Schweitzer Fachinformationen
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Was ist bloß mit dir passiert, Wren?
Meine Turnschuhe pochen rhythmisch über das Kopfsteinpflaster, während ich an malerischen Cafés und Buchläden vorbei durch die Stadt jogge, die gerade erst erwacht. Es ist noch nicht mal sechs Uhr morgens, und der Himmel ist noch dämmrig, aber ich konnte nicht mehr schlafen. Ich schlafe wenig in letzter Zeit, in meinem Kopf kreist die immer gleiche Frage, die mich nun schon das ganze Jahr quält.
Ich bin um die halbe Welt gereist, um diese Frage zu beantworten, um jeden Preis.
Ich renne weiter und versuche, die pulsierende Sorge aus meinen Adern zu vertreiben. Ich biege in die High Street ein, laufe vorbei an den alten Colleges mit ihren hohen Mauern und uralten Erkern. Oxford ist wie ein föderales System, das aus fast drei Dutzend einzelnen Colleges besteht, jedes mit eigenem Personal, Regeln und Studenten. Wie kleine ummauerte Königreiche liegen sie in der Stadt verstreut.
Und das Ashford College ist das reichste und exklusivste von allen.
Ich weiß noch, wie Wren triumphierend den Brief hochhielt, als sie das Angebot bekam, dort ihre Forschung fortzusetzen. Ein hypermodernes biomedizinisches Programm, irgendein neurowissenschaftliches Zentrum, das das Forschungsfeld revolutionieren würde. Ich hatte nie ganz verstanden, was sie eigentlich genau erforschte. Meine große Schwester war immer das Genie der Familie gewesen, nicht ich.
Sie schrieb immer glatte Einsen, während ich eine durchschnittliche Zweier-Schülerin war. Sie bekam ein Vollstipendium fürs College und dann für ihr Medizinstudium, während ich verschiedene Geisteswissenschaften ausprobierte, ständig das Hauptfach wechselte und mich mehr auf Partys als an der Uni rumtrieb. Nach dem Abschluss wurde sie von einem bedeutenden Pharmakonzern angeworben, während ich von einem Job zum nächsten tingelte. Ich arbeitete als Kellnerin in einem Café, als Freiwillige für eine Wohltätigkeitsorganisation und für gemeinnützige Vereine in Philadelphia, verliebte mich in toxische gequälte Künstlertypen und entliebte mich wieder.
Aber Wren hat mich nie verurteilt oder sich herablassend verhalten, weil sie ihr Leben im Griff hatte. Sie liebte es, von meinen missglückten Abenteuern zu hören, wenn ich sie besuchte. »Du lebst wirklich«, sagte sie neidisch, und dann fühlte ich mich ausnahmsweise nicht wie eine komplette Verliererin, obwohl ich mein Leben, anders als sie, einfach nicht auf die Reihe kriegte.
Sie war mein Leben lang der Mensch, zu dem ich aufsah, die Erste, die ich nach einer schlimmen Trennung oder einem kleinen Erfolg anrief. Meine brillante, gütige, optimistische Schwester. Noch keine dreißig und schon drauf und dran, die Welt zu verändern. Das dachten wir jedenfalls alle, als sie ihre Sachen packte und nach Oxford ging, eine strahlende Zukunft vor sich.
Ein Jahr später war sie tot. Sie ist ins Wasser gegangen, in den Michigansee, und hat mir nur ein tränenverschmiertes Briefchen mit einer hingekritzelten Entschuldigung hinterlassen.
Es tut mir leid. Ich kann so nicht weitermachen.
Es tut zu weh, es nicht zu wissen.
Verzeih mir.
Ich schlucke den Kloß im Hals hinunter und jogge weiter. Biege von der Hauptstraße ab, laufe durch die Tore von Ashford und nicke den uniformierten Securityleuten am Haupteingang zu. Ein Ashford-College-Sweatshirt zu tragen, scheint ein bisschen überzogen, aber ich dachte mir, so werden mir wenigstens keine Fragen gestellt, wenn ich komme und gehe.
Und in der Tat winken sie mich einfach durch. Ich überquere den Hof bis zur Hinterseite der Gebäude, von wo sich ein Pfad zum Fluss hinunterschlängelt. In den ersten Tagen habe ich das Collegegelände ganz genau erkundet und festgestellt, dass es sich hinter Wohnheim und Bibliothek über mehrere Meilen hin erstreckt, über Wald und Wiesen. Die liegen in der Morgendämmerung so still und schön da, dass der Anblick den Sturm in meiner Brust fast beruhigen könnte.
Aber nur fast.
Wer hat dir das angetan, Wren?
Das ist die Frage, die mich bis zur Besessenheit verfolgt. Nein, sie treibt mich sogar noch weiter. Zur Rache. Seit Wren vor meinem Wohnhaus aufgetaucht ist, nur wenige Monate nach ihrer Abreise nach Oxford. Sie hatte gekündigt. War früher nach Hause gekommen. Und sie wollte mir ewig nicht sagen, warum.
Ich wusste, dass etwas Schreckliches passiert war, ich konnte es auf den Tag genau bestimmen. Ihre Anrufe und Videochats von Oxford aus waren am Anfang so fröhlich gewesen, voller Geschichten über ihre wunderbaren Laborpartner und historische und architektonische Fakten über die Stadt. Sie lernte neue Freunde kennen, hatte Spaß, liebte ihre Arbeit.
Und dann . hatte sich etwas verändert. Sie rief immer seltener an, und wenn wir redeten, dann wirkte sie erschöpft. Leer. Sie versuchte, die Fassade aufrechtzuerhalten, tat so, als wäre alles super, aber mir konnte sie nichts vormachen.
