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Er hörte sieben Schüsse. Danach hörte er die Stimme seines Vaters. Sie schien von weither zu kommen. Die Schüsse erschreckten ihn nicht, er hatte schon zu viele gehört, seit er hier war, und außerdem wurde in seinem Traum auch gerade geschossen, aber die Stimme des Vaters weckte ihn.
»Was ist?« fragte er und rieb sich die Augen. Sein Herz klopfte stürmisch, und seine Lippen waren trocken.
»Du mußt aufstehen, Karel«, sagte der Vater. Er stand über das Bett gebeugt, in dem der Junge geschlafen hatte, und lächelte zuversichtlich. Der Vater war ein schlanker, großer Mann mit einer breiten, hohen Stirn und schönen Händen. An diesem Abend hatte sein müdes Gesicht die Farbe von stumpfem Blei angenommen. »Ich habe mit Leuten aus dem Dorf gesprochen«, sagte er. »Um Mitternacht wechseln die Posten. Dann ist der Wassergraben fünf Minuten lang unbewacht. Dann können wir hinüber.«
»Und wenn die Posten nicht wechseln?« fragte Karel.
»Sie wechseln jede Nacht«, sagte der Vater. »Jede Nacht gehen Menschen hinüber. Hast du ausgeschlafen?«
»Ja.« Karel streckte die Arme über den Kopf und dehnte sich. Vor fast fünfzig Stunden hatte er mit dem Vater Prag verlassen. Seit fast fünfzig Stunden befanden sie sich auf der Flucht. Es war schwer gewesen, aus der Stadt herauszukommen. In überfüllten Straßenbahnen, auf einem Lastwagen und zu Fuß hatten sie komplizierte Umwege gemacht, um den fremden Soldaten und ihren Panzersperren und Kontrollen zu entgehen. Zuletzt waren sie mit der Eisenbahn gefahren, lange, in einem leeren Viehwaggon.
Der Vater wußte, daß sie ihn suchten. Er hatte es schon gewußt, bevor er gewarnt worden war. Alles, was geschehen würde, was kommen mußte, hatte er bereits in den ersten Morgenstunden des 21. August klar erkannt, sobald ihn die Nachricht erreichte. Sie suchten ihn, um ihn zu verhaften, und das erschien dem Vater nur logisch und unumgänglich. Er war denen, die ihn jagten, nicht böse, sie mußten nun so handeln, wie er zuvor hatte handeln müssen. Sein Tun hatte das ihre provoziert, wie er und die Freunde provoziert worden waren zum Handeln durch das Verhalten anderer.
Daß sie den Vater suchten, machte ihn sehr vorsichtig. Genau hatte er jeden Schritt überlegt. Alles war gutgegangen bisher, die bayerische Grenze beinahe erreicht. Zwei Kilometer noch - dann hatten sie es geschafft Aber diese letzten beiden Kilometer waren die gefährlichsten, und darum hatte der Vater darauf bestanden, daß Karel sich gründlich ausschlief hier in dem kleinen Haus der Großmutter, die des Vaters Mutter war. Nur Freunde wußten, wo diese Mutter lebte, und sie würden es nicht verraten.
Die alte Frau wohnte allein, nahe dem Ausgang des Dorfes. Sie besaß ein Papier- und Schreibwarengeschäft. Wenn es Zeitungen gab, verkaufte sie auch Zeitungen. Seit zwei Tagen gab es keine. Die kleine Großmutter ging gebückt, denn sie litt an Ischias. Der Vater und Karel waren zu ihr gekommen, weil sie an einem Abschnitt der Grenze lebte, der, so hieß es, noch nicht ganz abgeriegelt war, über den man also leichter fliehen konnte. Und deshalb vermochten Sohn und Enkel von der Großmutter auch noch Abschied zu nehmen, bevor sie hinübergingen in das andere Land.
»Wie spät ist es?« fragte Karel.
»Zehn«, sagte der Vater und legte dem Kind eine Hand auf die Stirn. »Du bist ja ganz heiß! Hast du Fieber?«
»Bestimmt nicht«, sagte Karel. Er sprach sehr reines Tschechisch. Deutsch verstand er, im Gegensatz zu seinem Vater, wenig. Das war eine schwere Sprache, da fiel ihm Englisch noch leichter. Er lernte Englisch und Deutsch in der Schule. »Das Heiße kommt bloß von den Löwen«, sagte er.
»Was für Löwen?«
»Auf dem Wenzelsplatz. In meinem Traum. Da waren viele Löwen. Und noch viel mehr Hasen. Die Löwen haben Gewehre gehabt, und sie waren einfach überall, und die Hasen haben ihnen nicht entkommen können. Alle Löwen hatten Gewehre. Mit ihnen haben sie auf die Hasen geschossen. Und jedesmal, wenn einer geschossen hat, ist einer umgefallen.«
»Arme Hasen.«
»Aber nein! Den Hasen ist gar nichts passiert! Jedesmal, wenn ein Löwe geschossen hat, ist der Löwe umgefallen! Sofort. Und hat sich nicht mehr gerührt. Das ist doch sehr sonderbar, nicht?«
»Ja«, sagte der Vater. »Das ist sehr sonderbar.«
»Sieben Löwen haben nacheinander geschossen, und alle sieben sind umgefallen«, sagte Karel. »In dem Moment hast du mich geweckt.« Er streifte die karierte Decke zurück und sprang nackt aus dem hohen, knarrenden Bett der Großmutter, in dem er geschlafen hatte. Karel war elf Jahre alt. Er hatte einen kräftigen, braungebrannten Körper mit langen Beinen. Die Augen waren groß und so schwarz wie das kurzgeschnittene Haar. Es glänzte im Licht der elektrischen Lampe. Karel war ein nachdenklicher Junge, der sehr viel las. Seine Lehrer lobten ihn. Er hatte mit dem Vater in der großen Wohnung eines alten Hauses an der Jerusalemski-Straße gelebt. Wenn man sich aus einem Fenster lehnte, konnte man die schönen Bäume, die blühenden Sträucher und Blumen des großen Parks Vrchlického sady und den See in seiner Mitte erblicken.
