Schweitzer Fachinformationen
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»Was hast du gesagt, wie alt du bist?« Dr. Stevens blickte über seine Halbbrille hinweg.
Sie richtete sich auf und straffte die Schultern. »Achtzehn.«
Sie trug Mays Sonntagskleid, aus grauem Voile mit züchtigen Falten auf der Vorderseite, ein Frauenkleid. Es hing so lose an ihr, dass sie sich vorkam wie ein kleines Mädchen, das sich mit den Sachen der Mutter verkleidet hat. Sie blickte auf ihre dünnen Arme, die von der künstlichen Sonne fleckig waren, und versteckte sie schnell hinterm Rücken.
»Ich erinnere mich an den Tag deiner Geburt«, sagte er.
Ihr stockte der Atem. Erinnerte er sich auch an das Jahr? Würde er nachrechnen und feststellen, dass sie drei Jahre draufgeschlagen hatte?
Er klopfte die Pfeife im Aschenbecker aus, ein langsames, stetes Pochen. »Tut mir leid, das mit deiner Mutter«, sagte er schließlich.
Es war genau 5 Uhr 33 am 28. Juni im fünften Jahr des neuen Jahrhunderts - des zwanzigsten Jahrhunderts, das damals noch neu war -, als sie den Kopf aus dem Körper ihrer Mutter zwängte.
Die Lieblingsgeschichte ihres Papas.
Als wäre sie noch nicht bereit, sich ganz auf die Welt zu begeben, verharrte sie. Ihre Augenlider, ihr Mund und ihre Stirn arbeiteten krampfhaft, ihr glattes Gesicht verzog sich zu einer Unmutsmiene, einer Grimasse, einem großäugigen Ausdruck der Überraschung. Dann entspannten sich die Muskeln, und die Lider senkten sich resigniert.
»Hallo!«
Ihre Lider flatterten. Ihr Gesicht war zur Seite gedreht, sodass ihr Vater seinen Strubbelkopf zwischen die Beine seiner geliebten Frau stecken musste, um es richtig sehen zu können. Über den Kopf dieses halb drinnen, halb draußen befindlichen Kindes gebeugt, sah er ihm fest in die Augen, und zwischen ihnen entstand eine solche Verbindung, dass sich ihm die Härchen auf dem Rücken, im Nacken und an den Unterarmen aufstellten.
Dann verlor ihr Blick die Richtung, als wollte sie sich tieferen Gedanken zuwenden, und ihre Lider fielen zu.
»Hallo!«, rief er, lauter jetzt, und wieder schlug sie die Augen auf. Ihr Blick war zögernd. Erwartungsvoll. Neugierig. Entschlossen. Zu allem bereit. Ein Ausdruck, den ihr Vater nicht eindeutig bestimmen konnte, so genau er ihre gefurchte Stirn, die faltige Haut um ihre Lippen auch musterte.
Er sah zur Uhr auf dem Kaminsims. Zwanzig Sekunden. Fünfundzwanzig. Dreißig. Zeit genug für jeden Tropfen Blut in ihrem winzigen Körper, sechzig Mal oder öfter auf seinem Weg vorwärtsgetrieben zu werden. Für den Schall seines dritten »Hallo!«, durchs Fenster zu bersten, über die sommerfahlen Felder und durch den Waldstreifen zu fliegen, am Ufer der Insel zu einem Flüstern zu werden und ins Wasser zu gleiten, ohne es zu kräuseln.
Dreißig Sekunden, so lange - das wusste ihr Vater, weil er den wissenschaftlichen Bericht gelesen hatte - blieb ein Guillotinierter nach dem Abtrennen des Kopfes noch bei Bewusstsein. Zeit genug, um in den unendlichen Kammern des Geistes noch einmal die ganze Fülle an Freud und Leid zu durchleben, die schlimmen Enttäuschungen und die raren, verblüffenden Glücksfälle.
Zeit genug für das Leben eines Guillotinierten, um zu verlöschen, und für das eines Neugeborenen, um zu beginnen.
Ihr Vater notierte jeden Schritt ihrer Geburt ganz genau. Der Durchtritt des Kopfes wie das Aufbrechen einer Blüte. Die Seitwärtsdrehung des Gesichts, um die Rotation der Schultern im mütterlichen Becken zu bewirken. Dieser erschreckende Stillstand. Dann, in einem Rutsch: Rumpf, Arme, Zehen, ein lautes Luftschnappen und ein Schrei, und da war sie, in einem Schwall von Blut und Fruchtblasenhaut.
Es war nicht die erste Geburt, die ihr Vater miterlebte - er hatte schon acht Töchter -, aber seine Aufmerksamkeit wurde durch das Wissen geschärft, dass es die letzte sein konnte.
Der gute Dr. Stevens, der in aller Eile gekommen war, untersuchte das Kind auf der Bettdecke.
»Noch ein Mädchen, und ein schwächliches dazu«, sagte er und sah ihren Vater streng an, während er seinen Mantel wieder anzog, denn eine schwierige Kalbung stand als Nächstes auf der Liste der anstehenden Dinge. »Wenn Ihnen Ihre Frau etwas bedeutet, Sir, lassen Sie Ihren Hosenstall lieber zu.«
Eine Geschichte, zusammengestückelt aus dem, was ihr Papa erzählte, und der bitteren Erinnerung ihrer Schwester May, die zu dem Zeitpunkt gerade mal fünf war und zur Tür hereinlinste.
