Zwei Tage zuvor, Vulture Valley, New Mexiko
Gordon Lightfoot lenkte seinen durstigen Palomino zielstrebig zu einer Tränke, die neben dem Brunnen mitten auf der verwaisten Mainstreet stand. Während sein Pferd den Kopf im Wasser versenkte und gierig soff, betrachtete er die eiserne Pumpe, aus der die Tränke gefüllt wurde.
Der Griff faszinierte ihn. Er war durchaus kunstvoll einer menschlichen Hand nachgebildet, und oben auf der Säule der Pumpe thronte ein stilisierter eiserner Pferdekopf, der fast noch beeindruckender war.
Das Kaff am Ende der Welt schien zumindest einen Menschen zu beherbergen, der bemerkenswerte Talente aufwies.
Obwohl der Ort derzeit so aussah, als wäre er von seinen Bewohnern fluchtartig verlassen worden.
Er schaute sich um, ohne eine Menschenseele zu entdecken.
Oder doch?
Das Knarren eines Lehnstuhls ließ ihn den Blick wenden, und er entdeckte einen klapperdürren Oldtimer, der im Schatten eines Vordachs eine Pfeife rauchte. Lightfoot glitt aus dem Sattel und schlenderte zu dem Alten hinüber. Er blieb ein paar Schritte vor den Stufen zum Sidewalk stehen, tippt sich grüßend an die Krempe seines Stetsons und sagte: »Howdy, Sir. Hübsches Städtchen haben Sie hier.«
Der Alte verengte die Augen, und auf der pergamentartigen Haut über seinen vorspringenden Wangenknochen vertiefte sich ein feines Faltennetz. »Vulture Valley? Ein hübsches Städtchen? Das ist ja mal ganz was Neues...«
Er beugte sich vor und musterte Lightfoot neugierig. »Was willst du hier, Söhnchen? Ist 'ne ganze Weile her, dass sich ein Fremder zu uns verirrt hat. Falls du auf der Flucht bist, würde ich zusehen, dass ich mich schnell wieder vom Acker mache. Mit unserem Sheriff ist nicht gut Kirschen essen, glaub mir.«
Lightfoot hob verblüfft die Augenbrauen und zeigte mit beiden Daumen auf seine Brust. »Auf der Flucht? Ich? Wie kommen Sie denn darauf?«
»Weil du 'ne Nase wie ein Windhund hast, Bürschchen«, erwiderte der Oldtimer, lachte aber kurz darauf meckernd und entblößte dabei ein Gebiss, das mehr Lücken als Zähne aufwies. »Schon gut, hab dich nur hochnehmen wollen.«
Lightfoot stimmte in das Lachen ein, um seine Erleichterung nicht zu offensichtlich werden zu lassen. Für einen Moment hatte er ernsthaft darüber spekuliert, ob die Texaner einen Steckbrief mit seinem Konterfei gedruckt und bis nach New Mexiko hatten verteilen lassen. Obwohl das mehr als unwahrscheinlich war.
Zumindest in der kurzen Zeit, seit er sich aus Lubbock davongemacht hatte. Das war schließlich nicht mal zwei Wochen her.
»Ich bin auf der Suche nach 'nem Job«, sagte er. »Als Cowboy, oder auch auf dem Feld. Was meinen Sie, gibt's da jemanden, den ich fragen könnte?«
Der Oldtimer wackelte unbestimmt mit dem Kopf. »Die Ernte ist längst eingebracht, Söhnchen. Dafür bist du mindestens drei Wochen zu spät dran. Ist eh nicht weit her damit in dieser Gegend.«
»Und Rinder hüten?« Lightfoot nickte mit dem Kopf in die Richtung, aus der er gekommen war. »Schien mir, als hätte ich vor der Stadt ein paar Longhorns in der Ferne gesehen.«
»Schon möglich. Sam Rickenbekker von der R'n'B-Ranch kann eigentlich immer ein paar kräftige Hände brauchen.«
»Hört sich gut an. Wo finde ich Mr. Rickenbekker?«
»Gar nicht.« Der Oldtimer zuckte die Achseln. »Der ist auf nem Viehtrieb rüber nach Texas. Aber sein Vormann Julius hält auf der Ranch die Stellung. Wenn du dich zwei, drei Stunden geduldest, wird er sicher unten im Saloon auftauchen.«
Er hob die von Gicht gekrümmte Hand und zeigte die Straße hinunter. Lightfoot folgte seinem halb ausgestreckten Finger und erkannte das verwitterte Schild über den Schwingtüren, gut einen Steinwurf entfernt.
Moody Trudy's , entzifferte er die blassen verschnörkelten Lettern und nickte.
»Verbindlichsten Dank«, brummte er, was der Oldtimer mit einem Wedeln seiner Pfeife quittierte.
Lightfoot führte seinen Palomino zum Mietstall hinüber und zahlte dem Stallburschen einen halben Dollar, damit er das Pferd mit Futter versorgte. Als er anschließend zum Saloon stiefelte, sah er, wie sich die Tür des Sheriff's Office öffnete und ein vierschrötiger Mann mit einem pechschwarzen Walrossbart hinaustrat. Er schien ihn aufmerksam zu taxieren, war aber zu weit entfernt, als dass Lightfoot etwas in der Miene des Sternträgers erkennen konnte.
