Schweitzer Fachinformationen
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2.
Ist es tatsächlich schon halb sieben Uhr früh? Der Lemming blinzelt in das trübe Morgengrauen, stützt sich an der Schreibtischkante ab und streckt den Rücken durch. Der Schmerz fährt ihm durch alle Glieder: Eine neunundfünfzig Jahre alte Wirbelsäule sollte man nun einmal nicht auf einem Neunundfünfzig-Euro-Stuhl zur Ruhe betten.
Halb sieben Uhr früh. Um diese Uhrzeit ist nur ein Gedanke möglich, nämlich der an einen heißen, kräftigen Kaffee. Glücklicherweise gibt es in der kleinen Küche hinter dem Büroraum einen altertümlichen Espressoautomaten, und so macht der Lemming sich mit steifen Beinen und gebeugtem Rücken auf den Weg. Der Automat heizt röchelnd seinen Boiler auf, der Lemming fährt behäbig seine grauen Zellen hoch. Nur langsam dringt ihm die Erinnerung ins Bewusstsein: die Erinnerung an den absurden Traum der letzten Nacht. An die Madonna mit den großen blauen Augen, an die unsichtbaren Harfenisten und an Kuli, den kleinwüchsigen Gedankenleser mit dem mürrischen Gesicht. Nur seltsam, dass der Traum sich immer noch wie die Realität anfühlt, wie ein authentisches Erlebnis. Und dass es dem Lemming nicht gelingt, sich daran zu erinnern, wie er den gestrigen Nachmittag und Abend wirklich zugebracht hat. Hinter seinem Schreibtisch, in Erwartung eines Kunden? Und wieso ist er am Abend nicht mehr heimgefahren? Warum hat er hier im Büro geschlafen?
Nachdenklich trägt er die dampfende Kaffeetasse zu seinem Tisch und lässt sich wieder in den Sessel sinken. Diese Träume, überlegt er, und diese Erinnerungslücken deuten auf nichts Gutes hin. Wahrscheinlich wäre es doch wieder einmal Zeit für einen Arztbesuch. Oder für mehrere. Den letzten Anlauf zu einer umfassenden Vorsorgeuntersuchung hat er ja schon vor fünf Jahren unternommen, mit Betonung auf dem Wörtchen Anlauf: Gerade einmal drei Etappen hat er damals hinter sich gebracht, bevor er demoralisiert das Handtuch warf. Die Herren Doktoren kamen ihm vor wie übermotivierte Schuhverkäufer, die versuchen, jedem Kunden, dem kein Schuh gefällt, doch wenigstens eine Krawatte anzudrehen. Der Pulmologe fand zwar keinen Lungenkrebs, aber verengte Atemwege, der Kardiologe fand keine Arteriosklerose, aber eine Fehlfunktion der Herzklappen. Der Gastroenterologe schließlich fand zwar keinen Darmkrebs, aber eine lecke Magenklappe und eine verätzte Speiseröhre.
Für den Lemming war der Ärztemarathon damit schon vor dem Zieleinlauf beendet. Weitere Sollbruchstellen wollte er sich nicht mehr aufzählen lassen. Auch als Laie wusste er, dass Körper sich in Relation zu ihrem Alter abnutzen, dass sie gebrechlich werden und irgendwann den Geist aufgeben.
Aber jetzt scheint wirklich etwas nicht zu stimmen. Etwas im Gehirn. Und wenn der Neurologe keinen Tumor findet? Nun, dann wird er wohl statt Schuhen eine Krawatte für mich haben, denkt der Lemming und nimmt einen Schluck Kaffee.
Er hätte mit geschlossenen Augen trinken sollen, versunken und genießerisch wie die professionellen Leckermäuler in der Fernsehwerbung. Das, was er jetzt nämlich sieht, versetzt ihm einen solchen Schock, dass ihm die Tasse aus der Hand fällt und sich der noch dampfende Kaffee auf seinem Schoß verteilt.
