Schweitzer Fachinformationen
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Könnte es nicht sein, dass geerbte Gegenstände
die Umrisse unvollständiger Vertraulichkeiten sind?
Maria Gabriela Llansol
In den Häusern unserer Großeltern hängen überall Porträtaufnahmen. Sie beobachten uns auf Schritt und Tritt, und man hat den Eindruck, sie würden jeden Moment anfangen zu sprechen. Manchmal denke ich, sie sind viel zu schweigsam. Dann wieder lese ich einen leichten Vorwurf aus ihrem Blick. Ich bleibe gerne davor stehen und stelle mir vor, wie und warum diese Aufnahmen entstanden sind, wer die Kulisse, den Rahmen und den passenden Ort ausgewählt hat, sodass sie für immer wie eingefroren von ihrem Platz an der Wand auf uns herabblicken. Ein geradezu zeremonieller Akt, den wir nachfolgenden Generationen nicht mehr kennen. Heutzutage können wir jederzeit und überall Fotos von uns machen, doch haben sie nicht mehr den gleichen Wert und dieselbe rituelle Aura wie für unsere Ahnen. Sorgfältig arrangierte, mit Bedacht und Hingabe aufgenommene Porträts gibt es heute nicht mehr. Genauso wenig wie die berühmten Widmungen auf der Rückseite; da ist kein Platz mehr für die Vergänglichkeit, für den Gelbstich an den Händen, in den Gesichtern, den Ecken, der Landschaft. Wir, die Kinder des Fortschritts, bewahren unsere Fotos nicht länger in Alben oder alten Keksdosen auf, die einmal als Nähkästchen gedient haben und ihre Tage als Sammellager für Gesichter und Erinnerungen beschließen. Ein altes, gerahmtes Foto war früher wie ein Bruder, der am Leben der anderen teilhatte, der Blick blieb im Vorübergehen unwillkürlich daran haften, und manchmal verspürte man den Wunsch, es zurechtzurücken, es abzustauben, es zu berühren oder anzusprechen.
Unser Blick und alles, was damit zusammenhängt, hat sich ebenfalls von Grund auf gewandelt. Es genügt nicht mehr, auf die Wand zu schauen, um sich zu erinnern, denn ein neues Element hat sich zwischen das Papier und unseren Körper geschoben: die modernde Technik. Wir durchstöbern Apps, Medien, Tools, Computersysteme, um uns zu erinnern, wir brauchen dieses neue Medium, um unseren Vorfahren, die das alles nicht kannten, näherzukommen. Denkt man darüber nach, wird einem plötzlich die schmerzhafte Wahrheit bewusst. Von den Porträtierten auf den Fotos in den Häusern unserer Großeltern lebt niemand mehr. Geblieben sind nichts als leere Bilderrahmen.
Erst beim Tod von José Antonio, meinem Großvater väterlicherseits, dem Tierarzt, habe ich angefangen, vor den Fotos innezuhalten, die die Häuser der beiden Familien beherbergten. Da begannen die Fragen, die Angst, das Unbehagen. Wie konnte ich Tag für Tag einfach weitermachen, ohne das Leben meiner Vorfahren zu kennen? Das ist seltsam, denn es war nicht der erste Großvater, der starb. José, mein Großvater mütterlicherseits, war bereits gestorben, als ich sieben Jahre alt war. Nachdem er ein Leben lang geschuftet hatte, nahm ihm der Krebs plötzlich den Atem, wie bei einem frisch geborenen Welpen, der noch nicht schwimmen kann und in der Zisterne ertrinkt, klaglos, ohne aufzubegehren, ohne es zu begreifen. Ich war noch zu klein und habe es auch nicht begriffen. Die einzige Erinnerung, die ich an ihn habe, sind seine blutverschmierten Hände, wenn er im Patio seines Hauses die Hasen abhäutete. Das offene Hemd, das den Blick auf das weiße Unterhemd freigab, die mit einer Kordel zusammengehaltene Hose, die kräftigen, runzligen braunen Hände, überzogen von den roten Innereien des Tieres. Ich erinnere mich daran, wie die Hitze auf der Haut klebte und die Fliegen uns umschwirrten, aber vor allem an diesen süßlichen Geruch nach dem Übergang vom Leben zum Tod, der über allem schwebte, über dem Trockenplatz, den Blumenkästen und der Stufe, und sich dort ebenso festsetzte wie in meiner Erinnerung.
Damals war sein Tod für mich lediglich eine Formalität. Vielleicht weil ich nicht viel Zeit mit ihm verbracht hatte. Er war immer irgendwie im Hintergrund geblieben. Jetzt frage ich mich, was geschehen wäre, wenn der Tod sie beide in umgekehrter Reihenfolge geholt, wenn er wie ein einsamer Spieler die Ereignisse vertauscht und andere Lebenswege für die Zurückgebliebenen vorgegeben hätte. Heute empfinde ich eine Mischung aus Wut und Reue, nicht mehr Zeit mit ihm verbracht zu haben. Es ist wie ein unbewusster Impuls. Manchmal kommt es mir vor wie eine Fiktion.
