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Nathan Z. Kaminski floh nicht zum ersten Mal, gewiss nicht, doch es war nun schon eine ganze Weile nicht mehr notwendig gewesen. Seine Fluchtroutine war seit dem letzten Mal genauso eingerostet wie sein Deutsch, stellte er fest, als er an dem provisorisch aussehenden Gepäckband in Berlin Tegel stand und einer Frau in ungefähr seinem Alter, Mitte dreißig, vielleicht etwas jünger, dabei zuhörte, wie sie sich am Handy mit irgendwem stritt (in Wirklichkeit war Nathan gerade fünfundvierzig geworden, aber an guten Tagen fühlte er sich immer noch wie ein Dreißigjähriger. An schlechten Tagen wie heute dagegen musste er aufrichtig befürchten, seinem Alter zu entsprechen). Im selben Moment setzte sich das Gepäckband in Bewegung, er ging ein paar Schritte näher an die Frau heran, die Sohlen seiner teuren italienischen Schuhe leisteten ihm stillen Gehorsam.
»Angelika! Angelika?«
Ihr Gesprächspartner war ein Mann, seine Stimme war deutlich durch das Handy zu hören, das sie sich mit der Schulter ans Ohr drückte, um den Gürtel ihres weißen Sommermantels stramm zu ziehen und sich die Ärmel ein paar Mal glatt zu streichen. Neurotisch, dachte er, keine Frage.
»Angelika?«, sagte der Mann am anderen Ende noch einmal, und sie schüttelte heftig den Kopf.
»Du verstehst nicht«, sagte sie auf Deutsch.
Sie hatte Coco Mademoiselle aufgelegt, das indonesische Patschuli umgab sie mit einer schweren Schärfe, bei der Nathan an Schnittblumen denken musste, wenige Stunden, bevor die Blütenblätter abfallen.
»Du verstehst nicht«, wiederholte sie, dieses Mal lauter. Einige der umstehenden Geschäftsmänner schauten nun von ihren potenten Smartphones auf, mit denen sie E-Mails und Nachrichten abriefen, und warfen ihr diskrete Blicke zu, drehten die Geräte in ihren Händen, sodass die Flughafenbeleuchtung über die Displays tanzte, und Nathan schämte sich für sein Geschlecht. Es sollte sich mal jemand erbarmen und ihnen sagen, dass ihr Verhalten bei Frauen lediglich unvorteilhafte und zweifellos niederschmetternde Schlüsse auf ihre Schwanzgröße hervorrief. Deshalb besaß er auch ein hoffnungslos veraltetes, weinrotes Nokia aus einem Laden in der Nørrebrogade, der elektronischen Krimskrams und lose Schrauben verkaufte, und damit hatte er ein echtes Schnäppchen gemacht. Frauen lächelten wie vorprogrammiert, sobald sie es sahen. Selbst Angelika würde in kurzer Zeit ihr schönstes Lächeln aufsetzen, prognostizierte er. Im Moment jedoch zog sie die Augenbrauen noch fest zusammen, während der Mann am anderen Ende sie als hysterisch bezeichnete und sich darüber aufregte, dass sie ihm nicht antwortete.
»Was willst du damit sagen? Angelika?«
Einer Frau seine volle Aufmerksamkeit zu schenken hatte den Nachteil, dass jeder Schritt in ihre Richtung mit Enttäuschung verbunden war. Angelikas Gesicht fehlte es an Fixpunkten, sah er jetzt, auch wenn sie mit Kajal und Lippenstift versucht hatte, ein paar zu schaffen. Osteuropäerin, dachte er. Russin oder Polin, möglicherweise in der zweiten oder dritten Generation. Die offenen Flächen in ihrem Gesicht waren zu zweidimensional, als dass sie jemals mehr als ein vorübergehender Zeitvertreib für ihn sein konnte, und so gesehen passte sie ja perfekt in sein Leben. Letzteres dachte er mit Verbitterung.
»Bitte antworte mir!«, forderte die Stimme, woraufhin Angelika sich nur das Handy vom Ohr hielt, den Kopf drehte und ihn endlich sah. Ihr Blick blieb an seinem Mund haften, liebkoste seine Lippen. Alle Frauen gestanden ihm früher oder später, wenn sie vor ihm dahingeschmolzen waren, dass sie sich als Erstes in seinen Mund verguckt hätten. Und dann in die Augen, ihre Mandelform. Seit ein paar Jahren machte er keinen Hehl mehr daraus, dass alle anderen Frauen genau dasselbe gesagt hatten, wenn ihm dieses wohlbekannte Kompliment mal wieder auf dem Silbertablett serviert wurde. Veronica hatte nur die Augen verdreht und gefragt, ob er seine Silbertablettmetapher für so fucking brillant halte oder was. Veronica Lake. Von ihrer rauen Stimme konnte er nicht genug bekommen. Von der Verletzlichkeit darin, gleich unter der harten Oberfläche.
»Oh shut up«, seufzte Angelika in den Hörer. Ihr schwarzes Haar erinnerte an einen Werbespot für Glanz- und Volumenshampoo, das hatte es bereits im Flugzeug getan, wo sie ein paar Reihen vor ihm auf der anderen Seite des Mittelgangs gesessen und es sich unentwegt aus dem Gesicht gestrichen hatte. Die großen, weichen Locken fielen sofort wieder herunter, wenn sie die Hand herausnahm, und ihre Brüste unter dem kamelfarbenen Stricktop wirkten so fest, dass sie sicher keine Kinder hatte. Doch er war überzeugt davon, dass sie gern welche hätte, und zwar mit dem Richtigen, wie die Frauen immer ganz erwartungsvoll sagten, nachdem sie gerade mal ein paar Wochen mit ihm zusammen gewesen waren. Veronica war eine Ausnahme. Auf seine Frage, wann sie gern Kinder haben wolle, hatte sie nur laut gelacht und gesagt, sie könne gut darauf verzichten, monatelang wie ein gestrandeter Wal auszusehen.