Über dem Rand des Schreibtischs taucht ein kleines, faltiges Gesicht mit großen Augen auf - ein Mopsgesicht.
Und dieser Mops ist Kuli.
Manche Dinge brauchen ihre Zeit. Das Abklingen von Schmerzen beispielsweise, oder das Verebben eines veritablen Schocks. Auch jetzt dauert es eine Weile, bis der Lemming seinen ersten Schmerz und seinen ersten Schrecken überwunden hat. "Das ist nicht wahr", flüstert er kopfschüttelnd. "Das kann nicht wahr sein."
Kuli sitzt auf Polivkas Sessel und glotzt ihn mit großen Augen an. Er sagt kein Wort. Er schweigt, als ob er nie gesprochen hätte.
"Könntest du . so freundlich sein, mit mir zu reden?", fragt der Lemming leise. "Sprich mit mir!", setzt er, schon etwas lauter, nach. "Du hast doch gestern ."
Endlich öffnet Kuli seine Schnauze. Mit einem leisen Jaulen streckt er eine lange rosa Zunge aus dem Mopsmaul. Kuli gähnt. Hebt dann den Hintern, springt mit einem Satz vom Sessel und tänzelt zur Tür. Dort bleibt er stehen und sieht den Lemming an.
"Ja, wie jetzt? Ohne Leine?"
Keine Antwort.
"Wenigstens ein Halsband hast du."
Seufzend zieht der Lemming seinen Gürtel aus der Hose und befestigt ihn an Kulis Stoffhalsband. Das Café Cuba vorne an der Ecke sperrt um sieben auf: der beste Grund, um sich zu dieser nachtschlafenden Zeit mit einer nassen Hose, einem verbrühten Gemächt und einem fremden Köter auf die Straße zu begeben. Alles andere muss warten, bis der erste doppelte Espresso seine Wirkung tut: die Frage nach der heiligen Maria, nach den kleinen Harfenisten und nach den Exkursen eines sprachbegabten Mopses. Der Versuch, den Wahnsinn von der Wirklichkeit, die Wirklichkeit vom Traum zu unterscheiden. Kurz, die essenzielle Frage, die er wohl auch bald dem Neurologen stellen wird: Schuh oder Krawatte?
Scheiß drauf.
Erst ein kräftiger Kaffee.
"Um zehn vor sieben? Echt jetzt?" Das ist die Begrüßung von Frau Yasemin, der Kellnerin des Café Cuba, als das Glöckchen an der Eingangstür erklingt. Gerade im Begriff, die letzten Biergläser von gestern Abend in die Spülmaschine einzuräumen, wendet sie sich um, und ihre düstere Miene hellt sich auf. "Da schau ich aber!", ruft sie. "Der Herr Leopold ist heut schon auf den Beinen! Oder noch? Und einen neuen Partner hat er auch! Oder ermittelt der Herr Polivka heut undercover und hat sich als Mops verkleidet?" Ohne eine Antwort abzuwarten, lässt Frau Yasemin ihrem banalen Witz ein heiseres Lachen folgen und fügt gleich noch einen weiteren hinzu: "Zwei Mokka für die Herren?"
"Ja, bitte", sagt der Lemming irritiert. "Beziehungsweise nein. Nur einen doppelten für mich."
"Und was darf's für den Herrn Kollegen sein?"
Der Lemming lässt den Blick zu Kuli wandern, der ihn teilnahmslos erwidert.
"Eine Schüssel Wasser bitte."
"Wasser? Na, das muss ja eine mopsfidele Nacht gewesen sein."
Der Lemming zuckt die Schultern. "Keine Ahnung, wenn ich ehrlich bin", gibt er zurück. Dann schnappt er sich die Morgenausgabe der Reinen Wahrheit von der Budel und zieht Kuli zu einem der Tische bei den Fenstern.
