Schweitzer Fachinformationen
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Rebecka geht ein letztes Mal durch die große Eckwohnung, um zu prüfen, dass sie auch nichts vergessen hat. Die Morgensonne malt breite Streifen auf den Teppich, und der Couchtisch aus Glas und Metall funkelt in ihrem Licht.
Joar lehnt an der Küchenanrichte, einen Espresso in der Hand. Er trägt seinen grauen, maßgeschneiderten italienischen Anzug, das Jackett betont die Schulterpartie. Wie immer sieht er elegant und gleichzeitig reserviert aus, wie jemand, dem alles im Leben geglückt ist und der sich dennoch nicht in den Vordergrund drängen will.
»Ich finde nach wie vor, dass es eine schlechte Idee ist, ausgerechnet jetzt zu fahren. Du solltest hierbleiben und deinem Chef beweisen, dass es eine Fehlentscheidung war. Jetzt Urlaub zu nehmen ist ein völlig falsches Signal.«
»Aber meine Oma liegt im Krankenhaus.«
»Ich weiß, aber die Schwester, mit der du geredet hast, meinte doch, es sei gar nicht so schlimm. Außerdem kann sich doch deine Mutter um sie kümmern, zumindest bis zum Wochenende.«
Rebecka schüttelt den Kopf.
»Ich muss jetzt fahren. Du weißt, dass ich ewig nicht zu Hause war.«
»Okay, mach, was du willst. Aber es wird schwieriger werden, ihn zur Umkehr zu bewegen, wenn du nicht sofort Einspruch einlegst.«
»Ich weiß«, murmelt sie.
Joar richtet sich auf.
»Du bist doch nicht sauer, weil ich nicht mitkomme?«
»Nein, kein Problem. Du hast ja deine Gerichtsverhandlung.«
Er wirkt erleichtert, wirft seinem Spiegelbild im Flur noch einen Blick zu und rückt den gestärkten Hemdkragen zurecht.
»Es ist mein bisher wichtigster Fall«, sagt er. »Aber wenn etwas ist, kannst du natürlich anrufen.«
Rebecka nickt. Obwohl sie weiß, dass Joar so kurzfristig keinen Urlaub nehmen kann, ist sie ein wenig enttäuscht. Er hat sie bisher nur ein einziges Mal zu ihrer Familie nach Helsingborg begleitet - und musste selbst diesen Besuch wegen eines Notfalls auf der Arbeit vorzeitig abbrechen. Rebecka dreht an ihrem Verlobungsring. Es wäre schön gewesen, Joar als Unterstützung dabeizuhaben, gleichzeitig weiß sie, dass ihr Leben nun einmal so ist. Sie haben beide sehr viel in ihre jeweiligen Karrieren investiert, und er kann wegen ihr nicht einfach alles stehen- und liegenlassen.
Der Handgriff ihres stahlgrauen Koffers klickt, als sie ihn herauszieht. Sie muss los, dennoch zögert sie. Als Joar seine Tasse abstellt und auf sie zugeht, spürt Rebecka, wie sehr sie seine Umarmung bräuchte, doch er küsst sie lediglich flüchtig auf die Stirn.
»Dann sehen wir uns in ein paar Tagen, okay?«
»Ja«, antwortet sie.
Am Bahnhof ist es voll, Rebecka läuft zickzack durch die Menge bis zum Gleis und steigt in ihren Zug. Sie fühlt sich seltsam benommen - hört die Leute um sich herum reden, kann aber nicht aufnehmen, was sie sagen. Als ein behäbiger Schaffner mit zu enger Weste sie anspricht, nickt sie nur und hält ihm ihre Fahrkarte hin. Sie hat keine Ahnung, was er eigentlich wollte, folgt ihm aber mit den Augen, als er weiter durch den Waggon geht. Der Zug fährt an und gleitet durch die Stadt. Schlängelt sich und krängt, sodass der Schaffner wankt und sich an den Sitzlehnen festhalten muss.
Als sie Stockholm hinter sich gelassen haben, kann Rebecka endlich entspannen. Sie lehnt sich an die Fensterscheibe. Die halbe Nacht hat sie wachgelegen und sich zwischen zerknautschten Laken gewälzt. Gegen vier hatte sie genug und setzte sich mit einer Tasse Tee in die Küche. Schaute in die Fenster anderer erleuchteter Wohnungen in der ansonsten einsamen Dunkelheit draußen.
Es fällt ihr schwer, nicht an die Konferenz gestern zu denken. Viele Jahre hat sie auf die Stelle als Senior-Managerin hingearbeitet. In den vielen frühen Morgen- und den späten Abendstunden im Büro ist es immer dieses Ziel gewesen, das sie vor Augen gehabt hat. Jedes Mal, wenn sie aufgrund der Arbeit Partys, Urlaube oder nette Einladungen zum Essen ausschlagen musste, hat sie gedacht, dass es sich eines Tages auszahlen würde, wenn sie erst die jüngste Senior-Managerin aller Zeiten bei Henning & Schusters würde. Und Birgitta, ihre Abteilungsleiterin, hatte ihr die Stelle versprochen, warum also wurde stattdessen Markus befördert?