Er stieß die Schwingtüren auf und betrat den Schankraum, in dem es kaum kühler oder weniger drückend war als draußen auf der Straße. Staubpartikel tanzten träge im schräg durch die von Tabakqualm und menschlichen Ausdünstungen halbblinden Fenster einfallenden Sonnenlicht. Ein korpulenter Mann in mittleren Jahren mit Stirnglatze, eng zusammenstehenden Augen und einer fleckigen Schürze über dem ausladenden Bauch schaute ihm gelangweilt entgegen.
Außer ihm und dem Bartender befand sich nur ein weiterer Gast im Raum; die attraktive junge Blondine saß am Tisch vor dem Fenster, eine Reisetasche stand zu ihren Füßen und ein Glas Wasser vor ihr auf dem Tisch. Sie starrte gedankenverloren aus dem Fenster und würdigte ihn keines Blickes, als er sich grüßend an den Stetson fasste.
Achselzuckend trat er vor den Tresen, legte beide Hände darauf und nickte dem Dicken zu. »>n Tag«, brummte er, und der Bartender musterte ihn ohne großes Interesse.
»Was darf's denn sein, Fremder?«
»Ein kühles Bier wäre schön. Und bekommt man bei Ihnen auch etwas zwischen die Zähne?«
»Wenn Sie Steak oder so was wollen - nicht vor sechs.«
»Und sonst?«
»Kann Ihnen 'n Sandwich mit Spiegelei machen.« Die Antwort klang, als spräche der Bartender über eine Doppelschicht im Steinbruch.
»Wenn's keine Umstände macht...« Lightfoot bemühte sich um ein Lächeln, das nicht erwidert wurde.
»Umstände nicht«, gab der Dicke mürrisch zurück, »aber achtzig Cent im Voraus.«
Lightfoot zählte die Münzen ab, und der Bartender strich sie ein, bevor er sein Bier zapfte und es vor ihm auf die zerkratzte Platte schob.
Es war alles andere als kühl, aber zumindest genießbar, wie Lightfoot nach einem vorsichtigen Schluck feststellte, während der Barkeeper hinter einem zerschlissenen Vorhang in der Küche verschwand. Er fingerte einen halb gerauchten, krummen Zigarillo aus der Jackentasche und zündete ihn mit einem silbernen Feuerzeug an.
»Sind Sie auf der Durchreise?«
Lightfoot hob überrascht den Kopf und wandte sich um.
»Eigentlich suche ich Arbeit«, antwortete er und lächelte freundlich, als er in das fragende Gesicht der jungen Frau blickte. Er zeigte auf ihre Tasche. »Und Sie? Warten Sie auf die Postkutsche?«
Sie schaute wieder zum Fenster hinaus, obwohl man durch den schmutzig gelben Film auf dem Fensterglas kaum mehr als Schemen erkennen konnte.
»Keine gute Idee...«, murmelte sie.
Lightfoot nahm einen Schluck aus dem Bierkrug, bevor er fragte: »Was meinen Sie?«
»Sich ausgerechnet hier einen Job zu suchen.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Keine gute Idee, glauben Sie mir. Besser, Sie steigen auf Ihr Pferd und verschwinden, ohne sich noch einmal umzuschauen.«
Ihre angespannte Miene bewog Lightfoot zu einem Stirnrunzeln. Er breitete die Arme aus und streckte die Handflächen vor. »Das hört sich ja ziemlich dramatisch an, Miss, aber ich verstehe wirklich nicht, warum...«
Er verstummte, als er die drei Männer bemerkte, die über den Sidewalk am Fenster vorübergingen. Auch die schöne Unbekannte sah sie kommen und erbleichte.
Sie machte Anstalten, aufzuspringen, doch als die Burschen durch die Schwingtüren traten, sank sie resignierend wieder auf ihren Platz zurück.
Der erste war der Hüne mit dem schwarzen Bart, den Lightfoot vor ein paar Minuten aus dem Sheriff's Office hatte kommen sehen. Er trug den Stern eines Deputies an seiner dunklen Lederweste und schüttelte tadelnd den Kopf, während seine Begleiter, ein schmächtiger Junge mit Pferdegesicht und fettigem, dunkelblondem Haar und ein untersetzter Kerl, dessen kantiger Schädel ansatzlos zwischen seinen Schultern steckte, sich mit reglosen Mienen einen Schritt hinter ihrem Anführer aufbauten.
»Was soll das werden, Juliette?«, knurrte der Hüne mit dem Walrossbart. Er deutete auf die Reisetasche, die neben der Frau am Boden stand, und hakte die Daumen hinter seinen Revolvergurt.
»Wonach sieht es denn aus?«, zischte sie und schob herausfordernd das Kinn vor. »Ich verlasse die Stadt, und ihr werdet mich nicht aufhalten.«
»Sie gehen nirgendwohin, Mrs. Priestley«, brummte Walrossbart stirnrunzelnd.
»Mein Name ist immer noch Knowles, Deputy Parker«, erwiderte die junge Frau. Lightfoot sah, wie ihre Unterlippe bebte, und erkannte daran, dass sie zornig, aber auch ängstlich war.
»Das Dokument, das der Friedensrichter vor drei Tagen unterzeichnet hat, sagt etwas anderes«, knurrte Walrossbart. »Sie sind - ganz offiziell - die Frau des Sheriffs, und Mr. Priestley wird nicht begeistert sein, wenn er heute Abend zurück in die Stadt kommt und erfährt, dass seine frisch angetraute Gattin sich mir nichts, dir nichts aus dem Staub gemacht...