Schweitzer Fachinformationen
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Es war die schlechteste, es war die schlechteste aller Zeiten. Wieder. Das ist das Dumme bei allem. Es zerbricht, das war immer so und wird immer so sein; das liegt in der Natur der Dinge. Ein alter, alter Mann wird also an einem Ufer angespült. Er sieht aus wie ein schlaffer Fußball aus Leder mit geplatzten Nähten, wie sie vor hundert Jahren getreten wurden. Die See war rau. Sie hat ihm das Hemd vom Rücken gehoben; nackt wie am Tage meiner Geburt, geht es ihm durch den Kopf, den er im Nacken bewegt, allerdings unter Schmerzen. Also Kopf ruhig halten. Was hat er da im Mund, Kies? Es ist Sand, er hat ihn unter der Zunge, spürt ihn, hört es knirschen, wenn die Zähne aufeinanderreiben, das Sandlied singen: zermahlen zu Staub so fein, mehr wird am Ende nicht sein, mit mir unter dir fällst du weich, ich glitzer in der Sonne, Wind trägt mich davon, die Post in die Flasche, die Flasche ins Meer, wie Spreu weht's mich umher, mein Korn ist schwer zu ernten
zu ernten
die Worte versickern. Er ist müde. Sand im Mund und in den Augen, die letzten Körnchen im Hals der Sanduhr.
Daniel Gluck, dein Glück ist versiegt.
Er hebt das verklebte Lid. Aber -
auf Sand und Steinen setzt Daniel sich auf
- ist er das? wirklich? das? der Tod?
Er schirmt die Augen ab. Sehr grell.
Von der Sonne beschienen. Trotzdem schrecklich kalt.
Er ist auf einem steinigen Sandstrand, der Wind ausgesprochen scharf, die Sonne scheint, das schon, wärmt aber nicht. Noch dazu ist er nackt. Kein Wunder, dass er friert. Er sieht an sich herunter. Sein Körper ist noch der alte, die kaputten Knie.
Er hatte gedacht, dass der Tod den Menschen herausdestilliert, die faulige Fäule abzieht, bis alles wolkenhell ist.
Das Ich, das dir am Ufer letztlich bleibt, ist anscheinend das, mit dem du auch gingst.
Wenn ich das gewusst hätte, denkt Daniel, hätte ich dafür gesorgt, dass ich mit zwanzig, fünfundzwanzig den Abgang mache.
Nur die Guten.
Oder (denkt er, die Hand vor dem Gesicht, damit niemand, falls ihn wer sieht, Anstoß nimmt, wenn er herausfischt, was er in der Nase hat, oder nachsieht, was es ist - Sand, sehr schön im Einzelnen, im immer wieder anderen Farbverlauf sogar der pulverisierten Welt, dann reibt er ihn sich von den Fingerspitzen) das ist mein herausdestilliertes Ich. Falls ja, ist der Tod eine traurige Enttäuschung.
Danke für die Einladung, Tod. Bitte entschuldige, aber ich muss zurück, ins Leben.
Er steht auf. Das tut nicht weh, nicht sehr.
Wohlan.
Nach Hause. Wo entlang?
Er dreht sich um hundertachtzig Grad. Meer, Uferlinie, Sand, Steine. Hohes Gras, Dünen. Dahinter flaches Land. Danach Bäume, eine Baumreihe, und dann weiter rundherum zurück zum Meer.
Das Meer ist seltsam und ruhig.
Dann fällt ihm plötzlich auf, dass er heute ungewöhnlich gut sieht.
Ich meine, ich sehe nicht nur diese Baumreihe, ich sehe nicht nur den Baum, ich sehe nicht nur das Blatt an dem Baum. Ich sehe den Stiel, der das Blatt mit dem Baum verbindet.
Er erkennt die gefüllte Samenkapsel an der Spitze jedes beliebigen Grashalms drüben auf den Dünen, fast so, als sähe er durch ein Zoomobjektiv. Und hat er gerade auf seine Hand geguckt und nicht bloß die Hand gesehen, ganz genau, und nicht bloß einen Streifen Sand an der Handkante, sondern mehrere einzelne Sandkörner, so deutlich, dass er ihre Ränder erkennt, und das (die Hand geht hinauf zur Stirn) ohne Brille?
Tja.
Er reibt sich den Sand von den Beinen und Armen, von der Brust und von den Händen. Schaut dem Flug der Sandkörner zu, die von ihm weg durch die Luft stäuben. Greift nach unten, füllt die Hand mit Sand. Sieh dir das an. So viele.
Refrain:
Wie viele Welten hält man in der Hand.
In einer Handvoll Sand.
(Wiederholen.)
Er spreizt die Finger. Der Sand rieselt zu Boden.
Jetzt, da er auf den Beinen ist, hat er Hunger. Kann man Hunger haben und tot sein? Aber immer, all die hungrigen Geister, die Menschenherzen und -hirne verspeisen. Er vollendet den Kreis und schaut wieder aufs Meer. Über fünfzig Jahre war er auf keinem Boot, und das war nicht mal ein richtiges Boot, sondern eine Bar, schrecklich, ein neumodischer Partyschuppen auf dem Fluss. Er setzt sich wieder in den Sand und auf die Steine, aber die Knochen in seinem, er will keinen unflätigen Ausdruck verwenden, weiter hinten am Ufer ist ein Mädchen, tun ihm weh, tun ihm weh wie, er will keinen unflätigen Ausdruck verwenden -
Ein Mädchen?
Ja, im Kreise anderer Mädchen, die alle zusammen einen wiegenden Tanz tanzen, der aussieht wie im alten Griechenland. Die Mädchen sind ziemlich nahe. Kommen näher.