Dass er nicht noch mehr Kaffee auf seine Hose schüttet, ist Frau Yasemin zu danken, die sich mit der Zubereitung des Espressos Zeit lässt. Kaum hat er die Reine aufgeschlagen, fährt ihm nämlich schon der nächste Schrecken in die Glieder.
Die REINE WAHRHEIT vom 4. Juni 2022
Wer kennt diese Frau?
Am frühen Freitagabend machten Mitarbeiter des Stadtgartenamts im Arne-Karlsson-Park am Wiener Alsergrund einen makabren Fund. Unmittelbar neben dem Kinderspielplatz (!) stießen sie im Dickicht auf die Leiche einer etwa vierzig Jahre alten Frau. Von den herbeigerufenen Polizeibeamten wurden tiefe Würge- oder Strangmale am Hals der Toten festgestellt. Das Landeskriminalamt Wien hat bereits Mordermittlungen eingeleitet und ersucht die treue Leserschaft der REINEN um ihre Mithilfe bei der Identifizierung des Opfers:
Die Frau war 1,68 Meter groß und hellhäutig, sie hatte rötlich-blondes, langes Haar. Bekleidet war sie mit einem hellblauen Leinenmantel und Sandalen. In einer ihrer Manteltaschen steckte eine Hundeleine. Am Tatort wurde außerdem ein ungewöhnliches Objekt gefunden: eine mit blauem Glas versehene Schweißerbrille, die der Toten gehört haben könnte.
Hinweise bitte an das Landeskriminalamt, an die nächste Polizeidienststelle oder direkt an die Redaktion der REINEN.
"Sodala, ein Mokka und zwei Wasser für die Herrschaften!" Frau Yasemin stellt ein Tablett mit einer randvollen Espressotasse, einem Zuckerstreuer, einer Plastikschüssel und einem Glas Wasser auf den Tisch. Sie nimmt die Schüssel und beugt sich hinunter, um sie auf dem Boden zu platzieren.
"Wo ist denn jetzt das Hunderl? Wo ist der kleine Detektiv?"
Der kleine Detektiv ist nicht unter dem Tisch. Er ist auf die Kaffeehausbank gesprungen, schmiegt sich an den Lemming und betrachtet durch das Fenster das Geschehen auf der Straße - ein Geschehen, das sich auf zwei nach Brotkrumen pickende Tauben beschränkt.
"Da ist er ja!" Frau Yasemin hält inne. "Meiner Seel', Herr Leopold", sagt sie zum Lemming. "Sie sind ja ganz weiß, fast wie Ihr Mopserl!"
Der Lemming starrt noch immer auf die Reine Wahrheit. Dann legt er die Zeitung langsam auf den Tisch und hebt die Hände, um sich Mund und Nase zuzuhalten.
"Nein, es waren keine Harfenisten in den Ritzen", sagt der Lemming.
"Das ist gut, wenn auch ein bisserl schade", nickt der alte Mann im Rollstuhl. "Sonst hättest du mir ein paar zusammenfangen können. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie ich mich in dieser Anstalt fadisier, besonders nach dem Abendessen, also ab halb sechs am Nachmittag. Da wär so eine Schuhschachtel mit kleinen Musikanten eine hübsche Abwechslung." Er schmunzelt, hebt die Hand zum Mund und richtet sich die falschen Zähne. Seine echten mag er längst verloren haben, aber was seinen Humor betrifft, ist er noch ganz der Alte.
Nach dem Café Cuba ist der Lemming ins Büro zurückgekehrt und hat dort tatsächlich mit einer Lupe, die ja, wie man weiß, zur Grundausstattung jedes Detektivs gehört, den Boden abgesucht, während ihm Kuli mit gespitzten Ohren und großen Augen dabei zusah. Doch gefunden hat er nichts.
Ein weiteres Mal hat er versucht, der Unschärfe zwischen Vision und Wirklichkeit mit Logik beizukommen. "Wenn ich davon...
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