Schweitzer Fachinformationen
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Bonnie kam in die Küche und traf dort auf Clara, die bereits wach war und am Tisch saß. Ihre Schwester schlief am Wochenende leidenschaftlich gerne aus, das hier war also untypisch für sie.
»Morgen, Wölkchen.«
»Nenn mich nicht so.«
Bonnie schaltete den Wasserkocher an und griff nach zwei Bechern. Wieso hatte sie das gesagt? Es war Mums Kosename für Clara, nicht ihrer. Sie hätte wissen können, dass ihre Schwester nicht so genannt werden wollte. Bonnie gähnte und schob es auf ihre Müdigkeit. Ganz ehrlich, mittlerweile war es eine knifflige Angelegenheit, herauszufinden, was sie überhaupt noch sagen durfte. In den Monaten, seitdem sie Mum verloren hatten, schien ihnen auch die Fähigkeit abhandengekommen zu sein, miteinander zu kommunizieren, ohne sich zu streiten.
Als Bonnie Clara einen der Becher mit Tee reichte, bemerkte sie den Umschlag auf dem Tisch, auf den in fetten roten Lettern gedruckt stand, sie sollten ihn NICHT IGNORIEREN.
»Noch einer?«, fragte sie. Als Clara nicht antwortete, setzte sich Bonnie und umschloss ihren Becher mit den Händen. »Wie geht's deinem Bein heute?«
»Ist immer noch eingegipst.«
Clara war am Vortag auf dem Weg zur Arbeit vom Fahrrad gestürzt und hatte sich an zwei Stellen das Schienbein gebrochen.
»Konntest du schlafen?«
»Ein bisschen.«
»Tut es weh?«
Clara verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die besagte, ja logisch.
»Willst du heute Morgen bei der Produktionsfirma anrufen?«
Clara starrte auf den Umschlag.
»Du kannst so nicht mitmachen. Sie werden dich nicht lassen.«
»Ich habe mich so angestrengt, um diesen Platz zu kriegen.«
»Ich weiß, aber du hättest doch wahrscheinlich sowieso nicht gewonnen.«
»Wieso? Weil ich nicht schlau genug bin?«
»Es wird nur darum gehen, wer am beliebtesten ist oder die besten Quoten generiert.«
»Und du glaubst nicht, dass ich das sein könnte.«
Diese Seite von Clara kannte Bonnie gut. Wenn es nicht nach Plan lief, machte sie sich selbst runter und ging davon aus, dass die ganze Welt gegen sie war. Mum war immer gut darin gewesen, sie wieder in die Realität zurückzuholen, aber Bonnie hatte keine Ahnung, wie sie das angestellt hatte. Sie hätte mehr darauf achten sollen.
Sie schlürfte ihren Tee und versuchte, all die Erinnerungsstücke um sie herum nicht anzusehen: Mums Lieblingstasse, die noch immer im Becherbaum hing, ihre Schürze hinter der Tür, der an den Kühlschrank geheftete Zettel, auf dem stand, dass Mum sie beide bis zum Mond und wieder zurück liebte. Alles wirkte gedämpfter und weniger wichtig, als hätte jemand den Lautstärkeregler des Lebens heruntergedreht. Bonnie aß und trank einfach nur, um am Leben zu bleiben. Sie interagierte mit anderen nur, um höflich zu sein. Aber sie wollte nichts von alledem. Es war einfach zu schwer.
Bonnie drehte den Umschlag um, damit sie die schreiend roten Buchstaben nicht mehr sehen musste.
»Du könntest an meiner Stelle mitmachen.«
Bonnie blinzelte Clara ein paarmal an, ihr Hirn träumte gerade davon, in eine einfachere, glücklichere Version des Lebens davonzufliegen.
»Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht, und ich glaube, du könntest es schaffen.«
»Ach, du lieber Gott, nein.«
»Komm schon, Bonnie. Das könnte unsere Rettung sein. Und du wärst genial darin, das weißt du auch. Du warst schon immer besser im Rätsellösen. Die letzten beiden Escape Rooms, bei denen wir mitgemacht haben, hast du mehr oder weniger im Alleingang gelöst.«
Streng genommen stimmte das nicht ganz, aber Bonnie konnte sich des Stolzes nicht ganz erwehren, den sie immer empfand, wenn ihre kleine Schwester eingestand, sie zu bewundern.
Clara nahm den Umschlag in die Hand. »Was, wenn wir das Haus verlieren? Wo sollen wir dann wohnen? Mum hätte das nicht gewollt. Sie hätte gewollt, dass wir kämpfen.«
Bonnie spürte Wut in sich aufsteigen. Clara konnte nicht für Mum sprechen. Wenn überhaupt, dann hatte Bonnie ihr nähergestanden. Als Älteste hatte sie immer eine besondere Beziehung zu ihrer Mutter gehabt. Sie konnten sich mit einem Blick verständigen, besonders wenn Clara mal wieder ein Drama veranstaltete, was oft der Fall war.
»Bonnie, bitteeee?« Clara zog das letzte Wort flüsternd in die Länge.
»Nein. Es wäre furchtbar.« Was sie eigentlich meinte, war: Ich wäre furchtbar. Die Leute würden mich hassen, und ich würde mich entweder zum Deppen machen oder in der ersten Woche rausgewählt werden.
»Na und? Wenn du die hunderttausend Pfund gewinnst, lösen sich all unsere Sorgen in Luft auf.«
»Sie werden rausfinden, dass ich nicht du bin. Sie haben dich kennengelernt, und sie haben auch diese Bewerbungsvideos, die du gedreht hast.« Offensichtlich mochten sie Clara, was keine Überraschung war. Sie konnte unglaublich quirlig und lustig wirken, wenn sie sich Mühe gab.