Das wird nicht gehen. Die Nacktheit.
Dann sieht er mit seinen neuen Augen noch einmal da hinunter, wo eben noch sein alter Körper war, und weiß, er ist tot, muss tot sein, ist es mit Sicherheit, denn sein Körper sieht anders aus als beim letzten Blick an sich hinab, besser, ganz passabel eigentlich für einen Körper. Er kommt ihm auch bekannt vor, ziemlich genau wie sein Körper früher, als er jung war.
Ein Mädchen ist in der Nähe. Mehrere. Angst und Scham durchströmen ihn süß.
Er sprintet in das lange Dünengras (er kann rennen, richtig rennen!), schiebt den Kopf um ein Grasbüschel und vergewissert sich, dass niemand ihn sehen kann und niemand kommt, springt auf und rennt weiter (wieder! nicht mal außer Atem) über das ebene Stück zu den Bäumen.
Die Bäume bieten ihm Deckung.
Sie bieten ihm vielleicht sogar etwas, womit er sich bedecken kann. Aber pure Freude! Er hatte schon vergessen, wie sich das anfühlt: fühlen. Sogar den Gedanken an das eigene nackte Ich in räumlicher Nähe zur Schönheit eines anderen zu fühlen.
Dort ist ein kleines Wäldchen. Er schlüpft hinein. Perfekt, der Boden im Schatten, ein Laubteppich, die gefallenen Blätter unter seinen (hübschen, jungen) Füßen sind trocken und fest, und an den tiefen Ästen auch noch massenhaft hellgrüne Blätter, und schau, das Haar auf seinem Körper ist überall an den Armen wieder dunkelschwarz, genauso von der Brust bis zur Leiste, wo es dicht ist, ah, nicht bloß das Haar, alles schwillt, schau.
Ist ja himmlisch.
Vor allem möchte er niemanden brüskieren.
Er kann sich hier ein Lager herrichten. Kann hierbleiben, bis er wieder Land sieht. Vielleicht was anzieht. (Wortspiele, die Währung des kleinen Mannes; armer alter John Keats, na ja, arm schon, alt nicht unbedingt. Ein Herbstdichter, Italien im Winter, nur Tage vor seinem Tod spielte er noch mit Wörtern, als gäb's kein Morgen. Armer Kerl. Es gab kein Morgen.) Er kann die Blätter über sich häufen, damit er es nachts warm hat, falls es so etwas wie Nacht gibt, wenn man tot ist, und sollte das Mädchen, sollten die Mädchen noch näher kommen, häuft er die Blätter einen Meter hoch über sich aus Schicklichkeit.
Anstand.
Er hatte vergessen, dass es auch eine körperliche Seite hat, wenn man andere nicht brüskieren will. Süß durchströmt ihn nun das Gefühl der Anständigkeit, überraschenderweise so, wie man sich das Trinken von Nektar vorstellt. Der Schnabel des Kolibris senkt sich in die Korolle. So köstlich! So süß! Was reimt sich auf Nektar? Er wird sich aus Blättern einen grünen Anzug machen, und - kaum gedacht, hat er eine Nadel und goldfarbenes Zeug zum Einfädeln auf einer kleinen Spule in der Hand, schau an. Er ist tot. Muss es sein. Vielleicht ist es gar nicht übel, tot zu sein. Schwer unterschätzt in der modernen westlichen Welt. Jemand müsste es denen mal sagen. Jemand müsste ihnen Bescheid geben. Jemand müsste hingeschickt werden, müsste zurückstrampeln, wo immer das ist. Hektar. Kommissar Lapidar. Sonderbar. Storchenpaar. Sie gebar im Januar. Reservoir.
Er pflückt ein grünes Blatt von dem Ast neben seinem Kopf. Pflückt noch eines. Legt sie Rand an Rand zusammen. Näht sie mit, wie heißt das, Vorstich? Languettenstich? zusammen. Schau an. Er kann nähen. Das konnte er im Leben nicht. Der Tod. Voller Überraschungen. Er hebt eine Schicht Laub an. Setzt sich, legt Blätter mit passenden Rändern zusammen und näht. Erinnerst du dich, die Postkarte, die er in den Achtzigern an einem Stand mitten in Paris gekauft hat, die mit dem kleinen Mädchen in einem Park? Sie sah aus, als wäre sie in totes Laub gehüllt, ein Schwarzweißfoto, kurz nach Kriegsende entstanden: das Kind von hinten, in das Laub gehüllt, stand in dem Park und schaute sich verwehte Blätter und die Bäume an. Es war ein trauriges und zugleich faszinierendes Foto. Irgendetwas an dem Kind plus totes Laub, entsetzlich verkehrt, ein bisschen so, als trüge die Kleine Lumpen am Leib. Andererseits waren die Lumpen keine Lumpen. Es war Laub, deshalb war es auch ein Bild über Magie und Verwandlung. Und wieder andererseits, ein Bild, kurz nach Kriegsende, zu einer Zeit, in der ein Kind, das bloß im Laub spielte, auf den ersten Blick aussehen konnte wie ein Kind, das abgeholt und ausgelöscht worden war (ein schmerzlicher Gedanke)
oder auch ein nachatomares Kind, das Laub, das an ihm hängt, sähe aus wie abgefetzte Haut, wie seitlich baumelnde Lumpen, als wäre Haut nichts als Laub.
Es war also fesselnd auch im Sinn von ergreifend, das Foto, wie ein Foto von dem, der dich ergreifen wird, der dich abholt und in die andere Welt bringt. Ein Blinzeln des Kameraauges (der Name des Fotografen will ihm partout nicht einfallen), und dieses Kind...
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