Ich kannte sie besser als alle anderen.
Der Job in Oxford sollte zwei, vielleicht drei Jahre dauern, doch plötzlich war Weihnachten, und sie stand vor meiner Tür. Mit einer lahmen Ausrede, von wegen, sie hätte ihr Ziel aus den Augen verloren und wäre von zu viel Arbeit ausgebrannt.
Sie war ausgebrannt, erloschen, das stimmte. Aschfahl und brüchig. Dunkle Ringe unter den Augen. So angespannt, dass sie bei jeder zuschlagenden Tür zusammenzuckte. Und die heitere, herzliche, ehrgeizige »Das Glas ist halb voll«-Schwester, die ich mein Leben lang gekannt hatte?
Es gab sie nicht mehr.
Diese Wren erkannte ich nicht wieder. Sie blieb die ganze Nacht weg, feierte mit Fremden. Trank bis zur Besinnungslosigkeit. Und Alkohol war nicht das Einzige. Pillen verklärten ihren Blick. Pülverchen ließen sie überlaut lachen. Sie fuhr schnell aus der Haut, und in ihr glomm die Wut.
Sie war wie eine Fremde, der ich nicht mehr in die Augen sehen konnte.
Die Bäume ziehen verschwommen an mir vorbei, als ich den Pfad hinunterlaufe. Unten werde ich langsamer und bleibe stehen. Die Hände auf die Oberschenkel gestützt, ringe ich nach Luft. Mein Herz wummert mir in den Ohren, ich lasse den Blick über die Flussufer schweifen und habe jenen Abend wieder allzu klar vor Augen.
Den Abend, an dem Wren schließlich zusammengebrochen ist und mir alles erzählt hat.
Ich hätte eigentlich arbeiten sollen, kellnern in einer schäbigen Bar bei mir um die Ecke. Aber der Inhaber kam nicht, und ich hatte keinen Schlüssel, also ließ ich das Lokal geschlossen und ging nach Hause.
Wren lag im Bad auf dem Boden, völlig weggetreten vom Alkohol. Ihr linkes Handgelenk von einer Rasierklinge aufgeschlitzt.
Ich hatte noch nie zuvor solche Angst gehabt, wie in dem Moment, als ich sie dort zusammengesackt in einer Blutlache liegen sah. Aber sie atmete. Der Schnitt war offenbar nicht so tief. Ich verband sie und duschte sie kalt ab, damit sie zu sich kam, und als sie endlich wieder bei Sinnen war, zitternd, mit roten Augen, habe ich sie gezwungen, mir endlich die Wahrheit zu sagen.
Sie war mit Freunden ausgegangen, Mitte Oktober. Einfach was trinken in der Collegebar, wo sie schon ein Dutzend Mal gefeiert hatten. Aber irgendwer kannte irgendwen, der von einer Riesenparty irgendwo auf dem Land gehört hatte. Wren musste einfach mitkommen. Es würde ein Abenteuer sein.
Und das war alles, woran sie sich erinnerte. Alles danach war einfach . weg. Mit wem sie gefahren ist, ob sie überhaupt bei der Party ankam . Wrens brillantes Hirn, das sich Daten, Fakten, Zahlen völlig problemlos merken konnte, war nur ein schwarzes Loch ohne die kleinste Erinnerung, die irgendwie hätte helfen können. Sie schwor, dass sie nicht getrunken hatte. Vielleicht ein Glas Wein. Ich glaubte ihr. Damals war Wren immer die Fahrerin, sie blieb nüchtern und klar und sorgte dafür, dass alle heil nach Hause kamen, hielt den Mädels beim Kotzen die Haare und brachte am nächsten Morgen Kaffee und Snacks.
Ein Glas Wein, aber an mehr erinnerte sie sich nicht. Sie wachte in ihrem Zimmer im Collegewohnheim auf, angezogen auf dem Bett, in ihrem besten Partykleid. Ihr tat alles weh. Blaue Flecken an Handgelenken und Schenkeln. Ihre Mitbewohner wussten nicht, wo sie nach der Bar hingegangen war, und auch nicht mit wem, ob mit Freunden oder Fremden.
Es waren vierundzwanzig Stunden vergangen.
Ein ganzer Tag. Einfach weg. Für meine Schwester, die es gewohnt war, alles zu wissen, alles zu planen, war das das Schlimmste. Was war passiert? Wo war sie gewesen?
Mit wem?
Sie ging ins Krankenhaus, aber welche Drogen auch immer ihr verabreicht worden waren, sie wurden nicht nachgewiesen. Die Untersuchung auf Spuren von Vergewaltigung brachte kein Ergebnis. Das Krankenpersonal hielt eine Predigt über die Gefahren des Alkohols und schickte sie weg. Sie versuchte, den Abend zu rekonstruieren, aber niemand hatte auf sie geachtet, alle waren zu sehr mit ihren eigenen Deadlines oder Beziehungsdramen und fröhlichem Feiern beschäftigt gewesen. Wohin sie sich auch wandte, niemand wusste etwas.
Und dann begannen die Flashbacks.
Nichts Konkretes, keine Namen oder Gesichter oder sonst irgendetwas Nützliches. Nur kurze Bilder. Menschen in Abendgarderobe, die in einem Garten tanzen. Eine schmutzige Zelle irgendwo, keine Fenster. Eine nackte Matratze. Fesseln an Fuß- und Handgelenken. Ein bedrohlich über sie gebeugter Mann mit einem markanten Tattoo auf dem...
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