Schweitzer Fachinformationen
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Dresden, April 1919
Ich brenne. Ich glühe. Bin wie im Fieber.
Darf ihn niemals wiedersehen und werde es doch schon bald.
Noch heute!
Wie ich allerdings die Stunden bis dahin überstehen soll, wissen allein die Götter. Dabei wäre es fatal, müsste ich auf der Stelle sterben, denn heute ist doch der Tag, auf den ich mich seit Weihnachten gefreut habe, mehr noch als auf meinen morgigen 19. Geburtstag. Unsere erste Soiree nach dem Krieg - mit mir als Hausherrin!
Papa tut nach außen, als sei es nichts Besonderes, dabei bekommt er schon seit Tagen die roten Flecken nicht mehr aus dem Gesicht. Ich gehe mit wichtiger Miene durch das Haus, kontrolliere Gläser und Besteck, laufe immer wieder in die Küche, um mit Mamsell Käthe die Speisenabfolge zu besprechen .
Ach, was schert mich eigentlich dieser ganze Kram?
Was kümmern mich Geheime Kommerzienräte, Bürgermeister, Fabrikanten, Leutnants der Reserve - wo ich doch nur noch an ihn denken kann, an ihn: kantiges Kinn. Schwarze Augen. Hände, so warm und zart, dass man vor Glück fast vergehen möchte. Und diese dunkle Locke, die ihm immer wieder in die Stirn fällt!
Wie soll ich mich da diesem Langweiler Richard Bornstein widmen, der mich waidwund anstiert und nach alten Socken riecht? Habe ich denn schon einmal richtig gelebt? Nicht mehr, nachdem sie vor sechs Jahren Mamas Sarg in die kalte, dunkle Erde hinuntergelassen haben .
Das Klopfen an der Tür wurde ungeduldiger.
»Ja?« Blitzschnell schob Emma Klüger ihr Tagebuch unter den Stapel frischer Leibchen, die längst in der Kommode liegen sollten - wäre sie nicht von ihren Gefühlen überwältigt worden, die zu Papier gebracht werden mussten.
Die Tür ging auf. Lou Fritzsche, ihre beste Freundin, schob sich herein.
»Ach, du«, murmelte Emma.
»Wen sonst hast du denn erwartet?«, erwiderte Lou ein wenig spitz. Ihren ungeliebten Vornamen Louise hatte sie ebenso konsequent abgelegt wie die geschliffenen Manieren, die ein teures Mädchenpensionat ihr mühsam eingetrichtert hatte. Sie sei eben ein Kind der neuen Zeit - so lautete ihr gegenwärtiger Lieblingsspruch: frivol. Frech. Skrupellos.
»Oder ist bei unserem Fräulein Wankelmut inzwischen alles schon wieder ganz anders? Dann kann ich ja auf der Stelle auf dem Absatz kehrtmachen!«
»Natürlich nicht«, rief Emma. »Bleib bloß da. Wir wollten doch meine Haare abschneiden!«
»Du wolltest das. Und vielleicht überlegst du es dir lieber noch einmal ganz in Ruhe«, sagte Lou ungewohnt vernünftig. »Mein Vater hat geschlagene zwei Wochen nicht mehr mit mir geredet, als ich mit meinem Bubikopf ankam. Verdirb also dir und vor allem uns nicht den lang ersehnten Abend! Danach können wir ja immer noch .«
»Damit du mir die Schau stiehlst?« Emma sprang auf. »Aber daraus wird nichts, Schätzchen. Diese altbackenen Flechten kommen ab - und damit Schluss! Alle Frauen, die chic und modern sind, haben jetzt kurze Haare. Meine Mutter hat sie sogar schon vor dem Krieg so getragen!«
Lou nahm den dunkelroten Hut ab und schälte sich aus dem gleichfarbigen Wollmantel. Der kinnlange Schnitt mit dem geraden Pony brachte ihr ovales Gesicht perfekt zur Geltung. Ihre Haare waren fein, glatt und dunkel wie Rauch. Jetzt wirkte der schlanke Hals, um den sie einige Ketten geschlungen hatte, noch länger und graziler.
Emma musste sich gegen den Anflug von Neid wehren, der unversehens in ihr aufzusteigen drohte. Ihr eigenes Haar war dick und störrisch. Nur ein Hauch von Nebel oder ein kurzer Regenguss - und es waren keine Wellen mehr, sondern eine richtige Krause. Und doch hatte Max es kurz berührt, als er ihr neulich nach dem Bohren den Becher zum Ausspülen gereicht hatte. Und hatte er dabei nicht auch noch erwähnt, der Messington erinnere ihn an Botticellis schönste Frauendarstellungen?
Die Erinnerung an jenen Moment machte sie noch sehnsüchtiger, was Lou offenbar sofort bemerkte.
»Doch nicht etwa schon wieder jener - Dentist?«, fragte sie. Ihre Stimme war ungewöhnlich tief für ein junges Mädchen und klang leicht rauchig, was ihr heimlicher Zigarettenkonsum noch weiter förderte. »Unser guter alter Doktor Brückner ist seinen Ziegenpeter längst wieder los. Warum also gehst du nicht zu ihm?«
»Was hast du gegen Max Deuter?« Emma gab dem Spiegel auf der Kommode einen Schubs, damit sie nicht Gefahr lief, sich dauernd anzustarren und dabei neue Mängel zu entdecken. »Außerdem ist er kein Dentist, sondern ein echter Arzt. Und ein sehr guter noch dazu!«
»Meinetwegen«, fauchte Lou. »Aber garantiert nicht der richtige Umgang für ein junges Mädchen, das kurz vor seiner Verlobung steht!«
»Das wüsste ich aber«, schnappte Emma zurück. »Ich mache nicht alles, was mein Vater will, kapiert? Bevor ich die Frau dieses Fieslings werde, stürze ich mich lieber in die Elbe.«
»Was bei einer Rettungsschwimmerin wie dir allerdings nicht sonderlich viel nützen würde«, kommentierte Lou trocken. »Es sei denn, du entschließt dich noch heute dazu, wo der Fluss höchstens sieben Grad hat. Und das wäre jammerschade - wir beide sind neunzehn und haben noch nie eine anständige Soiree erlebt!«
Emma nickte kurz.
