Schweitzer Fachinformationen
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Eins
Dicke, nass-schwere Schneeflocken segelten vom grauen Dezemberhimmel vorbei an Jacques Leblancs Fenster. Der Kommissar stand an der Balkontür seiner Wohnung und sah missmutig den Kapriolen des normannischen Wetters zu. Wenn er eins nicht ausstehen konnte, war es Schnee. Gleich danach auf der Skala seiner Abneigungen kam Weihnachten, und das rückte unaufhaltsam näher. Immer früher begann dieses grauenhafte Weihnachtszubehör in den Läden zu erscheinen, Schokolade in Form von Glocken oder Tannenzapfen, blinkende Lichterketten, Sterne, Kugeln und Lametta. Er fragte sich, woher das Bedürfnis nach der überbordenden Weihnachtsdekoration kam und wann das angefangen hatte. Es musste sich langsam eingeschlichen haben, er konnte sich nicht erinnern. Vor Kurzem war ein Weihnachtsmann in rotem Mantel und mit weißem Kunstbart winkend in einer Kutsche durch Trouville gefahren und hatte vor der Touristenzentrale Süßigkeiten an Kinder verteilt. Es schienen aber eher die Mütter zu sein, die die Nähe des dickbäuchigen Père Noël suchten, um ihn mit ihren Händen zu berühren. Ob das Glück brachte? Ähnliches sagte man Schornsteinfegern nach. Sogar sein Stammrestaurant, das Central, hatte außen an der Fassade Girlanden aus Tannenzweigen angebracht und den Speiseraum mit Lichterketten geschmückt. Völlig überflüssig, fand Jacques Leblanc.
Außer ihm schienen alle diesem Fest entgegenzufiebern. Er hörte, wie seine Kollegen über Geschenke redeten und was es an den Weihnachtstagen zu essen geben sollte. Seine engste Mitarbeiterin Nadine war ganz aus dem Häuschen. Ihr Bruder aus New York wollte mit seiner Familie zu Besuch kommen, und seit Tagen überlegte sie laut, ob Austern oder Garnelen oder gar Hummer als Vorspeise angemessen wären. Sie hatte ihrem Bruder, der in einer Containerschiffsagentur arbeitete, einen prächtigen Bildband über die ersten Schiffspassagen nach New York gekauft und hoffte auf ein ebenso prächtiges amerikanisches Überraschungsgeschenk. Jacques Leblanc schenkte nichts und bekam nichts geschenkt. Er machte sich nichts aus diesen Dingen. Die Atmosphäre der Weihnachtszeit, in der alle Welt zu vergessen schien, dass es auch anderes gab, lähmte ihn. Dazu kam der Schnee, der sich wie Mehltau auf alles legte und die Mobilität einschränkte! Und noch etwas bedrückte ihn. Seit ein paar Tagen lag ein Brief auf dem Tisch, um den er herumschlich wie eine Katze um den leeren Fressnapf, ein Brief von Tante Amélie. Er brauchte ihn nicht mehr zu lesen, er kannte ihn auswendig. Die Worte hatten sich in seinen Kopf eingebrannt.
»Lieber Jacques, ich mache mir Sorgen um deine Mutter. Seit fünf Monaten wohnt sie jetzt bei mir in Versailles, und sie kann gewisse Gewohnheiten, die in Kamerun sicherlich angemessen waren, nicht ablegen. Das wäre aber nicht das Schlimmste. Sie treibt Handel mit irgendwelchen Substanzen, die sie aus Kamerun auf Wegen bekommt, von denen ich lieber nichts wissen möchte. Ständig tauchen hier Kameruner auf, die etwas bringen oder abholen. Ich habe sie darauf angesprochen, und sie sagt, das sei alles völlig in Ordnung, ich solle mich nicht aufregen. Jacques, du musst mit ihr reden. Wenn das so weitergeht, kann sie nicht mehr bei mir wohnen. Dann musst du dich um sie kümmern.
