Harrisburg, Pennsylvania - vier Wochen später
»Goddam!« Lassiter lehnte sich in die weichen Polster des Ledersessels zurück und schüttelte ungläubig den Kopf. »Ausgerechnet Craig Dunbar! Ich kann es kaum glauben.«
Rupert Cartwright legte die Fingerkuppen aneinander und nickte traurig. Allerdings war sich Lassiter nicht sicher, ob die Miene des Advokaten tatsächlich etwas über dessen Gemütszustand verriet, denn auf Cartwrights faltigem Bassetgesicht schien auch in entspanntem Zustand alles nach unten zu streben. »Wir haben die Nachricht vor etwa zwei Wochen erhalten, und es besteht kein Zweifel darüber, dass der Marshal zu Tode gekommen ist.«
Lassiter runzelte fassungslos die Stirn. Craig Dunbar war ein alter Bekannter gewesen, und der Mann der Brigade Sieben hätte es bis dato nicht für möglich gehalten, dass es diesen harten Hund einmal erwischen würde. Er hatte mit dem Bundesmarshal schon ein paar Schlachten geschlagen, und immer war ihm Dunbar dabei als jemand erschienen, den man gern an seiner Seite hatte - ungeheuer treffsicher mit Schusswaffen jedweder Art, tapfer und entschlossen, aber dabei immer auch ausgefuchst und mit einem sicheren Gespür dafür, wie man in heiklen Situationen die Risiken für das eigene Leben möglichst gering halten konnte.
Doch offenbar hatte Dunbar sich in den Bergen der Appalachen auf verhängnisvolle Weise verkalkuliert und war auf Gegner getroffen, die entweder von ihm unterschätzt worden waren oder es an Listigkeit mit dem altgedienten Sternträger hatten aufnehmen können.
»Annie und ihre Bande haben in den vergangenen Monaten zwar bereits für einige Aufregung gesorgt - sonst hätte man Dunbar nicht geschickt -, aber einen Bundesmarshal zu töten, ist ein anderes Kaliber«, sagte Rupert Cartwright. »Dieser Frau und ihren Spießgesellen muss jetzt endlich das Handwerk gelegt werden, Lassiter!«
Der Notar schob einen Steckbrief über die Platte seines Schreibtischs zu Lassiter hinüber. Der warf einen kurzen Blick darauf.
»Annie Two Guns«, brummte er. »Man setzt zehntausend Dollar auf sie aus, eine stolze Summe. Aber es gibt nicht einmal eine schlichte Zeichnung von ihr. Wenn sie die Gegend schon seit Monaten unsicher macht, sollten doch mehr als genug Zeugen existieren, die diese Frau wenigstens ansatzweise beschreiben können.«
Cartwright verzog die kaum sichtbaren Lippen, doch die Schwerkraft machte den Versuch eines Lächelns zunichte. »Zeugen gibt es natürlich«, entgegnete er. »Aber die Beschreibungen gehen derart weit auseinander, dass sie praktisch nichts wert sind. Mal soll sie lange braune Locken haben, dann wieder kurz geschnittenes blondes Haar. Einige Leute haben behauptet, sie sei groß und kräftig gebaut, andere schildern sie als eher klein und zierlich. Mal hat sie angeblich viel Holz vor der Hütte und zwei Wochen später beschreibt man ihre Figur fast als knabenhaft.«
Der Notar seufzte frustriert. »Sie könnte so aussehen wie meine Frau, oder aber auch wie die Bedienung im Saloon gegenüber.«
»Das macht die Sache nicht unbedingt leichter«, stellte Lassiter lakonisch fest.
»Sie trägt zwei Revolver an den Hüften, wie auch immer die geformt sein mögen«, wandte Cartwright ein. »Ziemlich auffällige Modelle - 45er Peacemaker mit vergoldeten Griffschalen.«
»Daher der Name .«
Der Notar nickte. »Ihr Markenzeichen. Möglicherweise auch ein Ansatz, um herauszufinden, wie ihr wahrer Name lautet. Aber das ist noch nicht alles.«
»Warum wundert mich das nicht?«, brummte Lassiter missmutig, doch Cartwright fuhr ungerührt fort: »Diese Zeugenaussagen sind zum Teil möglicherweise auch deshalb so unpräzise, weil die Menschen dort Annie und ihrer Bande mit einem gewissen Wohlwollen begegnen - wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Lassiter schüttelte den Kopf. »Nein, aber Sie werden es mir sicher gleich erklären«, gab er zurück und hob dabei fragend die Augenbrauen.
Wieder versuchte Cartwright zu lächeln. Es sah so aus, als hätte er Zahnschmerzen. »Haben Sie schon einmal von Robin Hood gehört, Lassiter?«
Sein Gegenüber grinste nur schmal und sagte nichts.
»Also, die Menschen da oben sind sehr arm. Sie leben von der Hand in den Mund und müssen für kargen Lohn in den Kohleminen schuften. Natürlich geht es mit der Wirtschaft aufwärts, seit in Pittsburgh die Stahlwerke wie Pilze aus dem Boden schießen, aber profitieren tun davon nur die Besitzer der Minen. An den einfachen Arbeitern geht der Aufschwung zumindest in finanzieller Hinsicht vorbei. Sie arbeiten noch mehr, aber der Hungerlohn bleibt seit Jahren derselbe. Wer dagegen aufbegehrt, wird entlassen, und an seine Stelle tritt ein anderer armer Hund, weil es in dieser Region kaum eine andere Möglichkeit außer den Minen gibt, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.«
Angesichts der luxuriösen Ausstattung des Büros und dem Geruch teurer Zigarren, der den Raum erfüllte, wunderte sich Lassiter ein wenig darüber, dass Cartwright offenbar Mitgefühl für die arme Bevölkerung entwickelt hatte, doch er enthielt sich eines Kommentars.
