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Eine Stunde nach Entdeckung der Taschenuhr Lord Dunnings wurde ein Polizeitransporter langsam die Middle Temple Lane entlanggezogen, jene schmale Straße zwischen Inner Temple und Middle Temple, wo die beiden altehrwürdigen Gruppen von Rechtsgelehrten residierten.
Das Klappern der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster weckte noch die letzten Anwohner, die nicht bereits neugierig aus den Fenstern spähten. Die Pförtner, Hüter des großen Tors zur Fleet Street, öffneten es, um den Wagen hinauszulassen. Und so trat Lord Dunning, Lordoberrichter von England, seine letzte Reise an, die ihn an den Royal Courts of Justice vorbeiführte, in denen er jahrelang Recht gesprochen hatte.
Dort herrschte indessen helle Aufregung. Die Folgen der Nachricht vom Ableben des Lordoberrichters ließen sich kaum überblicken, die Liste seiner geplanten Verhandlungen war endlos. Prozessparteien warteten auf das Urteil in ihren Rechtsstreitigkeiten. Zwei Kronanwälte mit Robe und Perücke standen vor Lord Dunnings Gerichtssaal in Begleitung ihrer Mandanten, die Unsummen berappt hatten, um ihren juristischen Kampf vor dem Lordoberrichter persönlich ausfechten zu lassen. Der nun ranghöchste Richter, hastig zurate gezogen, ließ das Gerichtsgebäude kurzerhand für den Rest des Tages schließen.
Bestürzte Richter, abrupt ihrer Aufgaben enthoben, eilten aus ihren Räumen und trafen sich im Korridor, und so machte die grauenvolle Nachricht weiter die Runde. Dunning, seit vielen Jahren im Amt, war ein angesehener Mann gewesen, hatte aber wie viele Männer in hohen Positionen keine engen Freundschaften gepflegt. Deshalb war weniger Trauer als vielmehr Fassungslosigkeit ob dieses unsäglichen Verbrechens zu bemerken. Nachdem sämtliche Richter im Gang versammelt waren, schritten sie, wie angetrieben von einem gemeinsamen Instinkt, durch die gewaltige Eingangshalle und verließen das Gebäude.
Draußen stellten sie sich so dicht nebeneinander auf die Treppe, wie ihre Würde und ihre ausladenden Roben es zuließen, einer Art Bollwerk gegen Gesetzlosigkeit gleich, und zwar unwillkürlich in der Position ihrer Rangordnung. Ganz vorne postierten sich die fünf Richter des Berufungsgerichts, dahinter die einundzwanzig Richter der King's Bench, des Kanzleigerichts und des Nachlassgerichts. Alle waren für die geplanten Prozesse des Vormittags angetan mit prachtvollen Gewandungen in Schwarz, Gold, Scharlachrot, Violett und jeweils mit dem obligatorischen Hermelinkragen. Als die sterblichen Überreste des Lordoberrichters langsam durch das große Tor des Temple und die Fleet Street entlang befördert wurden, nahmen sämtliche Richter in einer Geste der Achtung ihre Perücken ab und hielten sie in den Händen.
Bei der erhabenen Gruppe der Berufungsrichter standen die Lordrichter Wilson und Brown, Schulter an Schulter, den Kopf zum Gebet gesenkt. In den mit Hermelinpelz und farbigen Bändern verzierten Roben glichen die Männer einander und wirkten auf den ersten Blick beinahe identisch, als seien sie lediglich Verkörperungen richterlicher Autorität. Doch obwohl beide über einen scharfen Verstand und ausgeprägten Ehrgeiz verfügten, konnten sie kaum unterschiedlicher sein. Lordrichter Brown war groß, schmallippig, zurückhaltend und vornehm. Lordrichter Wilson dagegen war ein kleiner, korpulenter Mann mit rotem Gesicht, der zur Großspurigkeit neigte.
Nach außen hin erschienen beide in dieser Situation zutiefst betroffen von dem ungeheuerlichen Ereignis; in ihrem Herzen jedoch herrschte bei beiden Jubel. Denn jeder von ihnen wusste mit berauschender, erhebender Gewissheit, dass er der nächste Lordoberrichter von England sein würde.
Sämtliche Richter Seiner Majestät fanden sich durch dieses erschütternde Drama unversehens freigestellt von den inszenierten Dramen der Prozesse und verspürten außerdem ein ungewohntes Gefühl von Verletzbarkeit. Entsprechend ihrem Charakter nutzten sie die verwirrende, tragisch gewonnene Freizeit auf unterschiedliche Weise. Die Gewissenhaften begaben sich in die Bibliothek, die Geselligen in ihre Clubs und die Treuliebenden nach Hause. An diesen Zufluchtsorten fand ein jeder von ihnen den benötigten Trost.
Lordrichter Brown verspürte sofort das Verlangen, mit seiner Gattin zu sprechen. Doch dann fiel ihm ein, dass sie dienstags immer im Waisenhaus war. Deshalb ging er zunächst in die Bibliothek und brütete dort eine Stunde lang beharrlich über dem neuen Gesetz zur Verhinderung von Unfällen im Eisenbahnverkehr, dessen Einzelheiten ihn voraussichtlich in seinem nächsten Fall beschäftigen würden.