Tu etwas!
Deine Tante Amélie.«
Im Mai war sein Vater in Kamerun gestorben, und kurz danach war seine Mutter nach Frankreich zurückgekehrt, nach über vierzig Jahren. Tante Amélie, ihre Schwester, hatte sie in ihrem Haus in Versailles aufgenommen. Platz genug gab es in dem zweistöckigen Gebäude. Tante Amélie lebte allein, ihr Mann war vor langer Zeit gestorben. Am Anfang hatte sie sich sogar gefreut, im Alter wieder mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester vereint zu sein. Leblanc hatte seine Mutter einmal in Versailles besucht und gesehen, dass es ihr gut ging und die beiden Frauen sich verstanden. Beruhigt, dass sich dieses Problem auf einfache Weise gelöst hatte, war er wieder nach Hause gefahren. Er hatte seine Eltern nicht häufig gesehen. Sein Vater hatte sich als Lehrer nach Kamerun versetzen lassen, und auch nach dessen Pensionierung waren die Eltern dort geblieben. Ihn hatten sie ins Pensionat gegeben, damit er die Schule in Frankreich absolvierte. Nur einmal, für kurze Zeit, hatten seine Eltern ihn zu sich geholt. Eigentlich war ihm seine Mutter fremd geblieben, und er hatte nicht das Bedürfnis, etwas nachzuholen. Aber jetzt gab es Probleme, und er musste sich darum kümmern. Seit Tagen versuchte er, den Brief zu ignorieren. Je länger er das tat, desto stärker schien der Brief zu leuchten, er blinkte geradezu wie diese aufdringliche Weihnachtsbeleuchtung.
Leblanc hatte sich den Nachmittag frei genommen, um nach Versailles zu fahren und mit seiner Mutter zu sprechen. Im Präsidium war es in den letzten Tagen relativ ruhig gewesen. Es schien, als ob das unwirtliche Wetter die Lust minderte, Verbrechen zu begehen. Man sollte eine Statistik erstellen, dachte Leblanc, wie Wetter und Straftaten zusammenhängen. Besonders Schnee, glaubte er, würde sich hemmend auf die kriminelle Energie auswirken. Wider Willen musste Leblanc lächeln, wie immer, wenn er auf Gedanken kam, die abwegig waren, ihm aber dennoch gefielen.
Er sollte jetzt losfahren. Es war eigentlich schon zu spät. Er hätte am Vormittag aufbrechen sollen, aber das hatte er nicht geschafft. Bei diesem Wetter! Vielleicht sollte er seinen Besuch in Versailles doch verschieben? Tante Amélie würde einsehen, dass es bei dem Schneetreiben kein Vergnügen war, mit dem Auto zu fahren. Er ertappte sich bei seinen Vermeidungsstrategien. Nein, er würde fahren. Aber erst einmal zum Mittagessen ins Central. Danach, danach würde er fahren. Ein letzter Blick aus dem Fenster, dann zog Jacques Leblanc seinen schweren, aber dennoch nicht wärmenden Wollmantel an, den er achtlos über den Stuhl geworfen hatte, und verließ seine Wohnung.
