Abigail Winford verengte die Augen und versuchte, die Schmerzen in den Gelenken zu ignorieren, als sich ihre Hände um das Geländer der Veranda schlossen. Sie musterte den Prediger und blickte dabei in eindringlich leuchtende kastanienfarbene Augen, die ihrer Inquisition mühelos standhielten.
»Woher wissen Sie, was mit Ralph...« Mitten im Satz brach sie ab, und eine innere Stimme schalt sie: Was geht das diese Leute an, dass mein Mann gestorben ist? Und woher wissen sie davon?
Der Mann auf dem Kutschbock hob die Hände und streckte sie beschwichtigend nach vorn. Er trug die schlichte Kleidung eines Wanderpredigers; schwarze, schwere Stoffe, die dem Klima nicht angemessen waren. Seine treuherzige Miene erinnerte Abigail an Tristan - ihren Hütehund, den sie vor einem Jahr begraben hatten. Ralph hatte Tris oben auf dem Hügel beigesetzt.
Und nun lag ihr Gatte selbst nur ein paar Schritte entfernt davon unter der Erde im Schatten der Sycamore.
Der Prediger wirkte ein wenig zerknirscht und schien nach den richtigen Worten zu suchen. Abigail war nicht bereit, ihm dabei behilflich zu sein; eigentlich fühlte sie sich bereits gestört von den ungebetenen Besuchern.
Schick sie fort!, befahl ihr eine innere Stimme, doch obwohl sie durchaus darauf hören wollte, fielen ihr einfach nicht die passenden Worte dafür ein.
Das Mädchen neben ihm half dem Prediger auf die Sprünge. Mit der linken Hand schob sie sich die goldenen Locken aus dem engelhaften Gesicht und sah Abigail auf eine Weise an, die sie sofort gefangen nahm.
Ihr Blick hatte etwas Einnehmendes, fast schon Hypnotisches, das Abigail plötzlich das Gefühl gab, zuzuhören könne nicht schaden.
Was angesichts der Tatsache, dass sie seit drei Wochen mit keiner Menschenseele mehr geredet hatte außer mit Mo, wohl auch nicht weiter verwunderlich war.
»Hören Sie, Ma'am - wir wollen uns keinesfalls aufdrängen. Aber unten in der Stadt hat man uns von ihrem bedauerlichen Schicksal erzählt. Ihr Gatte hat Sie verlassen...«
»Ralph...«, ergänzte der Mann neben ihr leise und schaute dabei betroffen irgendwohin. »Gott sei seiner Seele gnädig.«
»... er ist vor zwei Monaten von Ihnen gegangen, und das trifft uns tief in unserer Seele. Ralph... er sitzt nun an der Seite von Jesus und schaut herab auf die Welt, befreit von all den Sünden und Qualen des Diesseitigen.«
»Christus sei gepriesen, und gebenedeit sei sein Leib«, murmelte der Prediger an der Seite des blonden Engels und bekreuzigte sich.
»Doch Sie sind nun allein und müssen dem Leben trotzen, dem Gewicht auf Ihren Schultern, das Gott, der Herr, Ihnen in seiner Weisheit auferlegt hat.« Das Mädchen klimperte mitfühlend mit den Wimpern und hob den Blick, weil sie auf eine Antwort wartete.
Abigail starrte die beiden an und hob die Augenbrauen.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie ein wenig ratlos.
Die junge Frau sprang vom Kutschbock und kam mit ausgebreiteten Händen auf sie zu. Ihre Miene strahlte Freundlichkeit, Zuversicht und Lebensfreude aus. Nichts davon hatte sie seit dem Tod von Ralph empfangen oder in sich selbst gespürt.
Was natürlich auch an ihr und ihrem Mann gelegen hatte, wie sie zugeben musste. Ihr war nur zu bewusst, warum sie keine Freunde hatten, obwohl sie allenfalls zum Teil schuld daran waren.
Schon lange waren sie Außenseiter in der Gemeinde - gemieden, allenfalls geduldet - und hatten nichts unternommen, um das zu ändern. Ralphs Tod hatte daran nichts geändert.
»Die Frage ist falsch, Ma'am«, erwiderte die junge Frau und ordnete dabei ihr blondes Haar. Dabei sah sie Abigail so offen in die Augen, wie es schon lange niemand mehr getan hatte.
»Fragen Sie uns doch einfach, was wir für Sie tun können.«
Abigail wich einen halben Schritt zurück und betrachtete ihr Gegenüber genauer.
Das Mädchen trug ein schlichtes, taubenblaues Baumwollkleid, deren Knöpfe züchtig bis zum Hals geschlossen waren. Ihre blonden Locken umrahmten zarte Züge, die makellose Haut war nur leicht gebräunt. Der Teint war von jener Natur, die der Sonne zwar widerstand, sich dabei aber kaum tönte. Sie mochte von der Ostküste stammen, was auch ihr Zungenschlag nahelegte.
Die junge Frau trug weder Schmuck noch hatte sie sich auf andere Art zurechtgemacht, doch das war auch nicht nötig, denn ihre natürliche Schönheit rief Abigail auch so ihr eigenes Alter in Erinnerung. Der Anblick des Mädchens machte ihr bewusst, dass ihre Schönheit seit Jahren verblüht war. Sie verzog die Lippen und schüttelte langsam den Kopf.
