der Leidenschaft ihres Lebens nachzugehen.
So unterschiedlich die Dämonen aller Anwesenden in diesem Raum waren, über allen schwebte tagein, tagaus die gleiche Gewitterwolke. Eine, die sonst niemand sah. Eine, gegen die sie ständig ankämpften, um einen Sonnenstrahl zu finden. So sehr unterschied Montana sich gar nicht von den anderen.
Für sie war dieser Lichtstrahl Kaia, ihre zehn Jahre alte Tochter. Als sie auf das Foto von ihnen beiden auf ihrem Handy schaute, stieß Montana einen tiefen Atemzug aus. Der Umzug nach Wild River war wichtig gewesen. Sie hatte lange genug zugelassen, dass ihre Verletzung sie von ihrer Tochter fernhielt. Ganz gleich, wie schwierig das Leben in dem kleinen Ski-Urlaubsort wurde, sie würde ihre Tochter nicht noch einmal im Stich lassen.
Aber vielleicht war die Gruppe doch nicht der richtige Ort für sie. Sie sammelte ihre Sachen ein. »Aber gut. Ich geh ja schon.«
»Nein, bleiben Sie bitte«, sagte Jane, deren warme Herzlichkeit zurückgekehrt war. »Alle mal herhören, ich möchte euch Montana vorstellen.«
»Hey, Montana!«, sagte die Gruppe einmütig.
»Wie wär's, wenn du uns etwas über dich erzählst?«, schlug Jane vor. Sie schaute auf ihre Armbanduhr.
Alle bekamen zehn Minuten lang das Rederecht, und der Zeitdruck, vierunddreißig Lebensjahre zusammenzufassen, ließ Montanas Herz rasen. Wo sollte sie anfangen? Mit der Verletzung, die sie sich vor zehn Jahren beim Basejumping zugezogen hatte, die ihre Zukunft hatte entgleisen lassen? Oder sollte sie noch weiter zurückgehen und von dem Zwischenfall erzählen, der ihre Existenz auf den Kopf gestellt hatte?
»Ich bin neu in Wild River«, begann sie. »Ich habe eine Tochter hier, und ich versuche, wieder ein Teil ihres Lebens zu werden.«
Sie alle verstanden das und nickten. Entfremdung von Familienmitgliedern und der Kampf, wieder ein Zuhause zu finden, war ein alltägliches Thema in der Gruppe.
»Ich habe eine neue Berufslaufbahn mit einer unglaublichen Geschäftspartnerin begonnen, und ich habe jede Menge neue Freunde hier in der Stadt gewonnen.« Es war geradezu beunruhigend einfach gewesen, sich hier einzuleben. Ihre neue Wohnung war billig, sie hatte es von dort nicht weit in die kleine Innenstadt, und ihr Vermieter hatte kein Problem damit, dass sie seinen üblichen Jahresvertrag nicht unterzeichnet hatte. Stattdessen erlaubte er es ihr, von Monat zu Monat zu bezahlen. Ihren gerade angetretenen Job bei Snow Trek Tours, das nahe Wild River einen neuen legalen Absprungplatz fürs Basejumping eröffnete, hatte sie sich erheblich einfacher verschaffen können, als sie jemals hätte prophezeien können, und das verdankte sie dem hiesigen Bürgermeister, der selbst ein Extrem-Junkie war. Sie hatte Freunde gefunden - darunter Cassie, die Freundin ihres Ex-Freundes und Inhaberin von Snow Trek Tours. Und sie teilte sich das Sorgerecht mit Kaias Vater, Tank. Es lief gut. Das Leben war . einfach. Und entspannt.
Bedauerlicherweise waren einfach und entspannt nicht genug für sie.
»Aber jeden Morgen beim Aufwachen ist das Erste, woran ich denke, ein Sprung von einer Klippe.« Große Augen ließen sie schnell hinzufügen: »Mit einem Fallschirm.« Genau genommen handelte es sich dabei erst einmal bloß um einen Flügelanzug, aber sie wusste, dass die Menschen hier im Raum sich nicht für die Details interessierten. »Und die Versuchung bleibt beharrlich. Sie war früher ein großer Teil meines Lebens. Eigentlich war sie alles für mich. Ein Adrenalinrausch, wie man ihn sonst nicht erlebt, macht in hohem Maße süchtig.« Sie hatte mit dreizehn Jahren zusammen mit ihrer Großmutter mit dem Fallschirmspringen begonnen, und dann mit achtzehn mit Basejumping, als sie gerade alt genug gewesen war, um einen Haftungsausschluss zu unterzeichnen. Sie hatte zusammen mit anderen Extremsportlern die ganze Welt bereist und war über den atemberaubendsten Landschaften geschwebt. Sie gehörte zu den Topspringern auf der Welt und hatte sogar wegen eines illegalen Sprungs von einem städtischen Gebäude kurze Zeit im Gefängnis verbracht . bis der Unfall alles verändert hatte.
