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Freiheit und Demokratie, so der Investor Peter Thiel 2009, seien nicht länger kompatibel. Wer die Freiheit liebe, müsse daher versuchen, der Politik in all ihren Formen zu entkommen. Zuflucht suchen könnten Libertäre im Cyberspace, im Weltraum und auf dem offenen Meer. Das mag verblasen klingen, steht aber in einer jahrzehntealten Tradition marktradikaler Ideen: Denker wie Milton Friedman begeisterten sich für das noch unter britischer Oberhoheit stehende Hongkong; Margaret Thatcher träumte von einem Singapur an der Themse.
In seinem Buch Globalisten hatte sich Quinn Slobodian mit Versuchen befasst, ökonomische Fragen der demokratischen Willensbildung zu entziehen, etwa durch ihre Übertragung an internationale Organisationen. In Kapitalismus ohne Demokratie geht es nun um eine andere Lösung für das von Thiel beklagte Problem: die Zerschlagung der Welt in Steueroasen, Privatstädte oder Mikronationen.
Quinn Slobodian nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise durch die Welt der neoliberalen Utopien. Sie führt nach Dubai und Liechtenstein, ins vom Bürgerkrieg zerrüttete Somalia und zu Elon Musks texanischem Weltraumbahnhof. Und sie weitet den Blick auf eine mögliche Zukunft, die uns Sorgen machen sollte.
Versuchen Sie, die folgende Frage zu beantworten, ohne Ihr Smartphone zur Hand zu nehmen: Wie viele Länder gibt es auf der Erde? Sie sind nicht sicher? Es sind etwa 200. Versuchen Sie sich jetzt vorzustellen, wie viele Länder es im Jahr 2150 geben wird. Mehr als 200? Weniger? Was, wenn es dann 1000 Länder gibt? Oder nur noch 20? Oder zwei? Oder nur noch ein einziges? Wie sähe die Zukunft mit einer solchen Landkarte aus? Was, wenn das Schicksal der Menschheit von der Antwort abhinge?
Dieses Gedankenexperiment schlug 2009 der damals 41-jährige Wagniskapitalgeber Peter Thiel vor.1 Nachdem er mit der Gründung von Paypal und einer frühen Investition in Facebook ein kleines Vermögen verdient hatte, hatte Thiel im Jahr 2008 in der Finanzkrise viel Geld verloren. Jetzt verfolgte er ein klares Ziel: Er wollte dem demokratischen Staat entkommen, der ihn zwang, Steuern zu zahlen. »Ich glaube nicht mehr, dass Freiheit und Demokratie vereinbar sind«, schrieb er in einem selbsterklärten Forum für kontroverse Ideen. »Die große Aufgabe der Libertären besteht darin, einen Weg zu finden, um der Politik in all ihren Formen zu entkommen.«2 Und Thiel war überzeugt, je mehr Länder es gebe, desto mehr Orte könnten als Zufluchtsort für das Geld dienen, womit die Wahrscheinlichkeit geringer werde, dass ein Land die Steuern anhebe, da es sonst befürchten müsse, die Gans zu verscheuchen, die goldene Eier lege. »Wenn wir mehr Freiheit wollen«, erklärte er, »sollten wir die Zahl der Länder erhöhen.«3
Thiel entwarf diese Welt mit Tausenden Gemeinwesen als 12utopischen Traum einer zukünftigen Realität. Unerwähnt ließ er, dass die von ihm beschriebene Zukunft in mancher Hinsicht bereits existierte.
Auf einem Standardglobus sehen wir ein ungleichmäßiges Mosaik von Farbflecken, das in Europa und Afrika kleinteiliger und dichter ist, während in Asien und Nordamerika große einfarbige Flächen dominieren. Dies ist das vertraute Bild der Welt, das wir in der Schule kennengelernt haben und auf das sich Thiel bezog: Jedes Territorium hat seine eigene Flagge, seine Hymne, seine nationale Tracht und seine Küche. Während der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele wird alle zwei Jahre diese Version des Erdballs dargestellt, die uns die Gewissheit vermittelt, dass die Welt klein ist.