»Vielen Dank, aber wir kommen schon zurecht.«
»Oh. Wir haben Besuch!«
Abigail runzelte die Stirn, als Moses, ihr Sohn, mit steifen Schritten heran kam und dabei schüchtern lächelte.
Mo war zum buchstäblich falschesten Zeitpunkt aufgetaucht, doch der blonde Engel schien das anders zu sehen. Die Augen des Mädchens leuchteten auf, und sie streckte Abigails Sohn die Hand entgegen. Der ergriff sie sofort und schüttelte sie so heftig, dass die Frau überrascht auflachte.
»Ich bin Moses!«, rief er, und die Blonde nickte erfreut.
»Hallo, Moses. Mein Name ist Ruby.«
»Ruby...« Der hochgewachsene junge Mann ließ zögernd ihre Hand los und musterte sie neugierig unter den langen schwarzen Haarsträhnen hindurch, die ihm in das schmale Gesicht hingen, während er sich mit den Fingern nervös die Träger der Latzhose zurechtrückte. Seine braunen Augen blitzten lebhaft, und er warf seiner Mutter ein unsicheres Lächeln zu, das eine wortlose Frage in sich trug.
Abigail tat ihr Bestes, es zu erwidern, während sie Ruby in den Blick nahm. »Mein Sohn...«, sagte sie und stockte. »Er, er ist...«
»Ein ausnehmend netter junger Bursche, wie mir scheint.«
Überrascht wandte Abigail sich um und stellte fest, dass der Prediger von der Kutsche gestiegen war und nun nur zwei Schritte von ihr entfernt vor den Stufen der Veranda stand. Er zwinkerte ihr verschmitzt zu und hob die Achseln.
»Moses - was für ein schöner Name. Er trägt alle Hoffnungen der Menschheit in sich, nicht wahr? Haben Sie ihn gewählt, oder war es Ralph, der seinen Sohn so nennen wollte?«
Dass er wie ein Geist so nah bei ihr aufgetaucht war, machte Abigail ein wenig Angst, doch als sie dem Prediger in die Augen sah, hatte sie unwillkürlich das Gefühl, darin so etwas wie den Glauben an eine bessere Zukunft zu finden.
Oder auch noch mehr als das. Die Züge dieses Mannes strahlten Gleichmut aus, Entschlossenheit und dabei etwas Demütiges, das seine Behauptung, ein tiefgläubiger Mensch zu sein, unterstützte.
Sie war so allein und mutlos in diesen Tagen, dass sie durchaus bereit war, die Hand eines Fremden zu ergreifen. So gewagt diese Geste auch sein mochte.
»Ich habe den Namen ausgesucht«, hörte sie sich murmeln und starrte den Mann, der in der leicht gebückten Haltung auf dem Kutschbock fast gedrungen gewirkt hatte, ein wenig verwirrt an.
Denn nun schaute er plötzlich auf sie herab, und sein Schatten erschien groß wie ein Baum, obwohl sie zwei Stufen über ihm auf der Veranda stand.
Es fühlte sich an, als könne sie nicht mehr genug Luft in ihre Lungen ziehen, daher kam der nächste Satz nur noch als ein leises Krächzen über ihre Lippen: »Und wie heißen Sie, Mister?«
Er lächelte breit und trat zwei Schritte zurück, als hätte er ihre Beklemmung bemerkt und wolle ihr die Gelegenheit geben, ihn aus freien Stücken willkommen zu heißen.
»Mein Name ist Hades, Mrs. Winford. Ruby, meine Nichte, hat sich ja bereits selbst vorgestellt. Wir reisen über Land, um Gottes Wort zu verkünden und jedem, der unsere Hilfe in Anspruch nehmen möchte, gegen Kost und Logis zu Diensten zu sein.«
?
»Was soll das heißen - er ist tot?«
Entgeistert beugte Lassiter sich vor und stützte die Hände auf die Schreibtischplatte des Sheriffs. Er glaubte, sich verhört zu haben.
Eigentlich hatte er im Office des Ordnungshüters nur nach dem Weg zur Farm seines alten Freundes Ben »Hickory« Dust fragen wollen, denn seit Hickory sich aufs Altenteil nach Südtexas zurückgezogen hatte, war es Lassiter nicht einmal gelungen, ihn dort zu besuchen.
Ein Brief von Dust an sein Postfach in Washington hatte ihn erst nach Wochen erreicht, weil er sich lange Zeit im Westen aufgehalten hatte. Hickorys Zeilen hatten beunruhigend geklungen.
Seine mexikanische Ehefrau war an einem Schlangenbiss gestorben, und Hicks schrieb in einer Art über den Verlust seiner Lebensgefährtin, die in Lassiter die Sorge keimen ließ, der alte Kämpe würde sich etwas antun. Sofort hatte er ein Telegramm geschickt und seinen Besuch angekündigt.
Die Antwort von Hicks kam rasch und war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert gewesen.
Zum einen schien sein Freund den Kummer nicht nur überwunden zu haben, sondern sprühte regelrecht vor neuer Lebensfreude. Das fast schon geschwätzige Telegramm musste Dust ein kleines Vermögen gekostet haben. Außerdem schien der alte Schwerenöter bereits eine Seelentrösterin gefunden zu haben, die ihm über den Verlust von Marisol hinweghalf.
Ihr Name ist Ruby, und sie ist einfach umwerfend. Dir werden die Augen aus dem Kopf fallen, Lassiter - aber sei...