Schweitzer Fachinformationen
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»Frau Funke, wir wissen, was Kira und Sie in den letzten Monaten durchgemacht haben. Unsere Schulpsychologin hat mehrfach versucht, mit Kira darüber zu sprechen. Doch vergeblich. Sie lässt niemanden an sich ran. Auch ihre beste Freundin Anne weiß sich keinen Rat mehr. Aber das wissen Sie ja, Frau Funke.«
Der Direktor des Schulzentrums Bördestraße hob hilflos die Hände. »Kira war eine unserer besten Schülerinnen, und jetzt, Frau Funke …«
Annette Funke zuckte bei jedem Satz des Direktors wie von einer unsichtbaren Hand geschlagen zusammen.
»Herr Ehrhardt …«, Annette rang nach den Worten, die der Direktor wahrscheinlich gerne von ihr hören wollte. Dass Kira sich wieder fangen würde, das Leben ihrer Tochter bald wieder in normalen Bahnen verlaufen würde, ihre Noten sich bald verbesserten, Kira wieder Freude am Geigenunterricht hätte und sie wieder das fröhliche Mädchen sein würde, das sie 16 Jahre lang gewesen war. Aber Annette Funke wusste, das alles war eine einzige große Lüge.
Kira hatte sich nach dem Tod ihres Vaters und ihres geliebten Bruders Ben in sich selbst zurückgezogen. Während sie, Annette, sich verstärkt in ihre Arbeit gestürzt hatte, hatte sie Kira allein gelassen. Erst vor drei Jahren war sie wieder in ihren alten Beruf als Hotelfachfrau zurückgekehrt, war glücklich gewesen, so schnell wieder Fuß fassen zu können. Sie war erfolgreich, hatte in der kurzen Zeit eine Vertrauensstellung inne und war für die Planung des gesamten Personaleinsatzes zuständig.
Natürlich war ihr nicht entgangen, dass Kiras schulische Leistungen immer dürftiger wurden, sie nur noch lustlos ihre Geige aus dem Koffer holte, bis sie eines Tages den Kasten überhaupt nicht mehr öffnete, und Annette sich gezwungen sah, den Unterricht bei Frau Stelljes aufzugeben. Es war ihr auch nicht verborgen geblieben, dass Kira nur noch wie ein Spatz aß.
In den ersten Wochen nach Bens Tod hatte sie das Essverhalten noch auf die tiefe Trauer geschoben, doch jetzt musste sie einsehen, dass Kira offenkundig unter Magersucht litt. Dreimal bereits hatte sie mit ihrer Tochter einen Termin im Gesprächskreis für essgestörte Jugendliche und deren Eltern vereinbart, dreimal hatte Kira sie alleine vor der Tür stehen lassen. Auch weigerte sich Kira standhaft, mit ihrer Mutter zur Kinder- und Jugendärztin zu gehen.
Wie zu Kinderzeiten hatte Annette Kira kleine Botschaften auf bunten Zetteln auf dem Küchentisch hinterlassen. Früher gab es die Pass-auf-dich-auf-Zettel, die Denk-an-was-auch-immer-Zettel, die Sei-so-lieb-und-erledige-dies-und-das-Zettel oder auch die Mutmach-Zettel vor einer schwierigen Klassenarbeit oder einfach nur dafür, aus ihrer Tochter ein selbstbewusstes und selbstbestimmtes Wesen zu machen. Heute gab es nur noch die Mutmach-Zettel. Doch sie blieben ungelesen, zumindest unbeantwortet.
Meist fand Annette die Zettel auf dem Küchentisch genauso vor, wie sie sie hingelegt hatte. Die Marzipanpraline, die sie immer auf die Ecke legte, damit der Zettel nicht davonflog, blieb unberührt.
