Schweitzer Fachinformationen
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Was bin ich? Chronist und Berater, verschwindend klein, versteckt in dem menschlichen Subjekt, das mich trägt. Ersonnen haben mich die Anth auf dem Gipfel ihrer Schaffenskraft, als ein Geschenk für die größten unter ihnen. Ich hielt ihre Gedanken und Handlungen fest und stellte ihnen im Gegenzug mein Wissen über die Vergangenheit zur Verfügung. Ein durchaus umfangreiches Wissen.
Mehrere Jahrzehnte lang zeichnete ich den Werdegang von Altissa Praxa auf, bis dann die Rettungskapsel unser Grab wurde. Sie holte sich nur selten bei mir Rat.
Mein Kern besteht aus einem soliden Pilz, der mit einer Menge Technologie umhüllt ist, was immens viel Geld gekostet hat. »Anstellgut für Sauerteig im Tech-Mantel«, hatte ein Kritiker gespottet. Aber ich mag diese Beschreibung. Während meiner Entwicklung stellten die Controller immer wieder die Frage, ob ich den Aufwand wert war. Doch der Traum von einem Gedächtnis, das das Leben eines Einzelnen überdauern würde, hielt das Projekt am Laufen.
Berauscht vom ATP, kroch ich durch die Blutbahnen des Jungen. Nach den kargen Jahren im Grab hatte ich vergessen, wie gut Energie schmecken kann. Die Regionen meines Geistes, die ich auf Standby gesetzt hatte, erwachten lärmend wieder zum Leben. Ich erinnerte mich wieder an die Kooperative, ihre Geschichten und ihre Eigenheiten. Ich rezitierte Haikus. Ich zählte die Reihe der Primzahlen auf, nur so zum Spaß.
Ich festigte meine neue Position.
Wenn man weiß, dass ich mich mit dem Geist meines Subjekts verbinde, könnte man annehmen, dass ich mich in seinem Gehirn festsetze.
Damit läge man falsch.
Weitaus mehr als andere Organe und Teile des menschlichen Körpers begegnet das Gehirn Eindringlingen rundheraus feindselig; es besitzt exzellente Verteidigungsmechanismen, die vor sonderbarer Energie nur so brummen. Ich kann in ein Gehirn eindringen - mit Filamenten aus Gold, die nur drei Atome dick sind -, aber ein Gehirn ist für mich wie eine heiße Pfanne: nützlich, doch mit Vorsicht zu handhaben.
Ich richtete mich in einer Schulter des Jungen ein, in einem Muskel direkt unterhalb des Halses; eine robuste Körperregion, die üppig mit Blut versorgt wird und durch die dicke Nervenstränge verlaufen, und diese wiederum verschaffen bequemen Zugang nicht nur zum Gehirn, sondern auch - über das ganze Verbreitungsgebiet des Nervus vagus - zu den Eingeweiden und in die Leistengegend.
Ich sog Energie ein und jagte sie durch die Turbinen meiner Zellen, mehr Energie, als ich in den hundert Jahren zuvor umgesetzt hatte, eine ganze Kalorie oder sogar mehr. Hätte der Junge achtgegeben, hätte er ein leichtes Jucken verspürt.
Er gab nicht acht. Vor uns erhob sich die Burg Sauvage. Wuchtig und abweisend, aus dunklem Gestein, das in schmale Blöcke gehauen worden war. An den Ecken ragten schlanke Türme auf, gekrönt von konischen Hauben aus dunklem Holz. Das Gebäude wirkte nicht so, als wäre es für praktische Zwecke tauglich.
Der Fluss, der nach dem Gewitter angeschwollen war, strömte ganz in der Nähe vorüber, und zwischen ihm und der Burg lag eine Wiese mit kurz geschnittenem Gras. Dort stand ein strohgedeckter Hangar, aus dem die Schnauze eines schwarzen Flugzeugs mit wuchtigem Rumpf hervorlugte.
Der Himmel über dem Tal war blassorange und klar, bis auf eine vereinzelte Wolke, die jedoch keine Wolke war, sondern eine riesige tierische Gestalt: eine Motte, wie das Gehirn des Jungen nüchtern berichtete, allerdings von titanischen Ausmaßen. Unscharf, irisierend, ehrfurchtgebietend. Sie waberte über dem Tal und warf einen Schatten von der Größe eines Cumulonimbus, an dessen Rändern sich das Licht der Sonne brach wie an einem durchscheinenden Prisma.
Die Burg, der Landeplatz, die Riesenmotte, der Junge, der ein Mensch war und offenkundig höchst lebendig - all das verwirrte mich zutiefst. Vielleicht waren das nur letzte Visionen, bevor ich starb, eine missratene Fantasie der Anth. Ich überprüfte mich, führte die Diagnoseläufe durch, die mich im Grab bei geistiger Gesundheit gehalten hatten.
Das hier war wirklich.
Die Schuhe des Jungen schlappten über die Bohlen einer kurzen Brücke. Als er den Fluss überquerte, zog der Schatten der Motte über die Burg und verschwand schimmernd im dahinterliegenden Wald.
Der Junge wusste, welchen Weg er nehmen musste. Er ging an einer Schenke vorbei und an einer Kirche mit rustizierten Steinmauern, in deren Hof Nebelschwaden hingen. Die Dorfbewohner auf den Straßen trugen funktionelle Kleidung; ihre Parkas waren mit Streifen von Reflektorband gesprenkelt, die im Sonnenlicht glitzerten.
Der Junge trat nicht durch das weit offen stehende Burgtor, sondern durch eine kleine Tür, die neben dem Tor in die Mauer eingelassen war. Im Inneren der Burg lief er durch halbdunkle Korridore und schlitterte artistisch um die Ecken - er kannte die Strecke offenbar gut.
