Georgina quittierte die Mitteilung mit einem Achselzucken; gleichzeitig behielt sie ihre überhebliche, geradezu blasierte Miene bei. Beeindruckt war sie nicht, denn der Name Lassiter sagte ihr nichts, überhaupt nichts.
»Sie wollen sich also zur Ruhe setzen«, folgerte die blonde Schöne vielmehr. Und ohne mit der Wimper zu zucken, schoss sie einen verbalen Giftpfeil ab: »Nun, dafür habe ich volles Verständnis. In Ihrem Beruf altert man schnell. Da zählt jedes Jahr doppelt, habe ich recht?«
»Mhm .« Lynelle überspielte die Beleidigung ohne erkennbare Reaktion. »Sie haben sehr viel Lebenserfahrung für eine .«
»Achtzehnjährige«, sprang Georgina ihr bei. »In der Tat, so ist es, Madame. Ich war die meiste Zeit meines Erwachsenwerdens mit meinem Vater und anderen alten Kerlen zusammen.«
»Du liebe Güte, Ihr Dad ist gerade mal zweiundvierzig.«
»Ich wusste doch, dass Sie gut informiert sind.« Georgina grinste. »Und als Mom mit dem Mann ihrer Träume ans Ende der Welt durchbrannte, war Dad sogar nur sechsunddreißig - aber da schon uralt für die Zwölfjährige, die ich damals war.«
»Ans Ende der Welt?«, wiederholte Lynelle erstaunt.
»Patagonien«, erläuterte Georgina mit Besserwissermiene. Sie hob die Augenbrauen. »Sagen Sie bloß, das wissen Sie nicht.«
Die Bordellchefin zuckte mit den Schultern. »Das Skandalöseste an der Geschichte war ja, wie Sie zugeben werden, die Tatsache, dass ausgerechnet die Frau eines Reverends die Ehe bricht. Und dann noch mit einem Musiker!«
»Einem hochbegabten Künstler«, verbesserte die Tochter des Reverends. »Morten Ivarsson stammt von norwegischen Einwanderern ab. Er hat in New York studiert, und zwar Trompete, Klavier und Gesang. Auf Empfehlung von keinem Geringeren als John Philip Sousa wurde er noch zu Lebzeiten Custers in die 7th US Cavalry Band aufgenommen.«
»Das klingt, als würden Sie für den Geliebten Ihrer Mutter regelrecht schwärmen.« Lynelle schlug die Handflächen zusammen, stützte das Kinn auf die Fingerspitzen und sah ihr Gegenüber mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Faszination an.
»Ich bewundere meine Mutter für ihre Entscheidung«, stellte Georgina richtig. »Sie ist ihrem Herzen gefolgt. Und nicht nur das. Sie fand die Kraft, aus der Enge ihres bisherigen Lebens auszubrechen.«
Lynelle verzog das Gesicht. »Und sie war - hm - kaltschnäuzig genug, ihre zwölfjährige Tochter im Stich zu lassen.«
Georginas Augen verengten sich. »Darüber steht Ihnen kein Urteil zu, Madame.« Ihre Stimme sank zur Eiseskälte. »Vor dem Hintergrund unserer zukünftigen Geschäftsbeziehung sollten Sie daran denken, wo Ihr Platz ist.«
»Selbstverständlich«, gab Lynelle klein bei. Eine spitze Gegenbemerkung konnte sie sich indes nicht verkneifen: »Darf ich im Übrigen auf ein gutes Betriebsklima hoffen - angesichts Ihres Verständnisses für alte Leute wie mich?«
»Aber ja, das dürfen Sie«, antwortete Georgina und täuschte ein gütiges Schmunzeln vor. »Sie Ärmste! Sie sind ja schon gefühlte zweiundfünfzig Jahre alt - wenn ich Ihr wirkliches Alter verdoppele.«
Diesmal fiel es Lynelle schwer, ihren hochkochenden Ärger zu unterdrücken. Dieses kleine Luder auf der anderen Seite des Schreibtischs hatte aus der Welt der Erwachsenen viel zu früh viel zu viel mitgekriegt.
Die Bordellchefin atmete auf, als sie einer Antwort enthoben wurde.
Schritte näherten sich draußen im Korridor.
Harte Stiefelschritte eines Mannes.
***
»Ah, das ist er!«, rief Lynelle und sprang von ihrem Drehsessel auf.
»Wer?«, fragte Georgina und gab vor, schon vergessen zu haben, von wem die Bordellchefin gerade gesprochen hatte.
»Ihr Gesprächspartner. Mein Nachfolger.«
»Gehen Sie weg?«
»Natürlich nicht. Ich werde ihm die beste Assistentin sein, die er sich wünschen kann. Im Übrigen ist er ein Mann, dem jede Frau sich mit Kusshand unterordnet.«
»Ich bestimmt nicht.« Georgina stieß ein verächtliches Schnauben aus.
Lynelle öffnete die Tür rechts vom Schreibtisch und zwinkerte der Tochter des Reverends herausfordernd zu. »Sie würde ich noch nicht unbedingt als Frau bezeichnen.«
Georgina erhielt keine Gelegenheit, ihrer Empörung Luft zu machen, denn Lynelle öffnete die Tür nun vollends. Den Knauf in der Hand, sah sie aus, als wollte sie einen Hofknicks vollführen. Doch sie beließ es bei einer respektvollen Verbeugung, als der große Mann eintrat.
Georgina musste sich beherrschen, um nicht Mund und Augen aufzusperren. Bei aller Anstrengung, ihre aufgesetzte Gleichgültigkeit nicht zu verlieren, schaffte sie es gerade mal, in eine Art Schockstarre zu verfallen. Innerlich schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel, dass dieses Prachtexemplar von einem Kerl ihr nicht ansah, wie hingerissen sie war.