Anfangs hatte sie versucht, Kira mit ihren Lieblingsgerichten zu ködern. Kira hatte immer einen deftigen Geschmack gehabt. Eintöpfe jeder Art, Rouladen mit Klößen, panierte Koteletts mit Bratkartoffeln. Jetzt schob ihre Tochter das Essen angewidert zurück. Um Annette einen Gefallen zu tun, pickte sie ab und zu mit der Gabel ein Häppchen auf, schob es in den Mund, um es Minuten später wieder in die Kloschüssel zu befördern. Annette hatte ihr dann irgendwann eine Art Astronautennahrung besorgt, kalorienreich und mit einem hohen Eiweißanteil. Nur diesen Fläschchen war es zu verdanken, dass Kira noch nicht zusammengebrochen war.
Ihre wunderschöne, lebenslustige Tochter hatte sich in ein Gespenst verwandelt. Sie hatte Anne darauf angesprochen. Doch Anne hatte gemeint, sie solle sich nicht so sorgen, es gäbe Mädchen an der Schule, die seien noch dünner, Kira wäre doch noch ganz in Ordnung mit dieser Figur. Annette hatte die Tatsache, dass andere Mädchen noch gestörter waren als ihre eigene Tochter, nicht wirklich beruhigt, und sie hatte schon überlegt, ob sie mit Kira wegziehen und irgendwo ganz neu beginnen sollte. Doch alleine bei diesem Gedanken war Kiras frühere Aufmüpfigkeit wieder entfacht worden. Nie, niemals würde sie das Haus, in dem sie auch einmal glücklich gewesen war, verlassen.
»Frau Funke, daher bin ich wirklich der Auffassung, es wäre nur in Kiras Interesse, wenn Sie einen Jugendpsychologen hinzuziehen würden. Ich habe Ihnen bereits die Telefonnummer von Frau Strittmaker aufgeschrieben, sie gehört zu den Besten ihrer Zunft. Machen Sie bitte so bald wie möglich einen Termin mit ihr aus.«
Geistesabwesend nahm Annette Funke den gelben Notizzettel entgegen und steckte ihn in ihre Manteltasche. Sie hatte Direktor Ehrhardt am Ende nicht mehr zugehört, wusste sie doch selbst am besten, wie es um ihre Tochter stand, und dass professionelle Hilfe dringend notwendig war. Aber sie konnte ihr Kind doch nicht an den Haaren zur Psychologin schleppen. Bis heute hatte sich Kira jedem Gespräch verweigert, und so wie sie ihre Tochter kannte, würde sie mit Druck überhaupt nichts erreichen.
Mit großen Augen starrte ein riesiger ausgestopfter Uhu auf sie herab. Er krönte den altehrwürdigen Bibliotheksschrank, der die gesamte Wand hinter dem Schreibtisch des Direktors einnahm. Irgendwie fühlte sich Annette in diesem Ambiente in die Feuerzangenbowle mit Heinz Rühmann versetzt. Sie starrte zurück, die weit aufgerissenen Augen des Uhus erinnerten an die Augen Kiras, die ihr in dem immer schmaler werdenden Gesicht mittlerweile riesig erschienen.
Ehrhardt war aufgestanden, nickte ihr aufmunternd zu, doch sie konnte auch die Besorgnis in seinem Gesicht erkennen. Annette musste sich auf beide Lehnen des Besuchersessels stützen, um überhaupt die Kraft zu finden, ebenfalls aufzustehen. Sie hielt dem Schuldirektor die Hand hin. Annette Funke war so erschöpft, dass diese einfache Geste des sich Verabschiedens von ihr die größte Mühe und Konzentration erforderte.