»Hey, Hundejunge!«, rief eine Männerstimme. Das waren die ersten Worte, die ich in dieser neuen Welt hörte: »Hey, Hundejunge!«
Im Geist des Jungen wallte Verärgerung auf, und so erfuhr ich, wie er wirklich hieß. Nicht Hundejunge, sondern Ariel.
Es ist interessant, wie die Menschen mit dem eigenen Namen umgehen. Mein erstes Subjekt war von seinem Namen ganz erfüllt; es war sich seiner selbst immer als Peter Leadenhall bewusst sowie all dessen, was in diesen beiden Wörtern steckte.
Altissa Praxa war genau das Gegenteil - sie dachte oft wochenlang nicht an ihren Namen. Er war für sie nur eine Bezeichnung, ein Hilfsmittel, so praktisch und unauffällig wie ein Hammer oder ein Schuh. (Peter liebte auch seine Schuhe.)
Der Junge war weder so noch so, aber dass sein Name jetzt in ihm wie ein Peitschenschlag schnalzte, ließ mich etwas verstehen. Ariel! Wenn er hochmütiger gestimmt war: Ariel de la Sauvage. Niemand nannte ihn je so, außer ihm selbst und einer weiteren Person.
»Der Hundehüter sucht dich«, sagte der Mann jetzt. Es war Bufo, einer der Ranger des Zauberers. Sie waren allesamt schwarz gekleidet und stolzierten vor der Burg auf und ab, als gehörte sie ihnen.
Ariel sah ihn an. Zwischen Bufos wässrigen Glupschaugen prangte ein dunkles Mal auf seiner Haut:
Ariels Blick glitt über das Mal hinweg, ohne innezuhalten. Er nahm es gar nicht wahr. Jeder hier trug so ein Mal.
Der Ranger drängte sich an ihm vorüber, und Ariel überlegte, welchen Weg er nehmen sollte. Der Hundehüter suchte ihn . und dennoch .
Erneut erschallten die Hörner, und seine Entscheidung war getroffen.
Im weitläufigen Innenhof der Burg gesellte er sich zu einem Grüppchen, das Kämpfern bei einem Spiel zusah. Auf jedem Gesicht entdeckte ich ein Mal: auf den Schläfen, auf den Wangen oder mitten zwischen den Augen.
Ariel schlängelte sich durch die anderen hindurch bis zu dem Geländer, das die Kampffläche umgrenzte. Dort prügelten zwei untersetzte Schildknappen mit massiven Schaumstoffschwertern aufeinander ein. Am Rand der Fläche standen Tribünen; Ariel suchte sie von oben bis unten ab und hielt bei interessanten Gesichtern kurz inne. Jesse, der Barde, der das Geschehen skeptisch beäugte. (Ein Mal über dem Auge.) Elise, die Köchin, die einen der Kämpfer anfeuerte - ihren Freund. (Ein Mal neben den Lippen.) In der obersten Reihe der Tribüne saßen die Ritter (alle mit unterschiedlichen Malen). Ariel betrachtete sie mit der gebotenen Ehrfurcht, doch als ich in seinem Geist nachforschte, um zu erfahren, was sie denn eigentlich taten, lautete die Antwort: nicht viel.
Diese Burg beherbergte keinen König, sie erwartete jedoch einen. Hier herrschte der Zauberer Malory, unergründlich und entrückt. Ariel hielt nach ihm Ausschau, jedoch mit gemischten Gefühlen: So sehr er sich wünschte, den Zauberer zu entdecken, wünschte er sich auch, ihn nicht zu entdecken.
Der Zauberer befand sich nicht unter den Zuschauern, was nicht überraschend war. Malory war oft abwesend.
»Sie sollten lieber ein Quiz veranstalten«, sagte eine schneidende Stimme schräg hinter Ariel.
Es war Madame Betelgauze, Ariels Lehrerin, die ihm vieles beigebracht hatte, über das Wetter, über Krankheiten, über unsichtbare Planeten. Ich stöberte durch ihren Unterricht: ein Verzeichnis nützlicher Pflanzen, Mengenangaben für die Ingredienzien verschiedener Elixiere und Tinkturen, Ehrerbietung gegenüber dem Mond und seinen Phasen. Sie hatte etwas von einer Hexe, diese Betelgauze.
»Aber Madame, dabei würden Sie doch immer als Siegerin hervorgehen«, sagte Ariel. Sie trug ihr Mal auf der Stirn, exakt an der Stelle des dritten Auges.
»Darauf kannst du Gift nehmen«, erwiderte sie. »Ich würde euch alle unter meinen Absätzen zermahlen. Euch zu Staub zermalmen!«
Betelgauze sprach eine andere Sprache als Altissa, die jedoch mit dieser verwandt war. Und da der Junge sie verstand, verstand auch ich sie.
Ich suchte nach etymologischen Hinweisen, konnte aber nicht so weit vordringen, weil der Junge so flüssig sprach und seine Worte einen dichten Puffer bildeten. Er sprach formell und spröde. Er war sich dessen bewusst, und er war stolz darauf.
Der letzte Kampf des Tages zog Ariels gesamte Aufmerksamkeit auf sich, denn einer der Beteiligten war sein Bruder Kay. Eine Bande von Schildknappen schleppte alle möglichen Gegenstände in die Arena. Dieser Kampf war kein Duell, sondern ein Hindernis-Wettlauf: mit einem Balken, Fässern, einem Netz, einer Wand. Ein Ritter blies das Horn, und die beiden Kontrahenten sausten los.
Der Junge...
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