Lou hatte recht, mit jedem Wort. Seit dem Tod der Mutter hatte es keine größeren Festivitäten mehr in der Rosenvilla gegeben, abgesehen von ein paar eher lauen Geburtstagsfeiern und den unvermeidlichen Weihnachtstraditionen. Zuerst hatte sich das Trauerjahr wie ein dichtes, dunkles Tuch über sie und ihren Vater gelegt und alle Freude, jeden Übermut erstickt. Unmittelbar danach hatte der große Krieg begonnen. In Dresden hatte die Mobilmachung 1914 keineswegs kollektive Begeisterung ausgelöst, und als schon bald jede Aussicht auf ein rasches Ende erlosch und sich stattdessen an den festgefahrenen Fronten endloses Sterben einstellte, hatte das auch das Leben der Zivilisten einschneidend verändert: Nahezu jede Familie bangte, trauerte und hungerte.
Nicht einmal der Friedensschluss im düsteren Herbst 1918 hatte der Stadt echtes Aufatmen gebracht, ebenso wenig wie der »vereinigte Arbeiter- und Soldatenrat Dresden«, der die Republik Sachsen ausgerufen und den sächsischen König Friedrich August III. zur Abdankung gezwungen hatte. Immer wieder war es danach in Dresden zu blutigen Ausschreitungen und Barrikadenkämpfen mit zahlreichen Todesopfern gekommen, zuletzt im Januar, wo bei einer Schießerei vor dem Zirkus Sarrasani zwölf Menschen getötet und viele verletzt wurden.
Doch seit Februar gab es endlich einen Lichtblick: Erstmals hatten die Dresdener auf demokratische Weise ein neues Stadtverordnetenkollegium gewählt. Hoffnung lag in der Luft. Die lahmgelegte Wirtschaft zog langsam wieder an, und in den Schaufenstern gab es Dinge zu bestaunen, die man jahrelang nicht mehr gesehen hatte. Lokale und Gaststätten füllten sich endlich wieder.
Das Leben konnte neu beginnen. Und für Emma begann es auf ganz besondere Weise zum ersten Mal, da sie nun eine junge Dame war. Mit Richard Bornstein und seinem Vater würde sie schon fertig werden. Seit Tagen schon kribbelte es ihr in den Füßen. Gestern waren endlich die grünen Satinschuhe aus Berlin angekommen. Tanzen wollten sie . Fliegen . Träumen. Sie hatte ihrem Vater wochenlang in den Ohren gelegen, eine ordentliche Plattensammlung für das neue Grammofon anzuschaffen - trotz der schlechten Zeiten, über die er ständig jammerte.
»Also«, sagte sie. »Dann los!« Sie ließ sich auf den Stuhl vor der Kommode fallen.
Lou drehte den Spiegel wieder auf die richtige Seite und zog eine große Schere aus der Tasche. Emma löste die Hornnadeln, die ihre Locken zu einer Hochsteckfrisur gebändigt hatten. Schwer fielen sie herab, reichten bis zur Mitte des Rückens und vorne weit über die Brüste. Lou griff zur Bürste und striegelte nachdenklich Emmas dichte Mähne.
»Andere Frauen würden dich schon um die Hälfte beneiden«, sagte sie. »Du solltest deine Haare zu Geld machen. Oder wenigstens für die Nachkommenschaft aufheben.«
»Welche Nachkommenschaft?« Emmas Grinsen fiel etwas kläglich aus, jetzt, wo es wirklich ernst wurde.
»Na, diesen Stall entzückender kleiner Bornsteins, die du Richard sicherlich bald schenken wirst .«
Emma sprang auf und wollte Lou die Schere aus der Hand nehmen. Dabei riss sie versehentlich die Leibchen zu Boden. Jetzt lag ihr aufgeschlagenes Tagebuch schutzlos vor Lous neugierigen Augen.
Blitzschnell hatte diese die Schere losgelassen und danach gegriffen.
»Ich brenne«, las sie und hielt es hoch über ihren Kopf. »Ich glühe. Bin wie im Fieber.« - Mensch, Emmalein, ich staune. Du bist ja eine verkappte Dichterin!«
»Gib sofort her!«, forderte Emma.
»Aber nicht doch! Lass mich wenigstens noch ein klitzekleines Stückchen weiterlesen.« Lou drehte sich weg. »Darf ihn niemals wiedersehen und werde es doch bald wieder. Noch heute .« Sie runzelte die Stirn. »Ich glaub es nicht. Doch nicht dieser Lebemann Deuter. Du hast doch nicht alle Tassen im Schrank!«
»Das ist mein Tagebuch«, sagte Emma. »Her damit - auf der Stelle.«
»Das sollte dein Vater mal lesen«, kreischte sie. »Weißt du, was dann los wäre? Sein heiß geliebter Augenstern - und ein Jude!«
»Jetzt reicht es!« Emma packte die Schere und stürzte sich damit auf die Freundin, kam aber auf einem der Hemdchen ins Rutschen,...
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