Als ganz kleiner Junge war Karel dort jeden Tag mit seiner Mutter spazieren gegangen. Daran erinnerte er sich noch deutlich. Seine Mutter hatte sich scheiden lassen und war nach Westdeutschland gezogen zu einem anderen Mann, als Karel gerade vor seinem fünften Geburtstag stand. Niemals war ein Brief von ihr gekommen Durch all die Jahre hatte Karel fast täglich aus dem Fenster seines Zimmers hinüber zum Vrchlického sady gesehen, ihn bei Schnee und Eis und Kälte und dann wieder bei Sonnenglut und im Hochsommer und seiner ganzen Blütenpracht forschend und versunken betrachtet - ihn und die vielen jungen Frauen, die, Kinder an der Hand, über die Parkwege gingen oder mit ihren kleinen Söhnen und Töchtern spielten. Karel sah aus dem Fenster, gedachte der eigenen Spaziergänge und hoffte stets, sich an seine Mutter zu erinnern. Aber das war ein vergebliches Unterfangen. Schon lange, lange konnte er nicht einmal mehr sagen, wie seine Mutter auch nur ausgesehen hatte.
Als der Vater Karel in den Morgenstunden des 21. August aus dem Bett holte, zwei Koffer packte und danach eilig mit dem Jungen das Haus verließ, um zunächst bei Freunden unterzutauchen, erblickte Karel zwischen Rosen, Nelken, Goldregenbüschen und Dahlienbeeten Panzerspähwagen mit Maschinengewehren, spielzeughaft und verloren in der Dämmerung und dem Dunst dieses frühen Beginns eines heißen Sommertages. Auf den Panzerspähwagen saßen Männer in fremden Uniformen, ratlos und traurig. Karel winkte ihnen zu, und viele Soldaten winkten zurück .
»Ich habe dir schon deine Sachen herausgesucht«, sagte der Vater und wies auf einen Sessel, der neben dem Bett stand. Hier lag Karels blauer Anzug, der feine, den er sonst immer nur am Sonntag hatte tragen dürfen. »Wir müssen die besten Sachen anziehen, die wir haben«, sagte der Vater. Auch er trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Krawatte mit vielen sehr kleinen gestickten silbernen Elefanten. In der Sommernacht draußen fielen zwei Schüsse, schnell nacheinander. »Vielleicht verlieren wir unsere Koffer, oder wir müssen sie liegenlassen«, sagte der Vater.
»Ja, darum die feinen Sachen«, sagte Karel. »Ich verstehe«. Er setzte sich auf den Boden, um in die Strümpfe zu schlüpfen. Es war ein glühend heißer Tag gewesen, aber im Zimmer der Großmutter blieb es kühl. Hier blieb es immer kühl, die Luft war ewig feucht, und alle Dinge griffen sich feucht an. Im ganzen Haus roch es ein wenig nach Moder und alten Tüchern. Ob Karel die Großmutter in den Ferien oder zu Weihnachten besuchte - es roch nach Moder in dem gelben Haus mit dem Schindeldach und dem winzigen Papierladen, über dessen Eingang ein Heiliger in einer kleinen Nische stand. Das Schaufenster schmückten seit vielen Jahren zwei große Glaskugeln, gefüllt mit sehr bunten Seidenbonbons, denn die Großmutter verkaufte auch billige Süßigkeiten. Nur die Kugeln standen in der Auslage, sonst nichts.
Während Karel sein Hemd über den Kopf zog, trat der Vater an das schmale Fenster, schob den Kattunvorhang ein wenig zur Seite und sah auf die Dorfstraße hinaus, die verlassen im Mondlicht lag.
»Verfluchter Mond«, sagte der Vater und blickte zu der honigfarbenen Scheibe empor, die in einem samtdunklen Himmel voller Sterne schwamm. »Ich habe so sehr gehofft, es kommen noch Wolken.«
»Ja, Wolken wären gut gewesen«, sagte Karel. »Bindest du mir bitte meine Krawatte?« Er sprach stets äußerst höflich. Als der Vater den Knoten der roten Krawatte schlang, bog Karel den Kopf zurück. »Aber deine Trompete nehmen wir doch auch mit?« fragte er aufgeregt. »Die brauchst du doch in dem anderen Land!«
»Natürlich«, sagte der Vater, der sich tief zu ihm hinabbeugte und ungeschickt an der Krawatte zupfte. »Wir nehmen die beiden Koffer und meine Trompete.«
Der Vater war Musiker. Auf dieser Trompete, die er nun aus seinem Vaterland, der Tschechoslowakischen Volksrepublik, hinübertragen wollte in die Bundesrepublik Deutschland, spielte er seit drei Jahren. Es war eine ganz wundervolle Trompete, auch Karel hatte schon oft auf ihr gespielt. Er war sehr musikalisch. Der Vater hatte in den letzten drei Jahren, bis zur Nacht des 20. August, in der >EST-Bar< gearbeitet. Das war eines der vornehmsten Nachtlokale Prags und untergebracht im Luxushotel >Esplanade<. Das >Esplanade< lag in der Washingtonová-Straße, direkt am Park Vrchlického sady, sehr nahe der Wohnung in der Jerusalémská-Straße.
»Ich trage die Koffer, und du trägst das Futteral mit der...
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