Schweitzer Fachinformationen
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Dies ist die Geschichte eines unscheinbaren Hauses und seiner bunt zusammengewürfelten Bewohnerschaft. Ohne Krieg, Flucht, Vertreibung, Suche und Neubeginn wären sich viele der hier zusammentreffenden Menschen nie begegnet. Auch manche Liebschaft wäre nicht entstanden, und eine ganze Reihe Kinder wäre nie geboren worden. Aus diesem Grund ist dies auch ein Teil meiner Geschichte. Sie erzählt Momente meiner Kindheit und lässt markante Charaktere der aus Schwaben und Flüchtlingen bestehenden Familienzweige sichtbar werden.
Es ist die Zeit, in der ich vieles bereits wahrnehmen, spüren und erfahren konnte, manches in mich aufsog wie ein Schwamm, ohne freilich alles zu verstehen oder richtig zu deuten.
Der aus Richtung Gaildorf kommende Durchgangsverkehr floss damals noch durch den ersten Zipfel der Fornsbacher Straße und bog in einer gleichermaßen scharfen wie engen Rechtskurve in die Hauptstraße ein, die einige Jahre zuvor Adolf-Hitler-Straße geheißen hatte. Die starke Zunahme des Verkehrs und die wachsende Zahl ausladender Fahrzeuge machten die Durchfahrt zu einer Angelegenheit, die abenteuerlich war und häufig unvermeidlich zu einem Unglück führte. Wenn sich tagsüber ein Langholzfahrzeug mit einer frischen Holzladung näherte, sprangen wir Kinder herbei, um sensationslüstern zu schauen, ob wieder etwas passierte. Erwachsene verweilten ebenso neugierig, sofern sie Muße hatten. Aus dem Anwesen, das keineswegs nur im übertragenen Sinne immer wieder Stein des Anstoßes wurde, trat dann auch der Bäckermeister aus der Tür. Neben ihm lugte der Kopf seines Gesellen Ernst Hudelmaier hervor. Meist nutzte er die Gelegenheit, sich rasch eine Zigarette anzuzünden.
Wenn ich zu ihm in die Backstube kam, durfte ich gelegentlich süße Reste auskratzen. Später ließ er mich heimlich rauchen.
Die Kurve wurde aufs Unvorteilhafteste von der Bäckerei verstellt, die damals gleich gegenüber dem Kronenladen stand, den manche noch immer das Banzhaf 'sche Haus oder Bei 's Banzhafa nannten, nach dem Besitzer, der bis Mitte der Dreißigerjahre ein gemischtes Warengeschäft betrieb und nebenbei auch noch als Orts- und Steuerbeamter wirkte. In meiner frühen Kindheit hieß die Bäckerei noch Kinzers Bäck. Nachdem der Bäckerssohn kurz nach dem Vater gestorben war, wurde das Haus verkauft. Die Backstube beließ man im alten Zustand. Vorne war jetzt nicht mehr nur ein Brotverkauf. Im neuen VIVO gab es neben Brot auch andere Lebensmittel. Bäcker Scholz war eingezogen, dessen Tochter mit mir die letzte Grundschulklasse besuchte.
Im Jahr zuvor waren wir Grundschüler noch in dem heruntergekommenen Grabenschulhaus untergebracht gewesen. Unsere neue Lehrerin hatten wir mit Fräulein Ende anzusprechen. Deren Pädagogik wurzelte tief in ihrer Vergangenheit, ihrer bis ans Lebensende ungebrochenen nationalsozialistischen Gesinnung. Ein Jahr später waren wir die Ersten, die ein Schuljahr lang im neu unterhalb des Stadtgartens errichteten Atriumbau unterrichtet wurden. Die vierte Klasse durfte ich beim Lehrer Frank verbringen. Die Zeit bei ihm - auch er ein Flüchtling - war die schönste meiner gesamten Schulzeit. Er war der Erste, der mir das Gefühl vermittelte, dass ich Fähigkeiten besaß, dass etwas in mir steckte.
Um das Tohuwabohu bei der Kurvenfahrt von Langholzfahrzeugen und Schwertransportern an dieser neuralgischen Stelle verfolgen zu können, musste Schuhmacher Wohlfahrt nicht eigens auf die Straße hinaustreten. Er saß im Haus schräg gegenüber im ersten Stock vor einem großen Fenster auf seinem eigens erhöhten Arbeitsplatz, von dem aus wenigstens zwei Generationen Schuhmacher das historische Germaniaeck vollständig überblicken konnten. Wenn sich in Blickrichtung Kino oder Linde etwas ereignete, was für ihn von Interesse war, reichte es aber nicht, neugierig den Hals zu recken. Nun musste auch er sich bequemen, von seinem Podest herunterzusteigen. Der darauf eingerichtete Arbeitsplatz des Schuhmachers war das Herzstück von Werkstatt und Laden.