»Annie Two Guns raubt den Reichen ihr Geld, aber sie behält nur wenig davon für sich«, fuhr der Notar fort. »Zumindest sagt man das. Natürlich reitet sie nicht in die Stadt und verteilt die erbeuteten Dollars auf dem Marktplatz. Aber sie findet immer wieder Möglichkeiten, um den Ärmsten einen Großteil ihrer Beute zukommen zu lassen.«
»Ach, tatsächlich«, entgegnete Lassiter skeptisch, musste aber zugeben, dass ihm der Gedanke gefiel. »Und wie stellt sie das an?«
»Das werden Sie selbst herausfinden«, sagte Cartwright. »Ich gebe nur das wieder, was man mir zugetragen hat und muss eingestehen, dass wir hier in Harrisburg nicht allzu viel wissen über die Menschen und das Leben in den Bergen. Nur sollten Sie sich darüber bewusst sein, dass Sie nicht mit offenen Armen empfangen werden. Die Mountain Men - so nennt man die Leute da oben - sind ohnehin misstrauisch allen Fremden gegenüber, erst recht, wenn sie aus Washington kommen. Aber wenn man dahinterkommt, dass Sie Annie Two Guns zur Strecke bringen wollen .« Der Notar hob vielsagend die Arme. »Nun ja, dann wird das dort vermutlich auf wenig Gegenliebe stoßen.«
Lassiter nickte grimmig. »Niemand wird jemanden aus der Hauptstadt willkommen heißen, wenn er die Heldin, die für ein bisschen ausgleichende Gerechtigkeit sorgt, zur Strecke bringen will.«
»O doch, Lassiter.« Cartwright schob ihm das dünne Dossier zu. »Wesley Gunsmith wird Sie mit offenen Armen empfangen. Schließlich sind es seine Dollars, auf die Annie und Ihre Bande es vor allem abgesehen haben. Er und der Sheriff von Snowball warten händeringend darauf, dass Sie dem Treiben ein Ende bereiten.«
Der Mann der Brigade Sieben nahm den Ordner an sich und stand auf. »Wesley Gunsmith?«, fragte er.
»Der reichste Mann da oben«, antwortete Cartwright. Sein trauriges Hundegesicht war schwer zu deuten. »Mittlerweile gehören ihm wohl fast alle Minen in der Gegend. Er erwartet Sie in zwei Tagen in seinem Büro.«
»Keine gute Idee«, entgegnete Lassiter. »Wenn man mich mit ihm sieht, weiß sofort jeder in dem Kaff, dass ich auf seiner Seite stehe. Und dann wird man mir noch nicht mal die Uhrzeit verraten, ganz zu schweigen davon, dass ich an Informationen über die Bande komme.«
Cartwrights Miene sackte noch tiefer in Richtung seines schmalen Halses, als Lassiter es sich hätte vorstellen können. »Ein berechtigter Einwand«, gab der Notar zu und hob die Achseln. »Was schlagen Sie also vor?«
»Sie schicken Mr. Gunsmith ein Telegramm und teilen ihm mit, dass ich mich mit ihm in Verbindung setzen werde«, antwortete Lassiter.
»Und wann wird das sein?«
»Sobald ich es für richtig halte.«
Cartwright nickte bedächtig. »Wie Sie meinen, Lassiter. Er wird darüber vermutlich nicht glücklich sein, aber Sie werden wissen, was Sie tun. Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Erfolg.«
Die Männer schüttelten sich die Hände, bevor Lassiter das Büro verließ.
Auf der Straße blies dem Mann der Brigade Sieben ein eisiger Wind entgegen, und er hatte innerhalb weniger Augenblicke das Gefühl, dass seine Gesichtszüge ihm nicht mehr gehorchen wollten.
Als ein Kind des Südens war das Klima hier oben in Pennsylvania, zumal zu dieser Jahreszeit, alles andere als angenehm für ihn. Lassiter fühlte sich selbst in der menschenfeindlichen Wüste von Nevada wohler als hier oben im kalten Norden, und es war ihm immer noch ein Rätsel, aus welchen Gründen sich Menschen dazu bereitfanden, in eine derartige Gegend zu ziehen.
Warum setzte man sich dieser grimmigen Kälte und einer Natur aus, die den Siedlern mit aller Kraft klarzumachen versuchte, dass sie hier nicht willkommen waren?
Natürlich wusste er, dass die reichen Kohle- und Silbervorkommen in den Bergen der Grund dafür waren, der die armen Einwanderer in die Appalachen trieb. Doch man musste schon mit einem schlimmen Schicksal geschlagen sein, um beispielsweise das sonnige Italien oder die grünen Wiesen Irlands einzutauschen gegen eine ungewisse Zukunft in dieser abweisenden Region.
Nachdem er den Mietstall aufgesucht und nach längerem Feilschen ein frisches Pferd gegen den ermüdeten Wallach eingetauscht hatte, mit dem er von Washington aus hinunter nach Harrisburg geritten war, ging Lassiter fröstelnd den Sidewalk hinauf in den nächstgelegenen Clothing Store. Er erstand zwei Paar lange Unterhosen aus dicht gewebter Schafwolle, ein paar entsprechende...