»Hättest du da etwa Lust drauf, Nat?«, wollte sie wissen, woraufhin er sich genötigt sah, ihr einen wohlfundierten Vortrag zu halten. Er war nicht nur auf den Steinzeitmenschen und die Höhlenmalereien eingegangen, sondern auch auf die Natur der Frau und das ihr innewohnende Bedürfnis, das große Ganze zu verwirklichen, während sie in Taschen von Miu Miu und Seidenschals von Hermés schwelgte. Schließlich hatte Veronica die Augen geschlossen, ihre Kopfhörer aufgesetzt und ihm mitgeteilt, dass sie die nächsten vierundzwanzig Stunden PJ Harveys Is This Desire? zu hören gedenke. Er war sich immer noch unsicher, wie er das zu verstehen hatte, als Kapitulation oder als Geringschätzung seiner Ansichten.
Auch was Angelika betraf, war er sich unsicher, denn sie hatte ihn weder am SAS-Terminal in Kopenhagen noch im Flugzeug beachtet, obwohl er abwechselnd mit seiner International Herald Tribune geraschelt und mit den Eiswürfeln in seinem San Pellegrino geklimpert hatte. Unsicherheit hatte schon immer etwas Reizvolles für ihn, das musste er sich eingestehen, auch wenn er sich dadurch banaler vorkam, als ihm eigentlich lieb war. In Angelikas Fall hatte das Unsicherheitsmoment außerdem zweifellos Hoffnungen in ihm geweckt, die sie unmöglich erfüllen konnte, doch offenbar wollte sie es auf einen Versuch ankommen lassen. Sie betrachtete ihn aus den Augenwinkeln, verlagerte das Gewicht von einem hohen Absatz auf den anderen, sagte irgendetwas in den Hörer, das er nicht verstand, und spitzte leicht die Lippen, wie man es bei Frauen beobachten kann, die sich etwas zu lange aus zu vielen Winkeln und aus den Augen etwas zu vieler Männer anstatt ihrer eigenen im Spiegel betrachtet haben. Ihr taten die Füße weh, das sah er an der Art und Weise, wie sie die Beine überkreuzte. Jahrelang hatte er geglaubt, so stünden Frauen da, die zur Toilette müssen.
Im selben Moment kam ihr Koffer auf dem Gepäckband vorbei (ein Louis Vuitton, du meine Güte), und er trat näher heran, fasste um den Griff und bugsierte ihr den Koloss vor die Füße. Einen Augenblick interessierte ihn das dumpfe Geräusch, mit dem das Ungetüm auf dem Boden aufkam, mehr als sie, aber vermutlich gab es irgendeine langweilige Erklärung für das Gewicht des Koffers. Ihr Lächeln war überraschend schön.
»Oh, thank you.«
Zum Glück hatte das Ding Rollen. Dann brauchte er sich nicht unnötig damit abzuschleppen, wenn sie gleich gemeinsam zum Taxi gingen, denn das würden sie tun, darauf würde er alles verwetten. Sie trat ans Gepäckband und griff nach einer kleineren Reisetasche, die genau zum Koffer passte. Mit einem klirrenden Geräusch kam die Tasche auf dem Boden auf.
»Sie sind herzlich eingeladen«, sagte er so lässig er konnte, während der Mann am Telefon irgendetwas rief, das Nathan nicht verstand. Es klang eindeutig nach Fluchen. Angelika schüttelte leicht den Kopf.
»Pardon?«
»Sie sind herzlich eingeladen«, versuchte er es noch einmal. Die deutschen Worte waren wie Kieselsteine in seinem Mund, doch er konnte immer noch sein angedeutetes Lächeln aufsetzen, das Frauen seit Jahren glauben machte, er trage einen großen Kummer im Herzen. Eine seiner Stärken war seit jeher seine Fähigkeit, in allen Sprachen der Welt galant zu sein. Ein eres hermosa hier und ein vous êtes si belle da. Er mochte es, wenn er sich so gab. Vor allem wenn wie jetzt lauter Männer in teuren Anzügen in der Nähe standen und die Szene genau verfolgten, auch wenn sie so taten, als würden sie Onlinezeitungen lesen. Selbst ihnen musste wohl klar sein, dass der Punktestand auf seiner Anzeigetafel in die Höhe schoss, während ihr eigener sich langsam aber sicher dem absoluten Nullpunkt näherte. Angelikas volle Lippen öffneten sich, sodass ihre wohlpolierte Zahnreihe zu erahnen war. Als Kind hatte sie sicher eine hässliche Zahnspange mit Nackenband getragen. Wie Nathan selbst im Übrigen auch.
»Thank you so much. That was really kind of you.«
Es irritierte ihn, dass sie weiter Englisch mit ihm sprach, auch wenn er auf keinen Fall wie ein Deutscher erscheinen wollte, mit Wienerschnitzeln und Gesundheitslatschen und allem, was dazugehörte. Jetzt beendete sie den Anruf, ohne sich von dem Mann am anderen Ende zu verabschieden, was er auch nicht zu verdienen schien, klappte das Handy zu und ließ es in ihre Handtasche fallen, eine graue Balenciaga. Die gleiche Tasche hatte er Veronica geschenkt, nachdem er ein halbes Jahr mit ihr zusammen gewesen war. Sie...
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