»Man verwechselt uns ständig. Das ist erst letzte Woche wieder passiert. Terry vom Kiosk hat mich gefragt, ob ich schon seine Gedanken lesen könnte.«
»Das ist was anderes. Terry ist alt und sieht schlecht. Diese Leute sind auf Bilder spezialisiert. Sie würden so einen Betrug aus einer Meile Entfernung entdecken.«
»Dann würden sie ihn eben entdecken und dich rausschmeißen. Damit wäre nichts verloren. Immerhin hätten wir es versucht.«
»Ich mache das nicht.«
»Wieso? Weil du Angst hast oder weil es dir egal ist, was aus uns wird?«
Die Bitterkeit in Claras Tonfall verblüffte Bonnie eine Sekunde lang. Sie war vielleicht eine Dramaqueen, aber das war neu.
»Clara, natürlich ist es mir .«
»Dann beweis es! Beweis es.« Clara versuchte aufzustehen, kam aber ins Straucheln. Als Bonnie Anstalten machte, ihr zu helfen, wedelte Clara sie fort. »Wenn du nicht helfen willst, lass mich in Ruhe.«
Bonnie biss die Zähne zusammen. »Sei nicht blöd.«
»Es ist nur eine Fernsehsendung.«
»Ist es nicht. Es ist mein guter Ruf. Ich will eine ernsthafte Karriere .«
»Du würdest als ich antreten. Als ich! Es wäre mein guter Ruf, du arrogantes, selbstgerechtes Aas. Vergiss es, okay, vergiss es einfach! Ist ja nicht so, als hätte ich die letzten beiden Monate dafür geschuftet. Ist ja nicht so, als hätte ich das alles für uns getan oder so. Ich hab es nur getan, damit .« Clara warf die Arme in die Luft. »Ach, keine Ahnung, weil ich ein ruhmsüchtiges, stumpfsinniges was auch immer bin. Du kannst die Lücken bestimmt selber füllen.«
»Beruhig dich mal wieder.« Bonnie war klar, dass Claras Wut nichts mit ihr zu tun hatte oder auch nur mit dieser Unterhaltung, trotzdem spürte sie, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg.
»Du bist immer so egoistisch. Wieso bin ich überhaupt überrascht? Wenn ich dich am meisten brauche, bist du nie, nie da.«
»Warum machst du dir dann überhaupt die Mühe, mich zu fragen?« Bonnie wusste, sie durfte den Köder nicht schlucken, aber es war schon zu spät. Die Wut brannte nun heiß in ihrem Nacken.
»Weil ich verzweifelt bin, okay? Weil sonst niemand so aussieht wie ich und deswegen niemand anderes meinen Platz einnehmen kann, und weil ich die ganze verdammte Sache für uns gemacht habe, für dich!«
»Bring mich nicht zum Lachen. Du wolltest einfach nur im Fernsehen sein.«
»Oh, du bist so eine blöde Schlampe!«
»Ich bin eine blöde Schlampe? Hörst du dir eigentlich selber zu? Und im Übrigen bin ich nicht egoistisch, ich lebe nur in der echten Welt und habe wichtige Dinge zu erledigen.«
»Ach bitte, komm mir doch nicht mit deiner >Meine Doktorarbeit ist so wichtig<-Nummer. Ich habe die Nase voll davon, dass du dich damit vor mir aufspielst. Mum hat sich davon jedenfalls nie beeindrucken lassen.«
Bonnie öffnete den Mund, um zu antworten, doch dann wurde ihr klar, dass sie anfangen würde zu heulen, wenn sie es täte. Also stürmte sie aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu, so fest es ging. Und es ging nicht sehr gut, da sie sich so verzogen hatte, dass sie nicht mehr in den Türrahmen passte. Mum hatte Jahr für Jahr angekündigt, sie reparieren lassen zu wollen, und nun würde sie das nie mehr tun.
Die Streitereien zermürbten Bonnie. Trotz aller Bemühungen ihrer Mutter hatten sie und Clara sich, seit sie klein gewesen waren, ständig in den Haaren gelegen. »Eines Tages werdet ihr die besten Freundinnen sein«, sagte Mum dann, aber Bonnie war sich nie sicher, ob sie das wirklich glaubte oder ob es sich dabei nur um Wunschdenken handelte. In letzter Zeit hatte es den Anschein, als könnten sie nicht einmal mehr miteinander reden, ohne dass es zum Streit kam.
Während Bonnie versuchte, sich zu beruhigen, stand sie am Fenster ihres Zimmers und schaute auf die Straße hinaus. Sie wollte weg von Clara, der Atmosphäre, dem Haus. Es würde Mum das Herz brechen, das alles mitzubekommen, zumal die Ursache all ihrer Sorgen darin bestand, dass sie keine ausreichend hohe Lebensversicherung abgeschlossen hatte und stattdessen all ihre Ersparnisse für die vielen verschiedenen alternativen Krebsbehandlungen ausgegeben hatte, die sie ergattern konnte. Monatelang hatten sie alle ihr eigenes Körpergewicht an Bio-Grünkohl und Roter Bete gegessen und jedes Gericht in Kurkuma ersäuft. Mum aß so viel von dem Zeug, dass ihre Fingerspitzen eine tiefgoldene Farbe annahmen. Jetzt, da sie nicht mehr da war, waren sie beide allein zurückgeblieben und nicht in der Lage, die Raten der Hypothek zu bezahlen. Die Bank hatte ihnen drei Monate Zeit gegeben, um zu zahlen oder zu verkaufen. Anfangs war Bonnie wegen der...
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