Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Karl, vier Jahre
Karl ist ein vierjähriger Junge. Er liebt seine Spielzeugautos und verbringt Stunden damit, sie immer wieder ein- und auszupacken. Er zeigt auch ein starkes Interesse an bestimmten Details, wie zum Beispiel den Rädern der Autos, die er mit großer Hingabe untersucht. Als seine Großeltern ihm ein neues Auto schenken, löst er zuerst ein Rad ab. In Bezug auf seine Sprachentwicklung zeigt Karl Schwierigkeiten. Mit vier Jahren spricht er noch nicht. Er geht zwar in einen Kindergarten, spielt dort aber nicht mit den anderen Kindern.
Karls Eltern haben früh bemerkt, dass sich sein Verhalten von anderen Kindern unterscheidet. Sie haben ärztliche Hilfe gesucht, als er drei war. Bis dahin diskutierten sie oft, ob Karl nicht nur einfach sehr schüchtern sei. Zuerst wurde er von der Kinderärztin zur Logopädie überwiesen. Eine Sprachtherapeutin hat die Familie nach einem halben Jahr an einen Kinder- und Jugendpsychiater für eine Autismus-Diagnostik empfohlen.
Karls Großeltern sind der Meinung, dass Karls Verhalten auf die Erziehung seiner Eltern zurückzuführen sei. Sie glauben, dass die Eltern zu nachsichtig seien und Karl zu sehr in seinen wiederkehrenden Handlungen unterstützten. Sie verstehen nicht, dass Karls Verhaltensweisen Anzeichen für eine Entwicklungsbesonderheit sein könnten und betonen stattdessen die Bedeutung einer konsequenteren Erziehung.
Gleich zu Beginn dieses Buches nähern wir uns einer der großen Fragen: Was ist Autismus eigentlich? Mit einer Erläuterung der Diagnosekriterien nach den gängigen Klassifikationssystemen würden wir es uns sicher am leichtesten machen. Ich möchte aber anders anfangen. Um diese Frage zu erörtern, hilft es, weitere Fragen zu stellen.
Was ist Autismus als Diagnose?
Was ist Autismus bezogen auf die Neurologie und Kognition?
Was bedeutet Autismus für autistische Menschen?
Kristien Hens und Raymond Langenberg plädieren dafür, die Frage »Was ist Autismus?« aus drei verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Autismus habe eine medizinische, eine kulturelle und eine individuelle Bedeutung (Hens & Langenberg 2018, 8).
Wir werden uns allen drei Perspektiven nur kurz annähern, denn das Ziel dieses Kapitels ist nicht, die Frage bis ins Kleinste zu beantworten. Es geht vielmehr darum, fachliches Wissen zum Thema Autismus zu vermitteln, aber auch ein Gefühl für autistische Menschen und ihre Belange zu bekommen. Nicht zuletzt wollen wir mit Mythen aufräumen und Theorien kennenlernen, die uns dabei helfen, besser über das Thema nachzudenken und darüber ins Gespräch zu kommen.
Reflexionsfrage:
Was ist Autismus für Sie? Welche Ideen haben Sie dazu? Was davon ist Faktenwissen? Was könnten Mythen sein?
Autismus wird in der medizinischen Diagnostik anhand von bestimmten Kriterien identifiziert, die in Diagnosesystemen festgelegt sind. Diese heißen DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) und ICD-11 (International Classification of Diseases). Das in Deutschland geltende Diagnosesystem ICD-11 setzt folgende Merkmale für eine Autismus-Diagnose voraus: »Anhaltende Defizite in der Fähigkeit, wechselseitige soziale Interaktionen und soziale Kommunikation zu initiieren und aufrechtzuerhalten, sowie [...] eine Reihe von eingeschränkten, sich wiederholenden und unflexiblen Verhaltensmustern, Interessen oder Aktivitäten, die für das Alter und den soziokulturellen Kontext der Person eindeutig untypisch oder exzessiv sind« (WHO 2022, 6 A02). Es geht also um Besonderheiten im Sozialverhalten, in der Kommunikation und um wiederkehrende Handlungen.
Wichtig ist auch, dass die Symptome sich bereits im frühen Kindesalter zeigen (auch wenn sich einige weitere erst im Laufe des Lebens entwickeln können) und dass die Einschränkungen zu einer Beeinträchtigung in alltäglichen Settings (z.?B. Familie, Kindergarten, Schule) führen. Es werden diagnostische Untergruppen gebildet, je nachdem, ob das Kind in seiner Intelligenz und seiner Sprachentwicklung beeinträchtigt ist. Wie genau diese Diagnose gestellt wird, klären wir in Kapitel 1.2 (? Kap. 1.2). Aus medizinischer Sicht ergibt sich eine Diagnose also aus einer defizitorientierten Sicht: Wenn bestimmte Defizite in der Entwicklung vorliegen und diese zu Beeinträchtigungen im Alltag führen, und wenn dies alles durch keine anderen Gründe oder Bedingungsgefüge erklärbar ist, kann eine Diagnose gestellt werden. Mediziner betrachten Autismus als eine neurologische Entwicklungsstörung, bei der es zu Unterschieden in der Struktur des Gehirns und seiner Funktion kommt. Der aktuelle medizinische Begriff, den die ICD-11 vorgibt, ist »Autismus-Spektrum-Störungen«. Dabei sollten wir das Spektrum aber nicht als lineares System betrachten. Es geht hier nicht darum, dass jemand nur ein bisschen autistisch oder sehr autistisch sein könnte.
