Schweitzer Fachinformationen
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Hundertfünfzig, vielleicht auch zweihundert Männer drängelten sich in der Vorhalle der Station 95. Sie waren noch schmutzig von der Arbeit in den Stollen. Ihre Kleidung war verschwitzt. Aber sie lachten und schwatzten mit der Erleichterung von Leuten, die soeben einer fürchterlichen Gefahr entronnen waren.
Mitten in der Halle waren fünf Bahren abgestellt. Auf zweien hatte man hellrote Decken über die Gesichter der darauf liegenden Männer gezogen. Die Gesichter der drei andern sahen aus, als seien sie mit Mehl bestäubt.
»Zwei«, knurrte Rodney. »Bis jetzt.«
In der Station herrschte ein wüstes Durcheinander. Männer irrten ziellos umher. Mit jeder Minute kamen weitere aus unbeschädigten Stollen, die jetzt aber doch als gefährdet galten.
Rod blickte sich um und erkannte einen seiner Obersteiger. »McGee«, schrie er. »Schaffen Sie hier Ordnung. Die Leute sollen sich in Reihen niedersetzen, bis sie verladen werden. Wir wollen die Schicht sofort hinaufschaffen. Gehen Sie in den Förderraum. Sagen Sie ihnen dort, ich möchte zuerst die Männer auf den Bahren hochgebracht haben.«
Er wartete, bis McGee seine Anweisungen befolgt hatte. Dann sah er auf die Uhr. Es war vierzehn Uhr sechsundfünfzig. Mit Erstaunen begriff er, daß erst sechsundzwanzig Minuten vergangen waren, seit er die Explosion in seinem Büro gespürt hatte.
»In Ordnung«, meinte Rod. »Kommt.« Und er führte seine Hilfsmannschaft in die Förderstrecke.
Der Staub war dick. Er mußte husten. Die Hängende Wand war hier niedriger. Während er mühsam weiterstapfte, sann er über die verhängnisvolle Wortwahl der Grubenarbeiter nach, die das Dach einer Ausschachtung »Hängende Wand« nannten. Das ließ an einen Galgen denken. Jedenfalls erinnerte es an die Tatsache, daß einem Millionen Tonnen Gestein über dem Kopf hingen.
Die Strecke verzweigte sich, und Rod schlug untrüglich den richtigen Weg ein, denn sein Gedächtnis enthielt eine exakte dreidimensionale Karte des fast dreihundert Kilometer langen Tunnelsystems der Sonder-Ditch-Gruben. Plötzlich kamen sie zu einer Tförmigen Gabelung. Diese beiden Gänge waren noch niedriger und enger. Zur Rechten lag Sektion 42, zur Linken 43. Die Staubwolken waren nun so dicht, daß sie nur noch drei Meter weit sehen konnten. Der Staub hing in der Luft und sank kaum wahrnehmbar herab.
»Die Bewetterung ist kaputt«, rief Rod über die Schultern. »Van den Bergh!«
»Ja, Sir.« Der Leiter des Notdienstes trat näher.
»Ich brauche frische Luft in diesem Gang. Machen Sie sich an die Arbeit. Nehmen Sie die Segeltuchleitung, wenn es sein muß.«
»Gut.«
»Dann will ich Wasserschläuche haben, die diesen Dreck hier auf die Erde kleben.«
Rod wandte sich wieder um. Der Boden war rauh, und das Gehen fiel schwer. Dann stießen sie auf mehrere Förderwagen, die mit goldhaltigem Quarz gefüllt waren und verlassen im Gang standen. »Zum Teufel, schafft das Zeug aus dem Weg!«
Nach fünfzig Schritten hielt er inne. Die Haare auf seinen Unterarmen richteten sich in die Höhe. Nie konnte er sich an diese Laute gewöhnen, so oft er sie auch schon gehört hatte.
In dem bewußt abgebrühten Jargon der Grubenarbeiter hießen sie die »Winsler«. So winselte ein Mann, wenn auf seinen Beinen die Last von hundert Tonnen schwerem Fels lag und dessen Rückgrat vielleicht gebrochen war. Ein Mann, den der Staub zu ersticken drohte und dessen Geist von der Todesangst zerrüttet wurde. In seiner Falle rief er um Hilfe. Er flehte Gott an. Er schrie nach seiner Frau, nach seinen Kindern oder nach seiner Mutter.
Rod ging weiter. Das Schreien wurde lauter. Es war ein schreckenerregendes Schreien, kaum noch menschlich, ein Seufzen und Stammeln, das jäh verstummte, bis der Mann von neuem aufheulte, so daß einem das Blut in den Adern gerann.
Plötzlich erblickte Rod vor sich im Staubnebel die Schatten von Männern. Ihre Grubenlampen warfen grotesk verzerrte Lichtstreifen ins Halbdunkel.
»Wer ist da?« rief Rod.
»Gott sei Dank, daß Sie gekommen sind, Mr. Ironsides.«
»Wer ist da?«
»Barnard.« Der Schichtführer von Sektion 43.
»Was ist passiert?«
»Die ganze Hängende Wand des Stollens ist zusammengekracht.«
»Wie viele Leute waren im Stollen?«
»Zweiundvierzig.«
»Wie viele sind noch drin?«
»Bis jetzt haben wir sechzehn heil herausgeholt, zwölf leicht Verletzte, drei, die auf Bahren gelegt werden mußten, und zwei Tote.«
Wieder fing der Winsler an, aber jetzt klang seine Stimme schon viel schwächer.