Aber es ist ein Irrtum, die Welt nur als Puzzle von Nationalstaaten zu betrachten. Historikerinnen und Sozialwissenschaftler rufen uns in Erinnerung, dass die moderne Welt pockennarbig, durchlöchert, verbeult und ausgefranst, zerrissen und mit Stecknadeln gespickt ist. Innerhalb der nationalen Container findet man ungewöhnliche Rechtsräume, anormale Territorien und eigentümliche Zuständigkeitsbereiche. Da sind Stadtstaaten, Steueroasen, Enklaven, Freihäfen, Technologieparks, Zollfreibezirke und Innovationszentren. Die Welt der Nationalstaaten ist übersät mit Zonen - und deren Einfluss auf die Politik der Gegenwart beginnen wir gerade erst zu verstehen.4
Was ist eine Zone? Auf einer grundlegenden Ebene ist sie eine Enklave, die aus dem Territorium eines Nationalstaats herausgelöst und von den üblichen Formen der Regulierung ausgenommen wird. Innerhalb einer Zone werden oft die Besteuerungsbefugnisse aufgehoben, so dass Investoren, die dort tätig werden, de facto selbst festlegen können, an welche Regeln sie sich halten wollen. Zonen sind beinahe extraterritoriale Gebiete: Sie gehören zum Gastland und sind zugleich von ihm getrennt. Die 13Zonen nehmen eine verwirrende Vielfalt von Formen an - einer offiziellen Einstufung zufolge gibt es mindestens 82 Varianten.5 Zu den bekanntesten zählen die Sonderwirtschaftszone, die Exportproduktionszone und die Außenhandelszone. An einem Ende des sozioökonomischen Spektrums können Zonen Knotenpunkte in grenzüberschreitenden Produktionsnetzwerken sein.6 Diese teilweise von Stacheldrahtzäunen umgebenen Orte sind oft dem Niedriglohnsektor vorbehalten. Am anderen Ende des Spektrums finden wir eine Version der Zone in den Steueroasen, wo transnationale Konzerne ihre Einnahmen verschwinden lassen - der Ökonom Gabriel Zucman spricht vom »versteckten Wohlstand der Nationen«.7 Die Flucht der Unternehmensgewinne in diese Niedrig- oder Nullsteuerjurisdiktionen kostet die Vereinigten Staaten jedes Jahr 70 Milliarden Dollar an Staatseinnahmen, und Schätzungen zufolge werden in Offshore-Steueroasen 8,7 Billionen Dollar aufbewahrt.8 Auf einigen Karibikinseln sind mehr Unternehmen als Einwohner registriert.9 In seinem ersten Wahlkampf für das Präsidentenamt lenkte Barack Obama die Aufmerksamkeit auf das Bürogebäude Ugland House in George Town auf den Cayman Islands, das 12000 Unternehmen beherbergte. »Das ist entweder das größte jemals errichtete Gebäude oder der größte Steuerbetrug aller Zeiten«, erklärte er.10 Tatsächlich waren all diese Briefkastenfirmen vollkommen legal, ein alltäglicher Bestandteil des globalen Finanzsystems.11
Weltweit gibt es mehr als 5400 Zonen, sehr viel mehr als in Thiels Traum von einer Welt der tausend Länder. Allein im letzten Jahrzehnt sind tausend neue Zonen entstanden.12 Einige sind nicht größer als eine Fabrik oder ein Lagerhaus, ein Schalter auf der Logistikschalttafel des Weltmarkts oder ein Standort für Lagerung, Montage oder Veredelung eines Produkts zwecks Vermeidung von Zöllen.13 Andere sind urbane Megaprojekte - 14darunter New Songdo City (Songdo International Business District) in Südkorea, Neom in Saudi-Arabien oder Fujisawa in Japan -, die wie private Stadtstaaten eigenen Regeln unterworfen sind.14 Im Jahr 2021 brachten Politiker in Nevada eine ähnliche Idee ins Spiel und schlugen vor, Unternehmen, die sich in ihrem Staat ansiedelten, sollten die Möglichkeit erhalten, ihre eigenen Gesetze zu schreiben - nach einem Jahrhundert sollte also die Fabrikkolonie zurückkehren, nur dass sie jetzt als »Innovationszone« bezeichnet wurde.15 In Großbritannien machte die konservative Regierung die Errichtung einer Kette von Zollfreigebieten oder Freihäfen zum Kernstück eines Vorschlags, um den deindustrialisierten Norden Englands nach dem Brexit »auf ein höheres Niveau zu heben«. Das unrealistische Ziel? Man will mit der 1985 gegründeten Freizone Jebel Ali in Dubai konkurrieren, wo Unternehmen ein halbes Jahrhundert lang keine Steuern zahlen müssen und ausländische Arbeiter einsetzen können, die in abgeriegelten Schlafstädten untergebracht sind und einen Bruchteil des britischen Existenzminimums verdienen.16
Ich verwende die Metapher der Perforation, um zu beschreiben, wie der Kapitalismus funktioniert, indem er Löcher in das Territorium des Nationalstaates stanzt und Ausnahmezonen mit eigenen Gesetzen errichtet, die oft keiner demokratischen Aufsicht unterliegen. Der Philosoph Grégoire Chamayou fügt eine weitere Metapher hinzu und vergleicht die Privatisierungsprojekte mit der Technik des Bockkäfers, der die Struktur von Bäumen von innen heraus zerfrisst.17 Wir können uns zur Veranschaulichung auch ansehen, wie ein Stück Spitze hergestellt wird, indem Garnfäden miteinander verknüpft werden, wobei Lücken zwischen ihnen gelassen werden. Das Produkt erzeugt durch die Auslassung den Eindruck eines Musters. Der Fachbegriff dafür ist »Lückenmuster«. Um die heutige Weltwirtschaft zu verstehen, müssen wir lernen, die Lücken zu sehen.
15Die meisten Zonen befinden sich in Asien, Lateinamerika und Afrika. China allein beherbergt die Hälfte von ihnen, während in Europa und Nordamerika weniger als zehn Prozent dieser Gebilde beheimatet sind.18 Doch wie wir sehen werden, haben die Zonen im Westen einige ihrer leidenschaftlichsten Anhänger, die dort mit dem experimentieren möchten, was ich als Mikroordnung bezeichne, als Errichtung alternativer, kleinmaßstäblicher politischer Arrangements. Die Befürworter der Zone erklären, die Utopie des freien Marktes könne durch Sezession und Fragmentierung der Nationalstaaten verwirklicht werden. So sollen befreite Territorien innerhalb und jenseits der nationalen Container...
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