Was heißt »Autismus-Spektrum?«
Autismus ist eine kategoriale Diagnose. Das heißt: Man ist autistisch oder nicht. Der Begriff des »Autismus-Spektrums« führt oft zu Missverständnissen. Häufig wird vermutet, dass das »Spektrum« bedeutet, dass jemand ein bisschen autistisch sein kann und jemand anders sehr autistisch ist. Die Idee »Sind wir nicht alle ein bisschen autistisch?« - ist falsch. Man ist autistisch oder nicht. Der Begriff des Spektrums bezieht sich nicht darauf, wie stark ausgeprägt der Autismus bei einer Person ist. Es geht darum, dass verschiedene Merkmale bei individuellen autistischen Personen qualitativ unterschiedlich ausgeprägt sein können.
In der medizinischen und pädagogischen Welt werden häufig noch die Begriffe »high-functioning« und »low functioning« verwendet. Diese sind nicht nur sehr eindimensionale, leistungsbezogene Begriffe, sie blenden auch die Rolle der Umwelt aus. Dass ein Mensch »high functioning« oder »low functioning« wäre, würde bedeuten, dass der Mensch zum einen rein daran gemessen wird, wie er sich den äußeren Leistungsansprüchen anpassen kann. Zum anderen würde man davon ausgehen, dass das »Funktionieren« im Alltag eine reine Sache des autistischen Menschen und seiner spezifischen Veranlagung wäre. Umwelteinflüsse, die Frage des pädagogischen Settings und die Verantwortung anderer Menschen (insbesondere pädagogischer Personen) in diesen Settings werden hier ausgeblendet. Wenn man Flexibilität, Personalschlüssel und Fortbildungen zu Autismus betrachtet, ergibt es vielleicht eher Sinn, von »High-functioning-Settings« und »Low-functioning Settings« zu sprechen.
Haben Sie schon einmal gesehen, wie sich das Umfeld einer autistischen Person auf ihr tägliches Leben auswirkte, sei es positiv oder negativ? Was denken Sie, können Pädagogen tun, um das Leben für autistische Personen einfacher zu gestalten?
In diesem Zusammenhang spreche ich mich auch betont kritisch zum Begriff »autistische Züge« aus. Dieser Begriff wird im pädagogischen Alltag sehr häufig verwendet. Zu sagen, ein Kind habe »autistische Züge«, lässt vermuten, dass jemand ein bisschen autistisch sein könnte. Das widerspricht dem Autismus als kategorialer Diagnose (man ist autistisch oder man ist es nicht). Häufig wird der Begriff verwendet, wenn Fachpersonen in Sozialberufen ständig wiederkehrendes Verhalten bei einem Menschen sehen, aber (bisher) keine offizielle Autismus-Diagnose vorliegt. Für Eltern und Angehörige ist dieser Begriff sehr verwirrend. Nicht alle Eltern wissen, dass der Erzieher im Kindergarten oder die Sprachtherapeutin keine Autismus-Diagnose fällen können und dürfen. Der leichtfertige Umgang mit dem Begriff »Autismus« kann Eltern vor den Kopf stoßen. Vielen ist klar, dass es sich um etwas dauerhaftes handelt. Um Missverständnisse und Kompetenzüberschreitungen zu vermeiden, sollte der Begriff »Autismus« in Bezug auf einen Menschen nur verwendet werden, wenn tatsächlich eine Autismus-Diagnose vorliegt. Im sonstigen Fall ist es ratsam, sich auf eine genaue Beschreibung des Verhaltens zu beschränken. Ähnliches gilt für die Idee, Kindern einen »Pseudo-Autismus« zu attestieren. Dieser Begriff wird mitunter verwendet, wenn Kinder Verhaltensauffälligkeiten nach extremem Medienkonsum zeigen. Besonders dramatisch ist hier, dass der Begriff »Autismus« in diesem Fall nicht für eine genetisch bedingte Besonderheit, sondern für Auffälligkeiten in Folge eines Versagens in der Betreuung des Kindes attestiert wird. Diese bedenklichen Ideen wurden zuletzt um 1970 von Bruno Bettelheim geäußert (nachzulesen in ? Kap. 1.3).
Jessica Nina Lester und Michelle O'Reilly (2021) betonen in ihrem Buch über die verschiedenen Sichtweisen auf Autismus, dass Autismus immer auch eine soziale Konstruktion sei...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.