Es gehörte zum Kindsein in der damaligen Zeit, dass man, etwa weil es draußen regnete oder kein anderer zum Spielen auftauchte, in diese oder jene Werkstatt hineinhuschte und eine Zeit lang den Handwerkern zuschaute, die meist schweigend ihre Arbeit verrichteten. Meister Wohlfahrt hatte freie Sicht auf die ersten Häuser der Fornsbacher Straße und auf alles, was sich zu seiner Linken abspielte. Damals überwog noch eine gänzlich andere Bebauung und Nutzung dieses Areals. Auf die wie ein Korken in den Flaschenhals der Straßenführung hineinragende Bäckerei habe ich bereits verweisen. Daran schloss, das erste Haus der Riesbergstraße bildend, ein später abgerissener Fachwerkbau an. In meinen Kindertagen wohnte darin der Altmetallhändler Sahm. Einige Jahre später befand sich dort auch die Zahnarztpraxis Nittel-Feldmann. Bei der Behandlung strichen den Patienten Katzen um die Füße. Das einst stattliche Fachwerkhaus war, wie viele andere auch, in den Sechzigerjahren auf scheußliche Weise mit grauem Eternit verkleidet worden. Die gegenüberliegende Wohlfahrt'sche Schuhmacherei beherbergte in früheren Zeiten das Gasthaus Germania. Die Außentreppe zu den Schankräumen war schon in früheren Jahren abgerissen worden.
Auf der Verlängerung der Fornsbacher Straße liegt heute die Einmündung der Gartenstraße, die in den Achtzigerjahren im Zuge des städtebaulichen Projekts Gartenstraßendurchbruch entstand. Die eng stehende Bebauung bildete einstmals den überschaubaren Platz am Oberen Tor. An die Bäckerei schloss das Geschäft des Elektrikers Horn an. Der ruhige Mann war eine Zeit lang unser wichtigster Händler für Märklin-Eisenbahnen und alle weiteren benötigten Elektroteile. Ganz ins Eck gedrängt befand sich die Küferei Stecher, an die sich ältere Murrhardter noch Jahrzehnte nach deren Schließung unter dem volksmundigen Namen Hobelbank-Bar erinnern können. Der findige Küfer machte der örtlichen Gastronomie durch einen regen Schwarzausschank Konkurrenz. Mehrere Generationen betrieben im Nachbarhaus die Schreinerei Pfund. Sie gehörte zu den Orten, an denen ich bei schlechtem Wetter als stiller Gast und Betrachter handwerklicher Arbeit Duldung fand.
Im mittlerweile abgerissenen Eckhaus Brunnengasse 1 befand sich die Altvater-Drogerie. Der Drogist Ernst Tobias war einer der zahlreichen Flüchtlinge, die es nach Murrhardt verschlagen hatte. Er stammte aus dem Altvater-Gebirge, das sich am östlichen Rand der Sudeten über Teile Niederschlesiens und Nordmährens erstreckt und heute auf polnischem und tschechischem Territorium liegt. Die Wintersportbegeisterten des schlesischen Bäderviertels, zu denen auch mein Vater gehörte, unternahmen vor dem Zweiten Weltkrieg dorthin gelegentlich Ski-Ausflüge. Tobias hatte sein neues Geschäft nach seiner alten Heimat benannt. Betrat man die Drogerie, so befand man sich in engen, niedrigen Räumen, in denen jeder Quadratzentimeter mit Drogerieartikeln zugestellt war.
Für die Mutter und die Großmutter hatte ich dort regelmäßig kleine Besorgungen zu machen. So auch an jenem Tag, als ich auf dem Weg zur Drogerie auf dem winzigen, leicht abschüssigen Vorplatz des Hauses einen laubfroschgrünen Messerschmitt-Kabinenroller stehen sah, den Spötter als den Düsenjäger des kleinen Mannes belachten. Der Kleinwagen besaß eine Plexiglashaube, die zum Einsteigen über ein Scharnier nach rechts übergekippt werden musste. Der Fahrer und eine weitere Person saßen hintereinander. Das Gefährt wurde mit einem Motorradlenker gesteuert. Kindlicher Übermut brachte mich an diesem Nachmittag auf den Gedanken, dass ich kräftig genug sein müsse, den Kleinwagen anzuschieben. Das Gefährt war überraschend leicht zu bewegen und rollte auf dem sanften Gefälle in Richtung Hauptstraße. Erschrocken zerrte ich an dem Gepäckgitter, das am kurzen Heck angebracht war. Aber was ich angeschoben hatte, war von mir nicht zu halten. Wohl auf die drohende Gefahr aufmerksam geworden, kam der Besitzer aus der Drogerie gerannt und brachte das Gefährt zum Stehen. Er hatte vergessen, die Handbremse anzuziehen, weshalb sein Tadel milde ausfiel.
Vor dem engen Durchgang zum Hinterhof meiner Großeltern gelangte man zur Milchzentrale, einer Zweigstelle der Murrhardter Molkerei, die sich in der Karlsstraße befand. Wer es sich leisten konnte, holte sich für 10 oder 20 Pfennig eine Waffeltüte mit Schlagsahne. Gleich daneben war die Kronenmetzgerei, damals noch mit Schlachterei im hinteren Gebäudeteil. Am Schlachttag lief das abgespülte Blut in dicken Strömen in die Kandel. Wir Kinder sahen vom Hof der Großeltern aus mit großer Selbstverständlichkeit dem Schlachtbetrieb zu. Wenn wir zu naseweis durch das Fliegengitter gafften, spritzte ein Metzger uns mit dem Wasserschlauch nass.
Die früher zugehörige Wirtschaft war längst aufgegeben...
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