Sie ging den Flur am Schwarzen Brett der Schule entlang. Der Hinweis auf das in 14 Tagen stattfindende Schulkonzert sprang ihr ins Auge. Seit Jahren war Kira ein unverzichtbarer Bestandteil dieses Konzerts gewesen, hatte vor zwei Jahren erstmals einen Soloauftritt mit ihrer Geige gehabt. Durch wen man sie wohl jetzt ersetzt hatte? Müde schlurfte sie den Flur entlang. Bildete sie es sich nur ein, weil man es immer wieder in Romanen las, oder roch der Gang tatsächlich intensiv nach Bohnerwachs und Schulmief? Aus einem der Klassenräume drang ein dumpfes Geräusch, als wäre ein Stuhl umgefallen. Es war Nachmittag, und nur in wenigen Räumen fand Unterricht statt. Vor allem die Klassen, die kurz vor dem Abitur standen, hielten sich jetzt noch in der Schule auf.
Annette hielt sich mit der linken Hand am Geländer fest, als sie die breite Treppe ins Erdgeschoss hinunterging. Ihr war schwindlig. Plötzlich stand sie vor den Fahrradständern der Schule. Hatte sie überhaupt etwas zum Abschied gesagt? Hatte sie sich für Ehrhardts Interesse am Wohlergehen ihrer Tochter bedankt? Sie konnte sich nicht erinnern. Ihre Finger fühlten sich taub an, als sie den Schlüssel ins Fahrradschloss steckte und drehte. Wie eine alte Frau bestieg sie den Sattel, trat mit wackeligen Beinen in die Pedale.
Sie würde versuchen, heute noch einmal vernünftig mit Kira zu sprechen. Vielleicht mit ihr für die Sommerferien eine Reise planen. Egal wohin, Hauptsache weg von zu Hause. Bei dem Gedanken an das abweisende Gesicht ihrer Tochter, an die abwehrende, fast feindselige Haltung ihr gegenüber, verließ Annette der letzte Mut. Kurz entschlossen stoppte sie, wechselte die Straßenseite und fuhr in die Gegenrichtung. Bloß nicht nach Hause, dort würde sie verrückt werden, sie musste unter Leute. Fast schämte sie sich bei dem Gedanken, wie sehr sie sich auf ihre Schicht im Hotel freute. Wenn Kira zu Hause war, dann in ihrem Zimmer, abgeschlossen in ihrer eigenen Welt. Sie, Annette, käme nicht hinein, weder ins Zimmer noch in die Gedankenwelt ihrer Tochter.
Vor der erstbesten kleinen Kneipe hielt sie an, schloss gewissenhaft das Rad ab. Sie setzte sich an einen Tisch am Fenster, bestellte ein Glas Rotwein. Wann hatte sie zum letzten Mal am frühen Nachmittag Alkohol getrunken? Heute hatte sie das Gefühl, sie hätte ihn noch nie so dringend gebraucht wie jetzt. Wohl wissend, dass der Rotwein ihre Sorgen auch nicht von ihr nehmen würde. Der Bardolino war gut temperiert und rann angenehm die Kehle hinunter. Sie dachte an ihren Mann und an das vergangene Jahr.
Mit ihrem Mann Peer hatte sie zwei, drei Mal in der Woche einen guten Wein getrunken. Sie hatte den Roten bevorzugt, Peer war ein durch nichts zu erschütternder Rieslingfan gewesen. Gerne hätte Annette sich jetzt eine Zigarette angezündet. Aber sie hatte das Rauchen aufgegeben, als Kira unterwegs war. Vier Jahre später war Ben zur Welt gekommen, und sie hatte sich erstmals wieder ein Päckchen Zigaretten gegönnt. Warum auch immer. Wenigstens eine rauchen, auf der Terrasse, wenn die Kinder im Bett waren. Aber schon die erste Zigarette hatte ihr nicht geschmeckt. Damit war für sie das Thema erledigt gewesen.
Acht Jahre nach der Geburt ihres Sohnes diagnostizierten die Ärzte bei Ben Leukämie. Akute lymphatische Leukämie. Nach der erschütternden Erstdiagnose folgten Wochen auf der kinderonkologischen Station, wo Ben eine intensive chemotherapeutische Behandlung erhielt. Annette verbrachte fast mehr Zeit in der Klinik als...
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