Als er später nach Hause kam, war Lady Brown noch immer nicht von ihrem Morgenbesuch zurückgekehrt. Sie selbst hatte keine Kinder bekommen und widmete sich umso eifriger den Waisen im Heim St Saviour's, wo die kleinen Wesen in ihren steifen Uniformen all die angestaute Liebe ihrer Wohltäterin dankbar in sich aufsogen wie Schwämmchen. Seit Jahren schon stattete Lady Brown der tristen Institution in Shepherd's Bush allwöchentlich einen Besuch ab. Mit ihren schmeichelnden Pelzen und Seidenkleidern, liebevollen Umarmungen und Worten sowie süßen Sahnebonbons, Spielen und Geschichten bereicherte sie das Leben der elternlosen Kinder. Und wenn sie dann nachmittags nach Hause zurückkehrte, gab sie sich stets besonders fröhlich und munter, um sich den Schmerz ihrer unerfüllten Sehnsucht nicht anmerken zu lassen.
Ihr Gatte jedoch wusste ohnehin Bescheid. Während der langen Gerichtsferien hatte er sie einmal begleitet und zugesehen, wie sie in dem einzig anheimelnden Element der Institution saß, dem sogenannten Garten, der aus einer kümmerlichen Rasenfläche mit einem mächtigen Kastanienbaum bestand. Umgeben von verzückt lauschenden Kindern, hatte Lady Brown unter seinen schützenden Ästen eine ihrer selbst ausgedachten Geschichten erzählt, die von einem ganz anderen Garten handelte, in dem es blühende Blumen, Häschen und Elfen gab. Und Lordrichter Brown hatte seine Gemahlin ebenso verwandelt erlebt wie die Waisenkinder.
»Es tut mir leid, meine Liebe«, hatte er auf dem Rückweg zur Kutsche recht steif gesagt und sich danach nie wieder zu dem Thema geäußert.
Jetzt tigerte der Richter unruhig durch den Salon, bis er gleichzeitig mit dem Essensgong hörte, wie seine Gattin heimkehrte. Ihre Reaktion auf die Neuigkeiten war ganz, wie er es erwartet hatte: Sie zeigte sich so erschüttert, als sei er selbst mit dem Tranchiermesser bedroht worden; schauderte bei der Vorstellung, in welcher Gefahr er womöglich am Abend des Diners mit dem Lordoberrichter geschwebt hatte, und äußerte warmherziges Mitgefühl für Lord Dunnings Familie.
»Das ist wahrhaft unfassbar«, sagte Lady Brown schließlich. »Und dabei habe ich Amelia Murray heute Morgen noch im Waisenhaus getroffen. Da kann sie noch nichts von dieser Tragödie gewusst haben.«
»Wer ist Amelia Murray?«
»Ach, ich dachte, du wüsstest das. Sie war vor einigen Jahren selbst noch eine Waise. Ein kluges, energisches und fleißiges Mädchen. Doch inzwischen ist sie die Gouvernante der Dunning-Kinder.«
»Um welche Uhrzeit hast du sie dort getroffen?«, fragte der Lordrichter erstaunt. »Die Familie muss doch vollkommen erschüttert sein. Was um alles in der Welt machte die Gouvernante dann in St Saviour's?«
»Es war noch früh am Morgen. Ich traf bereits um acht dort ein, weil ich die Kleinen immer so gern beim Frühstück sehe. Amelia kann noch nichts von dem schrecklichen Ereignis gewusst haben. Sie hat es gewiss bei ihrer Rückkehr erfahren. Ich darf gar nicht daran denken. Die armen Kinder.«
»Aber wieso hat die junge Frau sich dort aufgehalten?«
Seine Gattin schüttelte den Kopf. »Das weiß ich wirklich nicht, mein Lieber. Sie sagte nur, sie wolle sich nützlich machen bei den Kleinsten. Mir kam der Gedanke . ich habe mich gefragt, ob sie vielleicht unglücklich ist in der Familie. Aber das ist gewiss dumm von mir. Sie hat sich so gut gemacht, und wir sind alle sehr stolz auf sie. Nun, jedenfalls half sie beim Frühstück. Danach lauschte sie im Garten meiner ersten Geschichte und verschwand irgendwann.«
Lady Brown warf ihrem Mann einen wehmütigen Blick zu. »Weißt du, ich denke immer an all die Kinderchen und hoffe, dass sie später ein gutes Leben haben. Es wäre so traurig, wenn unsere Waisen draußen in der Welt nicht zurechtkämen, sie hatten ja schon so einen schlimmen Start. Manchmal wünschte ich, wir könnten einem dieser Kinder ein Zuhause bieten.«
Etwas verwundert betrachtete der Lordrichter seine Frau. »Meine liebe Maria, du weißt doch, dass du die alleinige Entscheidung über unser Personal hast. Wenn eine Stelle frei wird, kannst du sie selbstverständlich einem dieser jungen Menschen anbieten.«
»Ach so«, erwiderte Lady Brown. »So hatte ich das nicht gemeint. Ich dachte eher, hier im Haus . mit uns .«
»Mit uns? Was soll das bedeuten? Du meinst, als Mündel? Das kommt nicht infrage!«
Seine Gattin starrte auf ihren Teller.
Lordrichter Brown war seiner Gemahlin sehr zugetan. Ruhiger sagte er: »Maria, meine Liebe . du weißt doch gar nichts über die Herkunft dieser Kinder. Sie könnten alles Erdenkliche geerbt haben - einen Hang zum Verbrechen, Trunksucht, Wahnsinn . Großer Gott, du müsstest doch am allerbesten wissen, dass dergleichen in keiner Weise mit uns in Verbindung gebracht werden darf.«
Lady Brown war durchaus im Bilde über die nur dezent geäußerten, aber zuversichtlichen Pläne für den beruflichen Aufstieg ihres Gatten. Zunächst war es ihr geschmacklos erschienen, die Folgen von Lord Dunnings Tod anzusprechen, doch jetzt wagte sie es mit...
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