Joar ist der Meinung, sie solle die Entscheidung anfechten, Rebecka weiß jedoch, dass es nichts nutzen würde. Ihr oberster Chef wird niemals eine Entscheidung rückgängig machen. Und seitdem sie einmal den Goodwill, also den Geschäfts- und Firmenwert eines ihrer größten Kunden, beanstandet hat, dessen Unternehmen in ihren Augen viel zu hoch angesetzt worden war, hat Boman sie auf dem Kieker. Rebecka fand, die Firma müsse eine Abschreibung machen, Boman entschied jedoch, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Erst im Nachhinein hat sie begriffen, dass er ihren Einwand als direkte Kritik an sich selbst verstanden haben muss.
Der Zug hat an Fahrt aufgenommen und rumpelt über die Schienen, Rebecka schaukelt auf ihrem Sitz hin und her. Weiter vorn beobachtet sie zwei Frauen. Sie sitzen einander gegenüber, die eine ist ungefähr in ihrem Alter und vermutlich die Tochter der anderen, und sie reden vertraulich miteinander, hin und wieder lachen sie auch.
Rebecka muss an ihre Mutter Camilla denken. Seit ihrem letzten Heimatbesuch vor vier Jahren haben sie sich nicht mehr gesehen, sondern nur noch telefoniert. Kurze, halbherzige Gespräche zu Weihnachten oder zu den Geburtstagen. Und jedes Mal ist es gleich schwierig gewesen. Es scheint, als hätten sie einander nichts zu sagen, als sprächen sie völlig unterschiedliche Sprachen. Ihre Telefonate sind knapp und angespannt und machen Rebecka schmerzhaft bewusst, wie tief der Graben zwischen ihnen ist.
Der weinrote Nagellack blättert, Rebecka knibbelt daran herum. Soll sie ihre Mutter anrufen? Wahrscheinlich weiß sie ohnehin längst, was passiert ist. Die Mitarbeiterin vom ambulanten Pflegedienst hat sich sicherlich auch bei ihr gemeldet. Bestimmt sehen sie sich im Krankenhaus. Denn wenn Oma im Krankenhaus liegt, wird sie sie ja wohl auch besuchen?
Eigentlich hat Rebecka sich immer regelmäßig bei ihrer Großmutter gemeldet, aber in den letzten Wochen hatte sie so viel mit einem wichtigen Projekt zu tun, dem nach der Firma des Kunden so genannten AT-Projekt, dass sie es nicht geschafft hat, und jetzt nagt das schlechte Gewissen an ihr. Ihre Großmutter war immer die Konstante in ihrem Leben gewesen, hatte immer ein offenes Ohr für sie gehabt. Da hätte sie selbst sich wenigstens die Zeit nehmen müssen, sie möglichst oft anzurufen.
Draußen vor dem Fenster zieht die Landschaft vorbei - Wiesen, Seen, von Industrie geprägte kleine Städte sowie einzelne Gehöfte. Rebecka greift nach ihrem Handy. Dann zögert sie. Die Krankenschwester, mit der sie gestern gesprochen hat, meinte, dass sie die Großmutter hätten operieren müssen, weil sie sich die Hand gebrochen hatte, und dass sie nun in der Aufwachstation liege. Da sie sehr angespannt geklungen hatte, hatte Rebecka nicht noch mal angerufen, um sie nicht unnötig zu stören. Ihre Großmutter war wahrscheinlich ohnehin zu geschwächt, um zu telefonieren, und so hatte sie die Schwester nur gebeten, ihr auszurichten, sie sei unterwegs. Das bereut sie jetzt. Sie möchte die vertraute Stimme ihrer Oma hören, sie braucht sie. Doch als sie jetzt die Nummer wählt, ist der Anschluss besetzt.
Gut fünf Stunden später ist Rebecka in Helsingborg. Im Hauptbahnhof nimmt sie die Rolltreppe und sieht den Bahnhof über sich aufragen. Alles sieht genauso aus wie bei ihrem letzten Besuch. Sie kommt beim Fährterminal heraus, die Kioske haben noch dieselben bunten Schilder und Süßwarenregale, und durch die große Fensterfront blickt man auf den Hafen.
Rebecka geht am Felshang Landborgen entlang zum Krankenhaus hinauf und folgt drinnen den Schildern zur orthopädischen Abteilung. Rote Türen, ein heller Fliesenboden, pastellfarbene Wände und ein Korb Schuhüberzieher für Regentage erwarten sie dort.
Rebecka schaudert. Sie hasst die Krankenhausatmosphäre. Bei dem Gedanken, hineingehen zu müssen, wird ihr physisch schlecht, dennoch gelingt es ihr, sich zu überwinden und einzutreten.
Im Wartezimmer steht ein Aquarium mit tropischen Fischen, die zwischen...
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