Nach einem Schritt über die Türschwelle blieb er stehen und blickte erstaunt auf Georgina herab. Die blauen Augen in seinem von Wind und Sonne gegerbten Gesicht wirkten erstaunt, amüsiert, prüfend, spöttisch, beeindruckt - alles auf einmal.
»Eine Besucherin«, stellte er fest. Er nickte Georgina zu. »Haben Sie sich verirrt? Meinen Sie nicht, dass Sie etwas zu jung sind für dieses Haus? Oder sind Sie eine persönliche Bekannte von Madame Pompadoux?«
Georgina konnte nur zu ihm aufblicken. Noch immer hatte sie das Gefühl, dass ihr Gesicht und ihr ganzer Körper schockartig erstarrt waren. Gleichzeitig erzeugte seine sonore Stimme völlig neue Auswirkungen in ihr.
Über ihren Rücken lief ein wohliges Erschauern. Viel eindrucksvoller aber war dieses Kribbeln, das in ihren Haarwurzeln begann und hinablief bis zu den Fußspitzen. So ähnlich musste es sein, wenn man einen Schlag von diesem elektrischen Strom erhielt, der neuerdings Straßenlampen erstrahlen ließ wie taghelle kleine Sonnen.
Ja, Georgina musste sich eingestehen, dass Madame Pompadoux mit ihrer Ankündigung dieses Mannes nicht ganz Unrecht gehabt hatte. Du lieber Himmel, er war nicht nur ein Bild von einem Mann, er hatte auch eine überwältigende Persönlichkeit, die alle Männer in den Schatten stellte, die sie jemals erlebt hatte. Einschließlich ihres Vaters.
Es schien ihn nicht zu überraschen, dass es ihr die Sprache verschlagen hatte.
In seinem Blick überwog nun das Spöttische, als er sich auf Lynelles Drehsessel sinken ließ. Es hatte etwas Selbstverständliches, wie er dort Platz nahm. Und die ganze Zeit hörte er nicht auf, die blonde Besucherin anzusehen.
Alle Selbstsicherheit war von ihr abgefallen. Dieser - wie war noch sein Name? - hätte ihr befehlen können, seine Stiefel zu küssen, und sie hätte es getan. Tiefste Unterwürfigkeit erfüllte sie plötzlich, und sie sehnte sich geradezu danach, einen Befehl für ihn ausführen zu dürfen. O Gott, sie war so sehr durcheinander, dass sie sogar seinen Namen vergessen hatte.
Etwas wie ein Blitz zuckte jäh durch das Chaos.
Es war Lynelle, die das bewirkte.
Höhnisch grinsend setzte sie sich auf den Schoß des großen Fremden, und besitzergreifend legte sie den Arm um seinen Nacken. Mit den schlanken Fingern ihrer manikürten Hand kraulte sie seine Halsbeuge, sein Ohr und seinen Haaransatz.
Unverwandt sahen sie beide Georgina an - Lynelle eindeutig triumphierend, Lassiter als gelassener Herr der Lage.
Es überraschte Georgina nicht einmal, dass sie sich plötzlich wieder an seinen Namen erinnerte. Denn da war unvermittelt Lynelles rechter Arm, der ihre ganze Aufmerksamkeit fesselte. Sie warf den Arm lässig über die Gegend seiner Gürtelschließen und ließ ihre Handfläche auf seinem Oberschenkel landen. Wie es aussah, handelte es sich um den angestammten Platz, von dem aus sie mit lüstern forschenden Fingern ihre Erkundungen begann.
Nein, verdammt noch mal, ließ Georgina sich von ihrer inneren Stimme befehlen, das kannst du nicht zulassen. Du bist hier, um deine Forderungen durchzusetzen. Da kannst du deinen Verstand nicht von einem Mannsbild umnebeln lassen. Mein Gott, wenn du das Geschäft durchziehen willst, wie du es dir vorgenommen hast, musst du einen klaren Kopf bewahren.
»Sie heißt Georgina Moore«, sprach Lynelle mit gedämpfter Stimme ins Ohr des großen Mannes. »Sie sucht keinen Job bei uns. Sie ist die Tochter des Reverends der Baptistengemeinde, und sie möchte mit uns Geschäfte machen.«
»Falsch«, sagte Georgina, krampfhaft bemüht, ihre Selbstsicherheit zurückzugewinnen und dies auch gleich zu demonstrieren. »Es geht hier nicht um das, was ich möchte. Es geht um das, was ich anordne.«
Lassiter glaubte nicht, was er hörte. Es war ihm anzusehen.
»Lynelle«, sagte er und sah die dunkelhaarige Frau auf seinem Schoß fragend an. »Was haben wir denn hier? Eine kleine Größenwahnsinnige?« Er legte seinen Arm um die Taille der Bordellchefin. Seine kraftvollen, nervigen Hände kräuselten die dunkelrote Seide ihres tief ausgeschnittenen Kleids.
»Nun, so hört es sich zumindest an«, erwiderte Lynelle diplomatisch. »Wenn ich die Kleine richtig verstanden habe .«
»Ich bin nicht Ihre Kleine«, fauchte die Blondine. »Und keiner von Ihnen beiden hat auch nur den geringsten Grund, sich über mich lustig zu machen.«
»Hört, hört«, sagte Lassiter und zog anerkennend die Mundwinkel nach unten. »Wir haben es hier also mit einer ernsten Angelegenheit zu tun.« Er musterte Georgina eindringlich.
Sie erschauerte abermals, und wieder...