Die Sonne löste sich vom Horizont und driftete hinauf in das weite Blau. Ihr Vater nahm das zappelnde kleine Etwas in seine großen, sommersprossigen Hände und hielt es ans hochgeschobene Fenster, wo Vogelsang hereinkam. Er hob es hoch, bis ihre Köpfe auf gleicher Höhe waren, dann noch höher, bis der See ein silbernes Blinken hinter gedämpftem Grün war.
»Cass«, sagte ihr Vater zu dem Baby, das in seinen Händen ruhig geworden war. »Cass, schau.«
Papa, der es aufgegeben hatte, einen Sohn zu zeugen, ignorierte die sichtbaren Tatsachen - deren offenkundigste das Nichtvorhandensein eines Penis war - und behandelte sie, als wäre sie ein Junge. Er nannte sie zeit seines Lebens Cass, manchmal auch Cassidy, aber nie Cassandra. Den Namen hatte ihre Mutter in einem Anfall von Trübsinn für sie ausgesucht, wohl in der düsteren Vorahnung, dass dieses Kind ihr Tod sein würde. Sie starb tatsächlich, noch ehe es abgestillt war.
»Du hast unsere Mutter umgebracht«, zischten ihre Schwestern, keine so erbittert wie May.
Sie interessierte sich nicht für die Porzellankopfpuppen, die sie von ihren Schwestern erbte. Stattdessen spielte sie am Brennholzkasten, baute aus den Spänen Unterstände und Schutzhütten. Die Teigklümpchen, die ihre Tanten vor sie hinlegten, formte sie zu Fantasiewesen, deren Gliedmaßen immerhin einigermaßen vertraut angeordnet waren.
Auf der Farm war sie furchtlos. Sie jagte Schweine aus dem Mais, noch bevor sie über ihre getüpfelten Rücken sehen konnte, trieb sich an den kalten Herbsttagen, wenn geschlachtet wurde, bei der Scheune herum und stocherte mit einer Weidenrute in den dampfenden Innereien. Von den neun Schwestern war sie diejenige, die ihr Vater heranzog, um den Kopf eines Lamms ruhig zu halten, dem Tier in die Augen zu schauen, das Maul fest umfasst, während er die Beule aufschnitt, das Madenknäuel herausdrückte und die Wunde mit einem heißen Messer säuberte.
»Ich will's sehen, zeig's mir!«
Dann lächelte Papa und legte das herausgeschnittene faulende Fleisch, das amputierte Glied, die grindige Kruste auf dem Boden aus, damit sie sie zusammen inspizieren konnten.
»Immer du«, sagte May scharf. »Seit Mutter tot ist, interessiert er sich nur für dich.«
Die Tanten, die reihum den Haushalt versorgten, verboten ihrem Vater die Experimente. Also verkniff er es sich, mit einer Feder über ihre Säuglingsaugen zu streichen, um herauszufinden, in welchem Alter die Tränenbildung einsetzte, oder mit einem Kasten voll glühender Kohlen vor ihrem Gesicht zu rasseln, um festzustellen, wann genau sie blinzelte. Er hielt sich stattdessen an systematische Beobachtung, maß die Länge ihrer Schreianfälle mit der Stoppuhr, beschrieb in seinen Notizen die Rötung der Augen, die Wiederkehr der normalen Blässe um den Mund herum.
Doch bald schon war sie alt genug, um selbst einzuwilligen, und es konnte nun zu jeder Tages- oder Nachtzeit passieren, dass sie vor Schreck einen Luftsprung machte, weil ein zusammengerolltes Seil plötzlich zum Leben erwachte, womit ihr Vater sich und ihr bewies, dass die Schreckreaktion teils auf der Lebhaftigkeit der Fantasie, teils auf Gewohnheit, teils aber auch auf der Konstitution der Nerven beruhte. Wenn sie mit irgendeiner Kinderkrankheit im Bett lag, konnte er noch so unerwartet hervorspringen oder die Töpfe noch so raffiniert zum Klappern bringen - es gelang ihm nicht, die geweiteten Augen und hochgezogenen Brauen, den zu einem jähen »Oh!« gerundeten Mund hervorzurufen.
»Noch mal!«
»Gut, aber was wollen wir untersuchen?«
»Wie hoch ich springe! Wir machen Striche an der Wand. Oder spannen Schnüre durch die Diele! Wir .«
Papa legte ihr dann sanft die Hand auf den Kopf und kämmte ihr mit den Fingern durchs Haar. »Ich sag's dir, Cass. Du wirst mal ein großer Wissenschaftler.«
Dass sie sich so wenig für Bücher interessierte, war ihrem Vater ein Rätsel. Er war ein Bücherwurm wie bereits sein Vater, Reverend Thomas MacCallum, der in Edinburgh ein Studienfreund von Charles Darwin gewesen war, ehe er auf eine kleine Landpfarrei in der kanadischen Wildnis berufen wurde. In der Familienbibel der MacCallums, zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, steckte immer noch die Liste der Fragen, die der große Mann denjenigen seiner Korrespondenzpartner geschickt hatte, die sich der genauen Beobachtung widmeten:
Wird das Erstaunen dadurch ausgedrückt, dass die Augenbrauen in die Höhe gezogen werden?
Kann Schuld oder Schlauheit im Ausdrucke erkannt werden?
Erregt die Scham ein Erröten?
Sie stand neben ihrem Vater, als er endlich die Seiten des Buchs aufschnitt, das Darwin geschickt hatte, Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren. Sie beugte sich mit ihm über die unverständlichen Worte, malte auf den leeren Seiten, während ihr Vater ein dünnes schwarzes Notizbuch nach dem anderen füllte. Sobald er ein Laborinstrument in die Hand nahm, war sie da, stieg auf eine alte Butterkiste, reichte ihm einen Haken oder ein Messer, ein bisschen...
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