Sie räusperte sich und sprach weiter. »Aber ich weiß, dass das nicht mehr der richtige Weg für mich ist.« Ihr unberechenbares Gehirn mit seiner seltenen Form von kurzfristiger allgemeiner Amnesie und mangelnder Urteilskraft verhinderte einen sicheren Sprung. »Wie heißt es noch gleich? Jene, die nicht können, unterrichten? Nun, das ist der Punkt, an dem ich jetzt bin.«
Mit ihrem Anfängerkurs im Basejumping, der zum Preis von dreitausend Dollar die Woche den ganzen Monat ausgebucht war, brauchte Snow Trek Tours sich keine Sorgen mehr zu machen wegen der Konkurrenz der North Mountain Sports Company, die eine neue Filiale im Ort eröffnet und Snow Trek Tours einige ihrer früheren Abenteuertouren-Kunden weggeschnappt hatte. Cassies Geschäft blühte im Schatten der großen Filiale, und Montana war glücklich darüber, dass sie Tanks Freundin hatte helfen können - der Frau, die während Montanas jahrelanger Abwesenheit eine der wichtigsten Bezugspersonen für ihre Tochter gewesen war. Aber sie konnte den Schmerz in ihrer Brust nicht leugnen, wann immer sie auf dem Suncrest Peak stand und in das atemberaubende Tal hinunterschaute, in dem Wissen, dass sie nie wieder darüber hinwegschweben würde. Es war ein zu großes Risiko, weil unklar war, was ihre unberechenbaren Gedächtnisausfälle auslöste, und wenn es während eines Sprungs zu einem solchen kam, konnte das vernichtend gefährlich sein.
»Danke, dass du uns das erzählt hast«, sagte Jane. »Also, was tust du, um die härteren Tage zu überstehen? Die Gelegenheiten, bei denen du versucht bist, klein beizugeben?«
Ich sehe meine tote Schwester, und sie bringt mich zur Vernunft.
»Daran arbeite ich noch«, sagte Montana und nahm schnell Platz, bevor sie den Gedanken in Worte fassen konnte und die anderen denken würden, sie sei noch verrückter, als sie es vermutet hatten.
Eine halbe Stunde später endete die Sitzung, und Montana sammelte ihre Sachen ein, um ins Büro zurückzukehren. Der nächste Tag war der erste ihres Base-Trainingsprogramms. Der viertägige Kurs würde Möchtegern-Springern die Grundlagen nahebringen, und zwar sicher auf dem Boden. Das war der beste Ansatz, um mit dem neuen Unternehmen zu beginnen. Bis zum Herbstende waren es nur noch zwei Monate, und während des Winters konnte nicht gesprungen werden, daher würde Montana mindestens ein halbes Jahr Zeit bleiben, bevor die Fortgeschrittenenkurse begannen und sie tatsächlich mit ansehen musste, wie andere sprangen. Cassies Meinung nach war es eine brillante Methode, um ihr Geschäft aufzubauen, indem sie ihre ersten paar Monate im Geschäft Athleten mit dem Springen vertraut machten und sie frühzeitig ihren ersten Sprung im nächsten Jahr buchen ließen. Montana hatte sich für das Kompliment bedankt und nicht preisgegeben, dass sie einfach noch nicht bereit war, andere tun zu sehen, was sie so sehr liebte.
Sie band sich ihr Haar zu einem Pferdeschwanz, schnürte ihre Laufschuhe ein wenig fester und lief in einem schnellen Tempo durch die Stadt zur Hauptgeschäftsstraße.
Atme ein. Atme aus. Bewegung half angeblich gegen die aufgestaute Energie, die sie in sich trug, aber fünf Meilen am Tag und eine Stunde Fitnesstraining nahmen dieser Energie kaum die Spitze. Die Bergluft und die atemberaubende Aussicht auf die Wildnis machten das Verlangen nur noch stärker.
Ihre Eltern hatten geglaubt, die Rückkehr nach Denver sei das Beste für sie. Sie hatten ihre Entscheidung, nach Alaska zu gehen, nicht unterstützt, weil sie nicht recht glauben konnten, dass es ihr gut genug ging, um ganz allein zu leben, eine Million Meilen von ihnen entfernt. Und an manchen Tagen hätte sie ihnen recht gegeben, aber nachdem sie wieder eine Beziehung zu Kaia aufgebaut hatte, konnte sie sie einfach nicht verlassen. Gespräche über Skype, Handyanrufe und Briefe mochten in der Vergangenheit ausreichend gewesen sein, aber jetzt, da sie hier war und tatsächlich Zeit mit ihrer Tochter verbrachte, wollte sie die...