»Und wer ist das?« fragte Rod.
»Ihm sind zwanzig Tonnen Fels auf das Becken gestürzt. Ich habe ihm zwei Morphiumspritzen verpaßt, aber sie helfen ihm nicht.«
»Können Sie in den Stollen hinein?«
»Ja. Es ist ein Loch zum Durchkriechen da.« Barnard beleuchtete den Haufen blauen Quarzes, der den Gang wie eine zusammengebrochene Gartenmauer schloß.
Licht schimmerte durch das Loch. Sie vernahmen knirschende Geräusche und gedämpfte Stimmen.
»Wie viele Leute arbeiten da drin, Barnard?«
»Ich ...« Barnard zögerte. »Ich glaube, es sind zehn oder zwölf.«
Rod packte ihn am Overall und riß ihn fast von den Füßen. »Das glauben Sie?« Im Strahl der Lampe war Rods Gesicht weiß vor Wut. »Sie haben zwölf meiner Jungs hineingejagt, um neun zu retten!« Mit einem Ruck preßte er den Schichtführer gegen die Wand. »Sie Scheißkerl! Sie wissen, daß die meisten dieser neun schon erledigt sind. Sie wissen, daß dieser Stollen eine Todesfalle ist, und dennoch hetzen Sie noch einmal zwölf Männer hinein, damit sie vor die Hunde gehen, und Sie kennen ihre Namen nicht! Nach wem, zum Teufel, sollen wir dann suchen, wenn die Hängende Wand wieder bricht?« Er ließ den Schichtführer frei und trat zurück. »Holen Sie die Leute 'raus. Machen Sie den Stollen frei.«
»Aber Mr. Lemmer, der Generaldirektor, ist doch drin. Er hat den Stollen inspiziert.«
Einen Augenblick war Rod verblüfft, dann knurrte er: »Und wenn der Staatspräsident drin ist - machen Sie den Stollen frei. Wir fangen von vorn an, aber diesmal richtig.«
Binnen weniger Minuten kamen die Leute wieder aus dem Loch gekrochen. Sie waren weiß wie Maden, die über einen verfaulten Käse wimmeln.
»Gut«, meinte Rod. »Ich setze jedesmal nur vier Mann ein.« Rasch wählte er unter den mehligen Gestalten vier aus, darunter einen riesigen Mann, auf dessen rechter Schulter die Messingplakette eines Boss Boy befestigt war.
»Big King, bist du denn auch da?« Rod stellte die Frage in Fanikalo, der Universalsprache in den Minen, die es ermöglichte, daß eine Belegschaft aus etwa zwölf verschiedenen Volksgruppen sich untereinander verständigen konnte.
»Jawohl«, antwortete Big King.
»Du willst also noch mehr Auszeichnungen kriegen?« Vor einem Monat war Big King an einem Seil sechzig Meter tief in einen Erzgang hinabgelassen worden, um einen weißen Bergmann zu retten. Die Gesellschaft hatte ihm für seine mutige Tat eine Belohnung von hundert Rand gezahlt.
»Wer spricht von Auszeichnungen, wenn die Erde das Fleisch von Männern frißt?« rügte Big King sanft. »Das da heute ist ja ein Kinderspiel. Kommt der Nkosi mit in den Stollen?« Das war eine Herausforderung.
Rod hatte im Stollen eigentlich nichts zu suchen. Er war der Mann, der zu organisieren und zu koordinieren hatte. Dieser Herausforderung durfte er jedoch nicht ausweichen. Jeder Bantu würde sonst glauben, er sei aus Angst zurückgewichen und habe andere Menschen in den Tod geschickt.
»Ja«, entgegnete Rod, »ich komme mit in den Stollen.«
Das Loch war gerade so groß, daß er hindurchschlüpfen konnte. Das Streckenstück hatte die Größe eines durchschnittlichen Zimmers, aber die Hängende Wand war bis auf einen Meter heruntergebrochen. Rod ließ den Strahl seiner Lampe darüber wandern. Das Gestein war aufgerissen und gefährlich. »Ein Bündel Weintrauben« nannten die Bergleute so etwas. »Eine schöne Bescherung«, sagte er und leuchtete den Boden ab.
Der Winsler lag in Rods Reichweite. Sein Oberkörper ragte von der Hüfte an unter einem Felsbrocken in der Größe eines Autos hervor. Jemand hatte eine Decke um ihn geschlungen. Er lag nun ganz still da. Als jedoch das Licht auf ihn fiel, hob er den Kopf. Seine Augen starrten wie irr. Er nahm nichts mehr wahr. Über sein von Grauen verzerrtes Gesicht strömte der Schweiß. Sein Mund stand offen - groß und rosa leuchtete er in der glänzenden Schwärze seines Gesichts. Und wieder begann er zu schreien, doch mit einemmal wurde sein Geheul durch einen rotschwarzen Blutstrahl erstickt, der ihm aus der Kehle schoß.
Während Rod entsetzt zusah, fiel der Kopf des Bantus zurück. Sein Mund glich jetzt einem Wasserspeier - nur spritzte kein Wasser aus ihm, sondern der Lebenssaft. Dann sank er langsam nach vorn, und sein Gesicht schlug auf das Gestein.
Rod kroch zu ihm, hob den Kopf hoch und bettete ihn auf die Decke. Blut tropfte auf seine Hände. Er wischte es an seinem Overall ab. »Also drei bis jetzt«, sagte er. Und er ließ den Sterbenden zurück und kroch tiefer...
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