Während der Fahrstuhl leise ins Erdgeschoss glitt, zupfte Leblanc an dem schwarz-weißen Einstecktuch in der schmalen Tasche seines Mantels auf Brusthöhe. Für sein privates Auto, einen Peugeot, stand ihm ein nicht überdachter Stellplatz vor dem Gebäudekomplex am Jachthafen von Deauville zur Verfügung, in dem sich im fünften Stock seine Zweizimmerwohnung befand. Der Wagen war fast nicht zu erkennen, eine Schicht aus pappigem, feuchtem Schnee bedeckte ihn. Die musste Leblanc beseitigen, wenn er das Auto benutzen wollte. In Paris, wo er bis vor gut anderthalb Jahren gelebt hatte, hatte es selten geschneit. Und hier in Deauville, betonten alle Kollegen, würde es kaum Schnee geben. Dies sei eine Ausnahme. Ausgerechnet jetzt, wo er da war, musste sich diese Ausnahme ereignen. Der Kommissar sah sein Auto an wie ein fremdes Wesen. Er hatte kein Gerät zur Verfügung, um den Schnee zu beseitigen, keinen Besen, keinen Eiskratzer. Also nahm er seinen Arm und fuhr damit über die Windschutzscheibe. Das wiederholte er bei den anderen Fenstern. Als er erneut an der Vorderseite ankam, lagen schon wieder Schneeflocken auf der Scheibe, aber das würde der Scheibenwischer schaffen. Er merkte, dass sein Mantelärmel nass war. Die Nässe drang nach innen, befeuchtete sein Jackett und verwandelte sein Frösteln in ein Frieren. Angewidert verzog Leblanc das Gesicht. Aber gleich darauf entspannte er sich wieder, der Mantel würde im Central trocknen. Er war geradezu gezwungen, im Central zu essen. Mit einer ausladenden Geste fuhr er sich durch seine vollen grauen Haare, auf denen sich Schneeflocken niedergelassen hatten, die in kleinen Rinnsalen die Kopfhaut entlangliefen. Er stieg ins Auto und fuhr los, auf die andere Seite der Touques, die mit ihrem Wasserarm Deauville und Trouville trennte.
Im Central kehrte seine ihm eigene Zuversicht zurück. Es war warm, roch angenehm nach Gebratenem, und sein Lieblingstisch im hinteren Speiseraum war unbesetzt. Sorgfältig hängte er seinen Mantel über den Stuhl und achtete darauf, dass der nasse Ärmel frei hing und trocknen konnte. Leblanc pflegte, wann immer es möglich war, mittags im Central zu essen. Édouard, der Kellner, der ihn gut kannte, zog den Tisch ein wenig nach vorne, sodass der Kommissar bequem auf der mit rotem Kunstleder bezogenen, gepolsterten Sitzbank Platz nehmen konnte.
»Monsieur le commissaire, für Sie das Mittagsmenü?«
»Was gibt es denn? Ich habe nicht auf die Tafel gesehen.«
Im vorderen Raum hing für gewöhnlich eine Tafel, auf der mit Kreide das jeweilige Tagesessen geschrieben stand.
»Wir haben als Vorspeise Kalbskopfsülze mit Remoulade und als Hauptgericht Fasan mit glasierten Kartoffeln und Kürbismousse. Und als Dessert .«
»Lassen Sie mal, Édouard, das entscheiden wir später. Ich nehme das Menü und ein kleines Glas Rosé.«
In Anbetracht des in Aussicht stehenden Essens räkelte sich Leblanc wohlig auf der Sitzbank. Vom Nebentisch griff er sich eine Papierserviette und fuhr damit unter dem Tisch über seine schwarzen, glänzenden Schuhe, die vom Schnee feucht geworden waren. Er brachte sie regelmäßig zur Pflege zum letzten verbliebenen Schuhmacher in Trouville. Der behandelte sie mit einer Wachscreme, sodass sie immer wie neu aussahen. Der Schuhmacher war ein betagter Mann. Wenn er sein Geschäft schließen würde, müsste Leblanc nach einer Lösung für die Schuhpflege suchen.
Für einen Moment vergaß er, was ihm heute noch bevorstand, von der lästigen Autofahrt ganz zu schweigen. Diese Mittagessen im Central mochte er, es gab kaum einen Anlass, der ihn dazu bringen konnte, eins zu versäumen. Wenn er mitten in einem Fall war, hatte er beim Essen Zeit nachzudenken, Fäden zusammenzuknüpfen, Schlüsse zu ziehen oder auf neue Ideen zu kommen. Oft hatte er einen Kriminalroman dabei, in dem er las. Die...
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