Viele Jahre später schreckte ich schweißgebadet aus dem Schlaf hoch, das Herz schlug mir bis zum Hals. Es war brütend heiß. Ich erinnerte mich erst Stunden später wieder an den Traum. Auf der Heimfahrt von der Arbeit, während ich auf das endlose Band der Fahrbahn vor mir starrte und an nichts dachte, tauchten schlagartig die Bilder auf. Es war das erste Mal, dass ich von meinem Großvater José träumte. Wir beide inmitten seiner Olivenbäume. In seiner Hand ein kleines Bäumchen in einer schmutzigen, verrosteten Blechbüchse voller Erde. Im Boden lauter frisch ausgehobene Löcher, markiert mit Steinen, bereit, die Wurzeln der Pflanze aufzunehmen und zu ernähren. Zwischen uns liefen die Hasen herum, ohne uns zu beachten. Wir waren ein weiteres Element der Landschaft, etwas, das den dem Land eigenen Rhythmus nicht weiter tangiert. Im Traum redete mein Großvater, aber tief in meinem Inneren wusste ich, dass es nicht seine Stimme war. Ich hatte mich im Traum einfach von ihr davontragen lassen, ich hatte nur beobachtet, meine Hände mit Erde gefüllt und die ganze Zeit über die Büchse mit dem Olivenbäumchen gehalten. Auf der Fahrt befiel mich eine Mischung aus Kummer und unbändiger Wut.
Ich hatte vergessen, wie seine Stimme klang.
Oft frage ich mich, ob die Kindheit nur eine Illusion ist. Ich beschäftige mich so viel mit ihr, dass ich befürchte, sie zu entstellen oder zu idealisieren. Seit ich über ein Ich-Bewusstsein verfüge, ist mir klar, dass ich im Alter genauso leben will, wie ich als Kind gelebt habe. Ich möchte erwachsen werden, indem ich den umgekehrten Weg gehe, indem ich mich auf das zurückbesinne, was mich als Kind umgeben und meine Liebe zum Land geweckt hat. Ich bin, was ich bin, dank meiner Kindheit. Von klein auf wusste ich, dass ich Landtierärztin werden wollte, genau wie der Großvater. Die Jahre meiner Kindheit habe ich mit ihm zugebracht, inmitten eines Gartens voller Tiere. Das Land war das Substrat, in dem meine Familie mütterlicher- wie väterlicherseits über die Generationen hinweg Wurzeln geschlagen hatte: Da waren der Garten, die Vorratskammer, die Familie aus Kork- und Steineichen und Olivenbäumen, die Tiere, unsere Verbündeten bei Ernte und Arbeit.
Wir Schriftsteller werden oft gefragt, warum wir schreiben. Wie das erste Wort entsteht, das erste Gedicht, die erste Geschichte. Und wir versuchen vergeblich, etwas zu erklären, das schwer zu fassen ist, den Sinn dahinter zu ergründen, die Wurzel oder den Ursprung dieser Obsession, mithilfe von Worten alles umpflügen zu wollen. Ich weiß nicht mehr, wann oder warum ich anfing zu schreiben. Ich stelle mir vor, es ist wie ein Reflex, eine Gewohnheit, so wie man beim Aufwachen nach der Brille auf dem Nachttisch tastet. Etwas, das schon immer da war. Natürlich, ich könnte darüber schreiben, warum ich schreibe. Über die Dinge, die sich in den Vordergrund schieben, ins Licht treten und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sodass alles andere verschwindet. Manchmal tauchen sie auf und begleiten einen über Stunden, Tage oder sogar Wochen, bevor sie sich in Worte verwandeln. Ich stelle sie mir gern als Funken vor. Als etwas, das aus dem Nichts aufleuchtet und den Lauf der Dinge verändert.
Meine Kindheit ist eine Reihe solcher Funken: die Hände meiner Großväter, die Lumpen und Rasierklingen für die Veredelung der Pflanzen, die mutterlosen Lämmer, die Ziegen, die dem Ruf des Hirten folgen, die Olivenbäume und die Korkeichen, die Kuhglocken, die Wollpullover, die veterinärmedizinischen Fach- und Handbücher meines Großvaters . Auch das, was meinen Alltag als Landtierärztin ausmacht: der Wildwechsel, die Viehzüchter und -züchterinnen, mit denen ich arbeite, ihre Art zu reden, ihre Hände, die Körbe voller Gemüse und Eier, warme Ziegenmilch, der Steckling, der aus dem einen Blumentopf herausgerissen wurde, damit er in dem anderen heranwachsen kann, Volkslieder, Geschichten, Wiegenlieder, bestimmte Wörter, die man in der Stadt nicht hört, gedeihen hier prächtig und werden von denen gehegt und gepflegt, die das Land bestellen und dort leben.
Für die portugiesische Schriftstellerin María Gabriela Llansol war der Garten ihres Wohnhauses in Herbais - wo sie im Exil lebte und viele Stunden mit der Pflege ihrer Pflanzen zubrachte, las oder einfach nur dasaß und die Gedanken schweifen ließ - ihre noch unsichtbare Geschichte, der Initialfunke, bis viel später das erste Wort auftauchte und sie zu schreiben begann, als fiele dieses Licht, das die Dinge, die uns faszinieren und bewegen, gewissermaßen auf ihre Hand und entlockte ihr das erste Wort.
Mich treibt die Frage um, was wäre, wenn diese unsichtbare Geschichte, die Teil meines Lebens ist, nicht existierte. Würde ich dann auch schreiben? Hätte ich dann einfach eine andere? Dieses Buch ist sozusagen meine unsichtbare Geschichte, meine Zuflucht, der zaghafte Versuch, ein Haus zu bauen, konkret und schimärenhaft zugleich, wo Äste, Tiere und Saatgut Platz finden und das pulsierende Wort das Land und seine Bewohner ein wenig von ihrem Schattendasein und ihrer Staubschicht befreit.
Ein weiterer Funke, einer, der immer wieder aufleuchtet, betrifft die Strecke, die wir auf der Heimfahrt in unser Dorf mit dem Auto zurücklegen. Ich, als kleines Mädchen, die Wange an die Scheibe gedrückt, sommers wie winters, mit geschärftem Blick und gespitzten Ohren hinausstierend, als...
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